Zusammenfassung
Hintergrund: Im Rahmen der ICD-11 Revision wurde die Einführung einer Diagnose der Kontinuierlichen Traumatischen Belastungsstörung (KonTBS) im Kapitel der spezifisch belastungsbezogenen Störungen diskutiert, jedoch aufgrund unzureichender empirischer Evidenz zurückgestellt. Derzeitige Kriege machen uns hingegen verstärkt darauf aufmerksam, dass sich die psychische Reaktion auf anhaltende lebensbedrohliche Gefahrenlagen von der klassischen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) unterscheidet. In diesem Artikel wird die deutsche Übersetzung der Kontinuierlichen Traumatischen Belastungsreaktions-Skala (KonTBR-Skala) vorgestellt (ohne eigene Datensammlung), um sie besser disseminierbar zu machen. Methode: Die 11-Item-Originalskala wurde in einer israelischen Grenzgebiets-Population entwickelt und umfasst drei sich von der PTBS unterscheidende Symptomgruppen: Erschöpfung/Gleichgültigkeit, Wut/Betrogensein und Furcht/Hoffnungslosigkeit. Diese Skala wurde mittels Übersetzungs-/Rückübersetzung-Prozedur ins Deutsche übertragen. Ergebnis: Ihr theoretisches Konzept ist sinnvoll und die psychometrische Original-Validierung vielversprechend. Diskussion: Der Einsatz in geeigneten Populationen wird sehr empfohlen und kann schlussendlich zu einer neuen und adäquateren Diagnose für die Leiden von Betroffenen anhaltender Traumatisierung beitragen..
Introduction:: During the ICD-11 revisions, the diagnosis of continuous traumatic stress disorder was discussed for the chapter on disorders specifically associated with stress but was rejected due to insufficient empirical evidence. Current wars, however, demonstrate that the psychological reaction to ongoing life-threatening situations differs from classic post-traumatic stress disorder (PTSD). Methods:: We present the German translation of the Continuous Traumatic Stress Response scale (without own data collection) to foster its dissemination. The original 11-item scale was developed in an Israeli borderland population and includes three symptom groups distinct from PTSD: exhaustion/detachment, rage/betrayal, and fear/helplessness. The scale was translated into German using a translation/back-translation procedure. Results:: Its theoretical concept is meaningful, and the original psychometric validation is promising. Discussion:: The use of the scale in suitable populations is highly recommended and may ultimately contribute to a new and more appropriate diagnosis for those affected by continuous trauma.
Anwendungsbereich des Fragebogens
Erfassung des psychischen Zustands während eines länger anhaltenden, noch nicht beendeten traumatischen Geschehens, insbesondere in Kriegs- und Krisengebieten. Die Skala eignet sich für den klinischen und den nicht-klinischen Bereich.
Vorgeschichte und Kurzbeschreibung
Anhaltende Kriege, Terror und gewalttätige Gefahrenlagen bringen wiederholte „belastende Ereignisse von aussergewöhnlicher Bedrohung … mit katastrophalem Ausmass [hervor]“ (Trauma-Definition der International Classification of Diseases (ICD) [WHO, 2019], deren Merkmale anders sind als jene von abgeschlossenen traumatischen Ereignissen. Bei einer kontinuierlichen Traumaexposition stehen nicht nur die vergangenen, sondern auch reale gegenwärtige und zukünftige Bedrohungen im Fokus. Die bestehenden Konzeptualisierungen von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und komplexer PTBS bilden die Stressreaktion in einer Realität ständiger Gefahr jedoch nur unzureichend ab [Stevens et al., 2013]. Während bei der PTBS beispielsweise ein anhaltendes Gefühl der Bedrohung im Sinne eines „falschen Alarms“ besteht, ist es bei kontinuierlicher Traumaexposition realistisch, dass weitere Bedrohungen stattfinden werden. Daher können einige für die PTBS zentralen Symptome (z. B. erhöhte Bedrohungswahrnehmung, Vermeidung) bei kontinuierlicher Bedrohung Teil von routinemässigem Sicherheitsverhalten sein.
