Zusammenfassung
Hintergrund: Kulturelle Einflüsse auf die Entwicklung einer Zwangsstörung werden in der Forschung zunehmend adressiert. Jedoch ist wenig Wissen vorhanden, ob sich Zwangsinhalte über die Jahrhunderte verändert und welchen Einfluss jeweilige kulturelle Prägungen auf die Entwicklung individueller Zwangsinhalte haben. Zusammenfassung: Im Rahmen dieser Studie wurden einerseits historische Quellen über Personen mit möglicher Zwangsstörung seit dem Mittelalter anekdotisch zusammengetragen. Andererseits wurden in einem Scoping Review in den Datenbanken PubMed, Web of Science und Psyndex 57 moderne Studien zum Zusammenhang zwischen kulturellen Faktoren und Zwangsinhalten verglichen. Kernaussagen: Es zeigen sich Anhaltspunkte für einen Einfluss kultureller Normen auf das Auftreten spezifischer Zwangsinhalte. Während für das Mittelalter nur Hinweise auf religiöse Zwangsinhalte zu finden sind, beschreiben Berichte ab dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Zwangsinhalte. Aktuelle Studien unterstützen die Annahme von Zusammenhängen zwischen kulturellen Normen und Werten sowie Zwangsinhalten, zeigen aber auch Forschungslücken: Der Großteil der Studien untersucht den Zusammenhang der Zwangsstörung mit Religiosität. Außerdem beschränken sich die Stichproben vornehmlich auf westlich geprägte Länder und den Nahen Osten. Weitere kulturelle Aspekte oder andere Kulturkreise sind unterrepräsentiert. Trotz der genannten Kritik ergänzen die Befunde das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell zur Entstehung von Zwangsinhalten um (historische) kulturelle Umgebungsfaktoren. Die Ergebnisse werden hinsichtlich methodischer Limitationen und Implikationen für die Praxis diskutiert.
Abstract
Background:: Research on OCD is increasingly addressing cultural influences. However, it is unclear how obsessive contents have changed over the centuries and how the respective cultural context impacts their individual development. Summary:: First, this study gathered historical evidence of potential OCD cases since the Middle Ages anecdotally. As part of a scoping review, the databases PubMed, Web of Science, and Psyndex were searched for recent studies investigating the correlation between cultural factors and obsessive content. 57 articles were included. Key Messages:: There are indications that cultural norms influence the occurrence of specific obsessive contents. In the Middle Ages, only religious obsessive content is referenced, however, reports from the 19th century onwards describe a wider range. Current studies support the assumption that cultural norms impact obsessive content, but also show specific research gaps. For instance, most studies solely investigate the correlation between OCD and religiosity and samples are predominantly limited to Westernised countries and the Middle East. Thus, other cultural aspects or regions are underrepresented. Although limitations exist, the findings complement the biopsychosocial model for the origin of obsessive content by including (historical) cultural factors. The results are discussed in terms of methodological limitations, and their implications for practice are outlined.
Einleitung
„Wenn ich über Gott lästere, wird mir etwas Schreckliches zustoßen“ [Ignatius, 1978; zitiert nach Greenberg und Huppert, 2010]. Wenn ein solcher Gedanke Leiden und dauerhafte Ängste verursacht und Menschen deshalb versuchen, ihn zu unterdrücken oder durch wiederholte Handlungen zu neutralisieren, kann dies nach dem heutigen Stand der Wissenschaft auf eine Zwangsstörung hindeuten. Häufig werden solche Gedanken von den betroffenen Personen als unsinnig, übertrieben und ich-dyston bewertet und sie rufen starke Emotionen wie Angst oder großes Unbehagen hervor [American Psychiatric Association, 2013]. Die Zwangsstörung gehört mit einer Lebenszeitprävalenz von 2,3% zu den häufigen psychischen Erkrankungen [Voderholzer, 2017] und zumeist ist sowohl das private als auch das berufliche Leben der Betroffenen stark eingeschränkt [Hauschild und Moritz, 2011; Mavrogiorgou et al., 2015].