Die kontinuierliche traumatische Belastungsstörung (KonTBS) beschreibt die psychischen Reaktionen auf anhaltende Belastung durch traumatischen Stress. Erstmals wurde der Begriff der KonTBS 1987 durch südafrikanische Scientist-Practitioners in die Literatur gebracht, die damals die Folgen anhaltender schwerer Repression im südafrikanischen Apartheitsstaat beschrieben [Straker und The Sanctuaries Counselling Team, 1987]. Im Jahr 2013 hat ein Überblicksartikel südafrikanischer Autor:innen dieses Konzept zunächst auf anhaltend hohe Gefahrenlagen des Lebens in überbevölkerten Townships oder Slums bezogen, in denen es immer wieder zu tödlicher Gewalt kommt [Stevens et al., 2013]. Schliesslich sind Potluri und Patel [2021] zum Schluss gekommen, dass sich das KonTBS-Konzept ebenfalls eignet, um die psychischen Folgen von anhaltender körperlicher und sexueller Gewalt bei Frauen in indischen Slums zu charakterisieren. Eine mögliche offizielle Diagnose im Rahmen der ICD-Revision der WHO wurde um 2015 diskutiert und damals in der zuständigen ICD-Arbeitsgruppe als ein Bedarf anerkannt; die Aufnahme ins ICD-11 wurde jedoch mangels substanzieller empirischer Forschung zurückgestellt [Maercker und Augsburger, 2019].
Inhaltlich ging es in bisherigen Konzepten einer KonTBS zentral um internalisierende psychische Reaktionen wie Angst, Furcht, Rückzug und Somatisierung (einschliesslich Schlafstörungen) sowie externalisierende psychische Reaktionen wie aggressive und impulsive Verhaltensweisen sowie Alkohol- oder Substanzgebrauch [Pat-Horenczyk und Schiff, 2019]. Weitere beschriebene Symptome oder Charakteristika waren bei Erwachsenen eine erhöhte Rate somatischer Erkrankungen (z. B. Infekte, akute und chronische Schmerzen), Neigung zu Verletzungen, Gefühl des Gefangenseins, Gefühl des Verrats, niedrige Frustationsschwelle, psychische Erschöpfung und Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation [Goral et al., 2017]. Weitere Untersuchungen bezogen sich auf das Konzept der Allostatic Load oder Dauer-Überbeanspruchung, was den Fokus auf Erschöpfungs- und depressive Symptomatik legte [Goral et al., 2021].
Der Frage, ob kontinuierliche Trauma-Exposition mit einer umfassenderen Symptomatik als Kern-PTBS-Symptomen einhergeht, wurde in einigen Studien nachgegangen. Ein systematisches Review untersuchte 28 Studien, welche die Konsequenzen von anhaltender Gefährdung durch Raketenbeschuss in Südisrael explorierten [Greene et al., 2018]. Es wurde festgestellt, dass die Stressreaktion bei kontinuierlicher Exposition zwar PTBS-Symptome einschloss, es jedoch durch depressive, angst- und somatische Symptome zu einer weit breiteren Symptomatik gekommen war. Ähnliche Resultate, d.h. stärkere Angst- und Depressionssymtpome bei kontinuierlicher Trauma-Exposition, wurden kürzlich in einer israelischen Studie (N = 976) aus der akuten COVID-19-Bedrohungszeit [Lahav, 2020] und einer Studie mit von Gender-bezogener Gewalt betroffen Frauen (N = 100) in indischen Slums [Potluri und Patel, 2021] gefunden. Schliesslich wurde in einer ukrainischen Bevölkerungsstichprobe (N = 2’000) einige Wochen nach Kriegsbeginn die komplexe PTBS mittels einer Netzwerkanalyse untersucht und vor dem Hintergrund der kontinuierlichen traumatischen Belastung interpretiert [Levin et al., 2023]. Hierbei waren die Symptome des anhaltenden Bedrohungsgefühls (Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit) zentral sowie die Symptome der emotionalen Dysregulation (insbesondere emotionale Abstumpfung).
Entwicklung der KonTBR-Skala
Die erste Skala zur Messung einer kontinuierlichen traumatischen Belastungsreaktion (KonTBR-Skala) wurde von Goral et al. [2021] in hebräischer und englischer Sprache entwickelt. Damit diese Skala so breit wie möglich eingesetzt werden kann, wurde nach freundlicher Zustimmung der Originalautoren eine deutsche Übersetzung erstellt (Übersetzungs-/Rückübersetzung-Prozedur durch universitäre Mitarbeiter:innen; die Rückübersetzung wurde mit der Erst- und Seniorautorin diskutiert und sprachlich modifiziert). Besonders geeignet ist die Skala für Populationen, die unter anhaltenden Bedrohungslagen in Kriegs- oder Notgebieten leiden (z. B. deutschsprachiges Personal von Hilfsorganisationen in Krisenregionen).
Grundlage für die von Goral et al. [2021] in einer israelisch-US-amerikanischen Arbeitsgruppe veröffentlichte Skala bildete eine mittels Experteninterviews, Fokusgruppen und quantitativer Expertenbefragung gelegte Itemsammlung [Goral et al., 2017]. Die explorierten Merkmale schlossen sowohl klassische PTBS-Symptome als auch „ergänzende“, neu identifizierte Merkmale (z. B. mentale Erschöpfung, sich von niemandem verstanden fühlen, sich betrogen fühlen, unmotiviert sein) ein. Die resultierenden 25 Pilot-Items wurden in einem Datensatz mit 313 Trauma-exponierten (in einem von kontinuierlichen Raketenangriffen bedrohten israelischen Grenzgebiet; n = 138) versus nicht-exponierten Erwachsenen (aus nicht kontinuierlich raketenbedrohten Landesteilen, n = 175) validiert. Die Studienteilnehmenden waren durchschnittlich 41,1 Jahre alt (SD = 13,05) und 61,1% waren weiblich. 35,0% gaben an, zuvor ein Trauma erlebt zu haben, und 29,7% erfüllten im Fragebogenscreening die DSM-5-Kriterien für PTBS. Die Teilnehmenden wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt: eine für die explorative Faktoranalyse (n = 113) und eine für die konfirmatorische Faktoranalyse (n = 200). Es resultierte eine Skala mit 11 Items zu drei distinkten Faktoren: Erschöpfung/Entfremdung (EE), Wut/Betrogensein (WB) und Furcht/Hilflosigkeit (FH) [Goral et al., 2021].
Durchführung
Die Exploranden werden gebeten, das eigene Verhalten und die Einstellungen während des vergangenen Monats abzubilden, wobei die Items der Subskalen abwechselnd präsentiert werden. Die Antworten werden auf einer vierstufigen Skala von „0 = überhaupt nicht“, „1 = ein wenig“, „2 = sehr viel“ und „3 = schwer“ eingestuft. Das Ausfüllen dauert ca. 5 Minuten.
Auswertung
Die drei Subskalen setzen sich aus einer unterschiedlichen Anzahl von Items zusammen: EE: 5 Items; WB: 3 Items und FH: 3 Items (siehe Tab 1). Ein Umkodieren der Items ist nicht erforderlich. Für jede Subskala werden die Itemwerte addiert. Der Gesamtwert der Skala berechnet sich durch Addieren aller Itemwerte.
Kennwerte der Originalversion zusammengefasst
Wie einleitend beschrieben, folgen in diesem Abschnitt keine Kennzahlen für eine deutschsprachige Stichprobe, sondern es werden die Werte der israelischen Stichprobe aus der englischsprachigen Publikation zusammengefasst. Die Konstruktvalidität wurde durch eine konfirmatorische Faktorenanalyse mit exzellentem Fit (χ2 = 49,82; df = 35; p = 0,05) aufgezeigt (siehe Tab 1). Ebenfalls exzellent waren der Comparative Fit Index (CFI = 0,99) und Root Mean Square Error of Approximation (RMSEA = 0,046). Die interne Konsistenz war zufriedenstellend bis gut (Gesamtskala α = 0,90; EE α = 0,86; WB α = 0,82; FH α = 0,74).
Die konkurrente Validität zur PTBS wurde mittels der gebräuchlichen Post-traumatic Diagnostic Scale (PDS-5) nach Foa [dt. Übersetzung: Wittmann et al., 2021] in der Gesamtstichprobe bestimmt. Die PDS-5 korrelierte mit der KonTBS-Skala mit r = 0,72 und mit den Subskalen: EE r = 0,62; WB r = 0,62 und FH r = 0,60, was aufzeigt, dass die beiden Skalen verwandte, aber unterschiedliche Konstrukte messen.