Heutzutage existiert die Zwangsstörung als anerkannte Diagnose in den gängigen Klassifikationssystemen. Auch deswegen haben sich mehrere anerkannte Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung sowie zur Erklärung des psychopathologischen Mechanismus etabliert. Den Erklärungsmodellen liegen ein multifaktorielles bio-psycho-soziales Modell zugrunde, in dem unter anderem Umgebungsfaktoren (z.B. Normen und Werte, elterlicher Erziehungsstil, sozioökonomischer Status) und Lernerfahrungen berücksichtigt werden. Teil dieser Umgebungsfaktoren sind kulturelle Werte, mit denen eine Person aufwächst und lebt [z.B. Fontenelle et al., 2004; Wilson und Thayer, 2020]. Welche Art von Zwangsstörung, also welche Inhalte die auftretenden Zwangsgedanken haben, wird in der Psychotherapie in einem individuellen Störungsmodell für jeden Betroffenen hergeleitet. Auch hier können Normen und Werte der Person hinzugezogen werden, um zu erklären, warum bestimmte Gedanken von großer Bedeutung sind. Rachman [1998] vermutet, dass der Inhalt von Zwangsgedanken eng mit dem persönlichen Wertesystem der Betroffenen zusammenhängt: Aggressive Zwangsgedanken beispielsweise scheinen dann als besonders beunruhigend und belastend wahrgenommen, wenn es einer Person wichtig ist, sich höflich und freundlich zu verhalten. Doron und Kyrios [2005] schlagen vor, dass Zwangsinhalte sich in jenen Bereichen manifestieren, in denen sich Betroffene besonders unsicher fühlen. Sie postulierten vier relevante Bereiche: Moral, berufliche und schulische Kompetenz sowie soziale Akzeptanz. In einer nicht-klinischen Stichprobe konnten die Autoren einen Zusammenhang zwischen erhöhter Unsicherheit in diesen Bereichen und dysfunktionalen Überzeugungen (wie übertriebener persönlicher Verantwortung; Überschätzung von Bedrohung; dem Bedürfnis, Gedanken zu kontrollieren; Perfektionismus; unwirksamen Strategien zur Bewältigung aufdringlicher Gedanken, Bildern und Impulsen) sowie erhöhten zwangsbezogenen Werten zeigen [Doron et al., 2007]. Diese Theorien stellen die Bedeutung individueller Eigenschaften in den Vordergrund und versuchen individuelle Unterschiede bezüglich der auftretenden Zwangsinhalte zu erklären [für eine Übersicht siehe Aardema und Wong, 2020].
Kulturübergreifende Studien nehmen sich unter anderem der Fragestellung an, welche Umstände zur Ausprägung individueller Zwangsinhalte beitragen können [für ein unsystematisches Review siehe Williams et al., 2017]. In der vorliegenden Arbeit sollen die Ergebnisse kulturübergreifender Studien hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen kulturellen Aspekten und Zwangsinhalten im Rahmen eines Scoping Reviews beleuchtet werden. Dies kann das Verständnis zur Ausprägung individueller Zwangsinhalte erweitern, in der Psychoedukation von Betroffenen verwendet werden und bei der Entstigmatisierung der belastenden Zwangsgedanken helfen: Wenn Betroffene verstehen, dass ihre Gedanken keineswegs völlig unsinnig sind, sondern unter anderem einen spezifischen kulturellen Hintergrund haben, kann dies bereits ein erster Schritt zu ihrer Entlastung sein. Im vorliegenden Artikel wird dieser Ansatz um eine historische Dimension erweitert. Ausgehend von der Tatsache, dass unterschiedliche Epochen verschiedene Normen und Werte prägen, ist es Ziel der Arbeit, einen Zusammenhang zwischen historischen und kulturellen Rahmenbedingungen (z.B. Normen) sowie Zwangsinhalten herausarbeiten. Erste infrage kommende Quellen liegen hierbei aus der Zeit des späten Mittelalters vor [siehe Greenberg und Huppert, 2010]. Im 19. Jahrhundert wird erstmals der Begriff der Zwangsstörung definiert und es liegen detailliertere Berichte über Fallbeispiele vor [z.B. Berrios, 1989].
Normen und Werte des Mittelalters, des 19. Jahrhunderts und der heutigen Zeit
Das späte Mittelalter war gezeichnet von einem „Christianisierungsschub“ [Angenendt, 2003, S. 17]. Mit dem Buchdruck verbreiteten sich christliche Schriften [Angenendt, 2003] und es herrschte ein „unstillbarer Hunger nach Gott“ [Febvre, 1929; zitiert nach Meuthen, 2006, S. 80]. Eine vorherrschende Volksfrömmigkeit [Angenendt, 2003] ging einher mit zunehmender Angst vor Verdammnis, sich zu versündigen, und dem Tod [Meuthen, 2006]. Der Glaube an die Existenz von Himmel und Hölle veränderte die Gesellschaft und forderte die Menschen auf, sich entsprechend religiöser Regeln zu verhalten [Angenendt, 2003].
Im 19. Jahrhundert hingegen war in Deutschland eine deutliche Abkehr von der Kirche zu beobachten. Die Besuchszahlen gingen zurück, während die Zahl der Nichtgläubigen zunahm [Ziemann, 2007]. Deutschland befand sich im Zeitalter der Säkularisation. Es kam zu einem Rückgang von Klöstern sowie Stiften und der Auflösung kirchlicher Bildungseinrichtungen [Heim, 1998]. Religiosität war in der Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine freie, individuelle Entscheidung [Besier und Gall, 2013]. Man spricht zu dieser Zeit von einer „Entkirchlichung“ Deutschlands [Schieder, 1993, S. 200]. Andere Werte wie beispielsweise die Bildung gewannen an Bedeutung. Es wurde davon ausgegangen, dass jeder Mensch von Geburt an die gleichen Voraussetzungen hat, die bei entsprechender Förderung zur individuellen Entwicklung genutzt werden können. Es herrschte das Leistungsprinzip: Für den Stand in der Gesellschaft war das Individuum selbst verantwortlich und konnte ihn durch Berufswahl und harte Arbeit verbessern [Thielen, 2012].
Zum Ende des 20. Jahrhunderts und zum Übergang in das 21. Jahrhundert gewann in Deutschland das Streben nach Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit an Bedeutung, während Pflichtgefühl, Akzeptanz, Gehorsam und Unterordnung abnahmen. Vordefinierte Rollenübernahmen wurden zunehmend abgelehnt. Innerhalb der Gesellschaft entwickelten sich mehr Verantwortungsbereitschaft und Toleranz, während die Wichtigkeit von Familie und Freund:innen bestehen blieb. Gewalt wurde zunehmend abgelehnt. Glaube und Religiosität blieben weiterhin wichtige Werte, entwickelten sich allerdings zunehmend unabhängig von der Institution Kirche [Klages und Gensicke, 1999]. In den regelmäßigen Umfragen der World Values Survey Association zeigt sich über verschiedene Länder hinweg eine generelle Entwicklung in Richtung säkular-rationaler Werte und eine Abkehr von traditionell religiösen Werten, Autorität und familiärer Tradition [World Values Survey Association, 2020].
Forschungsfrage
In dem vorliegenden Review soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie gesellschaftliche Normen und Werte Zwangsinhalte beeinflussen. Hierfür wurden zwei separate Literatursuchen durchgeführt: Zum einen wurden historische Quellen zusammengetragen. Es gibt keine Datenbanken, in denen systematisch ausreichend viele historische Quellen zusammengetragen und digitalisiert wurden und die sich etwa nach Schlagwörtern durchsuchen lassen, wie es für moderne Publikationen in Naturwissenschaften möglich ist. Daher kann dieses Vorgehen nur anekdotische Evidenz für einen Einfluss von durch die jeweilige Zeit geprägten Normen und Werte auf mögliche Zwangsinhalte geben. Zum anderen wird ein Scoping Review durchgeführt, um moderne Studien, die den Einfluss kultureller Faktoren auf Zwangsinhalte untersuchen, systematischer zu identifizieren.