Mit einfachen Selbsteinschätzungen der funktionalen Beeinträchtigung (gering/hoch) ergab sich eine Spearman-Korrelation von r = 0,69 für den KonTBS-Gesamtwert. Ausserdem wurde ein Zusammenhang von r = 0,27 zwischen dem KonTBS-Gesamtwert und der geografischen Nähe zum Zentrum der Gefahrenzone festgestellt (alle hier berichten Korrelationen p < 0,001). Signifikante soziodemografische und psychotraumatologische Prädiktoren waren: weibliches Geschlecht (AOR 1,81; 95%-KI 1,05–3,14; p = 0,03) und wahrgenommene Wahrscheinlichkeit zukünftigen Terrors (OR 1,11; 95%-KI 1,03–1,20; p = 0,007).
Interpretation der Ergebnisse
Die Ergebnisse der vorliegenden Validierungstudie sind aus psychometrischer und theoretischer Perspektive vielversprechend. Die vorgeschlagenen KonTBS-Symptome haben inhaltlich einige Überschneidungen mit PTBS-Symptomen (z. B. Gefühle von Angst oder Schrecken) sowie Symptomen der komplexen PTBS (z. B. Emotionsregulations- und interpersonelle Schwierigkeiten). Andere Symptome, wie etwa das Gefühl des Betrogenseins, mentale Erschöpfung oder die Unfähigkeit, andere zu schützen, scheinen spezifisch für den Kontext der anhaltenden Gefährdung durch Sicherheitsbedrohungen zu sein. Ähnliche Symptome können zwar auch bei Personen mit PTBS aufgrund vergangener Traumata vorkommen, scheinen aber dort weniger zentral für die Diagnose. Gängige Messinstrumente zur Erfassung der (komplexen) PTBS reichen daher nicht aus, um Symptome von Traumaexposition über einen längeren Zeitraum adäquat zu erfassen und zu gewichten.
Das KonTBS-Konzept fokussiert aktuell stark auf die psychischen Folgen in Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten. In zukünftigen Studien sollte der Frage nachgegangen werden, ob sich die KonTBR-Skala bei weiteren Expositionstypen, wie etwa anhaltendem sexuellem/körperlichem Missbrauch, eignet oder bei Geflüchteten, deren Angehörige in einem Kriegsgebiet zurückgeblieben sind. Darüber hinaus sollten die therapeutischen Implikationen der KonTBS untersucht werden. Obwohl Menschen in Kontexten andauernder Bedrohung oft diversen traumatischen Ereignissen ausgesetzt waren, steht subjektiv in der Regel die aktuelle und zukünftige Sicherheit im Zentrum [Eagle und Kaminer, 2013]. Es sollte entsprechend geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen traumafokussierte Therapiemethoden, wie sie in therapeutischen Leitlinien zur Behandlung von Traumafolgestörungen empfohlen werden, sinnvoll sind und welcher zusätzlichen Interventionen es bedarf, um das gesamte Symptomspektrum der KonTBS zu adressieren.
Anwendungsperspektiven
Die KonTBR-Skala hat das Potenzial, ein zentrales Instrument zu werden, um besser zu verstehen, wie sich kontinuierliche Trauma-Exposition auf die psychische Gesundheit auswirkt. Es ist geplant, ein kostenfreies Depositorium von übersetzen Skalenversionen in diversen Sprachen anzulegen (z. B. auf www.traumameasuresglobal.com). Zurzeit wird sie von der Universität Zürich zur Verfügung gestellt: https://www.psychologie.uzh.ch/de/bereiche/hea/psypath/ForschungTools/Erhebungsverfahren-f%C3%BCr-Forschungs--und-Therapiezwecke.html.
Schlussendlich soll entsprechende Forschung zu einer adäquateren Diagnostik und Behandlung der Leiden von Betroffenen anhaltender Traumatisierung beitragen.
Statement of Ethics
Nicht anwendbar, da keine eigene Datenerhebung erfolgte.
Conflict of Interest Statement
Es bestehen keine Interessenkonflikte.
Funding Sources
Die Studie wurde nicht gefördert.
Author Contributions
Gleiche Beträge beider Autoren konzeptionell und für alle Teile.
Data Availability Statement
Nicht anwendbar.