Methode
Anekdotische Übersicht historischer Studien
Um historische Quellen zu finden, die möglicherweise Zwangssymptome beschreiben, wurden sowohl über die Datenbank PubMed als auch über die Suchmaschine Google relevante Texte zusammengetragen. Die stichprobenartige Suche bei anderen medizinisch-psychologischen Datenbanken ergab keine weiteren Befunde. Anhand einer Rückwärtssuche wurde nach weiteren geeigneten Artikeln gesucht. Die Titel und Abstracts (n = 1089) wurden auf ihre Relevanz gescreent. Publikationen wurden eingeschlossen, wenn sie deutsch- oder englischsprachig waren, sich auf Zwangsinhalte bezogen und der Volltext zur Verfügung stand. Google wurde benutzt, um neben der psychologisch-medizinischen Fachliteratur auf Webseiten und weitere Fachliteratur zuzugreifen. Quellen wurden ausgeschlossen, wenn keine Volltexte verfügbar waren, die Beschreibungen sich auf Zeiträume außerhalb des Untersuchungszeitraums bezogen und sich Quellen primär auf die Behandlung der Zwangsstörung bezogen (n = 1078). Aufgrund der geringen Anzahl an relevanten Publikationen werden alle verfügbaren Originalquellen beschrieben.
Scoping Review moderner Studien
Für das Scoping Review über aktuelle Studien des 20. und 21. Jahrhunderts, die den Einfluss von Kultur auf Zwangsinhalte nach aktuellen wissenschaftlichen Standards untersuchen, wurden die Datenbanken PubMed, Web of Science und Psyndex systematisch durchsucht. PubMed wurde mit dem folgenden Suchstring durchsucht: („Social Norms“[MeSH Terms] OR „Social Values“[MeSH Terms] OR „Culture“[MeSH Terms] OR „Cultural Characteristics“[MeSH Terms] OR „Cross-Cultural Comparison“[MeSH Terms] OR „Religion“[MeSH Terms] OR „Religion and Psychology“[MeSH Terms] OR „cultur*“[Title/Abstract] OR „religio*“[Title/Abstract] OR „transcultur*“[Title/Abstract] OR „cross cultur*“[Title/Abstract] OR „social norm*“[Title/Abstract] OR „social valu*“[Title/Abstract]) AND („Obsessive-Compulsive Disorder“[MeSH Terms] OR „Obsessive Behavior“[MeSH Terms] OR „Compulsive Behavior“[MeSH Terms] OR „OCD“[Title/Abstract] OR „Obsessive-Compulsive Disorder“[Title/Abstract]). Für Web of Science wurde der Suchstring („Obsessive-compulsive disorder“ OR „OCD“) AND („Cultur*“ OR „Scrupulo*“ OR „Religio*“ OR „Transcultur*“ OR „Cross-cultur*“ OR „Social norm*“ OR „Social valu*“) benutzt, für Psyndex (Zwangsstörung* OR Zwangsinhalt*) AND (Wert* OR Norm* OR Kultur* OR Religio* OR Transkultur* OR Interkultur*). Die Treffer wurden entsprechend dem Flowchart (Abb 1) reduziert. Einschlusskriterium in das Scoping Review war die Untersuchung von Zwangsinhalten im Rahmen einer Zwangsstörung und mindestens eines kulturellen Aspekts in englischer oder deutscher Sprache. Fallstudien, Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen oder der Zwangsstörung verwandten Störungen wie dem pathologischen Horten sowie Fragebogenübersetzungen und -validierungen wurden ausgeschlossen. Die Studien wurden von drei Bewerter:innen (Autor:innen AAG, JFL, AH) unabhängig hinsichtlich der Erfüllung des Einschlusskriteriums bewertet. Die Interraterreliabilitäten unter den Bewerter:innen lagen für Cohens Kappa bei 0,61, 0,75 und 0,90, was nach den Bewertungskriterien von Landis und Koch [1977] substantiellen bis fast perfekten Reliabilitäten entspricht. Bei Nichtübereinstimmung wurde der Ein- oder Ausschluss unter den Bewerter:innen diskutiert. Es wurden 57 Studien final in das Scoping Review eingeschlossen (Abb. 1).
Ergebnisse
Historische Quellen
Die Literatursuche identifizierte insgesamt elf geeignete Publikationen (Tab. 1, Supplements). Bei den Studien handelt es sich um Originalarbeiten aus den jeweiligen Jahrhunderten, die teilweise als Übersetzungen oder Neuauflagen zur Verfügung stehen, sowie um Sekundärliteratur.
Zwangsstörung im Mittelalter
Definitionen der Zwangsstörung existierten im Mittelalter noch nicht. Es gibt einige Fallbeschreibungen in religiösen Werken, die aus heutiger Sicht möglicherweise eine Zwangsstörung beschreiben. Im europäischen Mittelalter standen die Begriffe obsessio und compulsio in einem religiösen Kontext. Obsessio meinte den Zwang, etwas Blasphemisches zu sagen oder in einer Kirche laut zu fluchen [Greenberg und Huppert, 2010] und wurde auch als „Devil in the Tongue“ [dt. den Teufel auf der Zunge haben, Übers. d. Verf.; Enoch und Trethowan, 1979; zitiert nach Greenberg und Huppert, 2010, S. 283] bezeichnet. Im Mittelalter waren zwanghafte Ängste im Zusammenhang mit religiöser Thematik weit verbreitet [OCD-UK, 2019].
Erste Fallbeschreibungen finden sich in kirchlichen Schriften wie dem Malleus Maleficarum (dt. Hexenhammer, ca. 1487). Bei dem genannten Buch handelt es sich um ein Handbuch zur Erkennung von Hexen. Es beschreibt unter anderem eine Person, die jedes Mal die Zunge weit aus dem Mund habe strecken müssen, wenn sie an einer Kirche vorbeilief [Sprenger et al., 2005]. Der Priester Ignatius von Loyola (1491–1556) stellt in seiner Autobiographie Exercitia spiritualia (dt. Geistliche Übungen, Übers. d. Verf.) dar, wie ihn der Gedanke, gesündigt zu haben, quäle, sobald er ein Kreuz sehe. Er nennt diese Art des Gedankens „scrupulus“ und eine Versuchung des Teufels [Ignatius, 1978; zitiert nach Greenberg und Huppert, 2010, S. 282]. Bei beiden Fallbeschreibungen steht ein religiöser Inhalt im Mittelpunkt. Zur damaligen Zeit galt eine Person mit Zwängen wie die eben beschriebenen als vom Teufel besessen. Die betroffenen Personen wurden häufig von der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt [Greenberg und Huppert, 2010]. Neben den schon genannten Fallbeschreibungen analysierten Greenberg und Huppert [2010] und Cefalu [2010] retrospektiv Aussagen über Handlungen bedeutender Persönlichkeiten dieser Zeit. Laut den Autoren habe der Mönch und Theologe Martin Luther (1483–1546) an blasphemischen Gedanken und der Angst zu sündigen gelitten, sodass er mehrmals täglich habe beichten müssen. Darüber hinaus habe Luther geglaubt, dass nur der Tod ihn vor dem Einfluss des Teufels retten könne [Cefalu, 2010]. Diese Versuchung des Teufels sei Luthers Meinung nach als eine Erinnerung von Gott gekommen, im eigenen Glauben nicht zu bequem zu werden [OCD-UK, 2018]. Ignatius von Loyola berichtete selbst, dass ihn der Gedanke, gesündigt zu haben, einnehme. Dinge wie das versehentliche Treten auf ein von Zweigen geformtes Kreuz oder der alleinige Gedanke daran zu sündigen, hätten bei ihm zu hoher Anspannung und Zweifel geführt [Ignatius, 1978, zitiert nach Greenberg und Huppert, 2010].
Aus heutiger Sicht können die beschriebenen Symptome der Skrupulosität zugeordnet werden, einer Unterform der Zwangsstörung. Zwänge fokussieren sich hier auf religiöse Inhalte und äußern sich in einer übermäßigen Beschäftigung mit blasphemischen oder gotteslästerlichen Gedanken oder moralischen Werten [Abramowitz und Jacoby, 2014]. Betroffene könnten zum Beispiel persistierende Zweifel und Ängste haben, gesündigt zu haben oder kein moralisch guter, frommer Mensch zu sein [Inozu et al., 2017; zum zwanghaften Zweifel siehe auch Mavrogiorgou und Juckel, 2022]. Greenberg definierte vier Prinzipien, um die damaligen Symptome aus heutiger Sicht als pathologisch einordnen zu können [Cefalu, 2010]: 1. Das Verhalten übersteigt das von der Kirche vorgeschriebene. 2. Das Verhalten orientiert sich an einem spezifischen Teil der Religionslehre und es wird exzessiv probiert, dieses zu perfektionieren. 3. Das Verhalten fokussiert sich auf für andere belanglose Dinge, wie z.B., dass kein Weihwasser beim Segen auf den Boden fallen darf. 4. Biblische Geschichten werden wortwörtlich genommen, obwohl andere sie sinngemäß beurteilen würden. Eine klare Einordnung der oben beschriebenen Fälle ist retrospektiv nicht möglich, da unter anderem relevante Informationen über den Leidensdruck und tatsächliche Beeinträchtigungen fehlen. Dennoch ist es interessant zu sehen, wie detailliert zwangsähnliche Symptome bereits im Mittelalter beschrieben wurden. Aus diesen auf das Mittelalter basierenden Beschreibungen lässt sich zusammenfassend schlussfolgern, dass Zwangssymptome als des Teufels Werk galten. Die Inhalte der gefundenen Zwangssymptome sind alle religiöser Art und mit Gottesfurcht verbunden, so dass die beschriebene Symptomatik heute der Skrupulosität zugeordnet werden würde.
Zwangsstörung im 19. Jahrhundert
Anfang des 19. Jahrhunderts gewann die Beschreibung, Untersuchung und Heilung der Zwangsstörung in verschiedenen Ländern Europas an Aufmerksamkeit. In Frankreich diskutierten die Psychiater Bénédict Morel (1809–1873) und Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772–1840) über den Auslöser von Zwangsgedanken. Morel [1866] vermutete, dass Zwangshandlungen durch emotionale Zustände ausgelöst werden. Esquirol [1838] betonte andererseits die Diskrepanz der Einsicht der Betroffenen bei gleichzeitiger Wehrlosigkeit gegenüber den Gedanken. Er sah demnach die Symptome als Resultat einer Willensstörung; Morel hingegen als Resultat einer Störung der Emotionen.
Beide Franzosen sowie die deutschen Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) und Carl Westphal (1833–1890) erkannten die Einsicht der Patient:innen bezüglich der Übertriebenheit ihrer Gedanken [Oberbeck et al., 2013; Griesinger, 1868]. Deswegen grenzte Westphal [1877] die Zwangsstörung bewusst von anderen „Geistesstörungen“ ab und bot eine erste Definition, die der heutigen ähnlich ist. Seine Ausführung führte dazu, dass die Zwangsstörung von vielen Kollegen als eigenständige Störung angesehen wurde [Oberbeck et al., 2013]. Durch das gesteigerte Interesse an der Zwangsstörung innerhalb der Medizin finden sich für diesen Zeitraum eine größere Anzahl an Fallbeschreibungen. In einem Bericht stellt der deutsche Psychiater Wille [1882] 16 verschiedene Patient:innen vor, die unter Zwangsgedanken litten. Von diesen berichteten lediglich vier Patient:innen von religiösen Zwangsgedanken. Auffällig ist, dass die Fallbeschreibungen individuell sehr unterschiedlich sind: Wille berichtet von einem Patienten, der stetig von Gedanken an seine Arbeit geplagt wurde, ohne dass er sich davon lösen konnte. Ein weiterer Patient litt unter den wiederkehrenden Gedanken, eine Reise machen zu müssen. Weitere Inhalte, die vermehrt berichtet wurden, waren Ordnungs- und Reinlichkeitszwänge, perfektionistische und hypochondrische Zwangsgedanken, Grübelzwänge, Zwangsgedanken bezüglich des eigenen Todes oder des Todes anderer sowie sexuelle Zwangsgedanken [Wille, 1882]. Der deutsche Psychiater Griesinger berichtete von drei Fallbeschreibungen. Von einer Frau, der sich ständig unterschiedliche Fragen nach der Entstehung der Menschen oder deren Sinn aufdrängten und die sich gezwungen fühlte, nach Antworten auf die Fragen zu suchen. Von einem Mann, dem sich ebenfalls stetig Zwangsgedanken in Form von Fragen aufdrängten. Er fragte sich, warum Dinge eine bestimmte Größe haben oder wo die Ursache für bestimmte Gegebenheiten liege. So fragte er sich, warum es nur eine statt zwei Sonnen gäbe. In der dritten Fallbeschreibung beschrieb Griesinger eine Symptomatik, die man heutzutage wohl dem Kontrollzwang zuordnen würde: Er berichtete, dass ein Patient nach dem Abschließen nochmals kontrollieren müsse, ob er wirklich abgeschlossen habe. Beim Schreiben kontrollierte er mehrmals, ob er auch keine Fehler gemacht habe. Zusätzlich plagten auch ihn Zwangsgedanken in Form von Fragen, auf die er keine Antwort wusste [Griesinger, 1868].
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im 19. Jahrhundert die Zwangsstörung erstmals in den Fokus der Wissenschaft rückte. Zu dieser Zeit gab es Uneinigkeiten über die Entstehung und Beschaffenheit der Zwangsstörung. Ob es sich um ein eigenständiges Störungsbild handelte oder die Symptomatik im Rahmen einer anderen Störung zu finden war, konnte zu dieser Zeit ebenfalls nicht einvernehmlich geklärt werden. Die Mehrheit der Ärzte war sich jedoch in dem Punkt einig, dass bei den Betroffenen Einsicht in die Problematik besteht. Dies weist bereits Ähnlichkeiten mit den heutigen Kriterien der Zwangsstörung auf. Im 19. Jahrhundert ist eine große Variation der verschiedenen Zwangsinhalte zu erkennen. Insbesondere wurden Grübelzwänge berichtet. Betroffene setzten sich zeitintensiv mit Fragen über den Tod und die Erschaffung der Welt sowie mit Sinnfragen auseinander. Hinzu kamen Kontrollzwänge vor allem in Bezug auf mögliche Fehler bei der Arbeit. Außerdem tauchten neue Themen wie Sexualität und Reinlichkeit auf. Das heißt, das Spektrum von Zwangsinhalten wurde bereits im 19. Jahrhundert breit gefächert beschrieben.
Scoping Review moderner Literatur
Der moderne Forschungsstand gestaltet sich deutlich breiter und detaillierter. Alleine die sehr spezifische Literatursichtung, die mindestens einen kulturellen Aspekt sowie Zwangsinhalte beinhalten, ergab final 57 Publikationen (Abb. 1). Sechs Artikel davon sind Übersichtsarbeiten, bei den anderen 51 handelt es sich um empirische Studien (für eine Übersicht siehe Tab. 2, Supplements). Drei der empirischen Studien betrachten Populationen in Südasien [Khanna et al., 1986; Cherian et al., 2014; Batool et al., 2021], drei in Ostasien [Chia et al., 1996; Li et al., 2004; Matsunaga et al., 2008] und eine in Südamerika [Fontenelle et al., 2004]. Vier Studien untersuchen europäische, eine australische [Gonsalvez et al., 2010] und 14 nordamerikanische Populationen. Eine Studie vergleicht eine nordamerikanische mit einer südamerikanischen Population [Chavira et al., 2008], vier weitere vergleichen verschiedene westliche Stichproben, eine weitere beinhaltet verschiedene Kulturen auf mehreren Kontinenten [Weissman et al., 1994]. Die Mehrheit (16 Studien) untersucht Populationen aus dem Nahen Osten oder vergleicht Stichproben aus dem Nahen Osten mit solchen aus nordamerikanischen Kulturen (vier Studien).
Die Mehrheit der 51 empirischen Studien bezieht sich thematisch auf eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Zwangssymptomen und Religion/Religiosität (21 Studien). Jeweils eine weitere betrachtet das Verhältnis von Zwangssymptomen und Spiritualität [Berman et al., 2020], bzw. Aberglaube [Frost et al., 1993]. Zwei weitere Studien untersuchen Skrupulosität, die Unterform der Zwangsstörung mit religiösen Ängsten [Nelson et al., 2006; Inozu et al., 2017]. 15 Studien untersuchen die Prävalenzen von Zwangsstörung und Zwangsinhalten in ihren jeweiligen Kulturen. Eine Studie untersucht den Zusammenhang von Moral und Zwangssymptomen [Kang et al., 2016]. Zwei Studien betrachten Differenzen in Zwangssymptomen und -inhalten in verschiedenen ethnischen Gruppen in den USA [Washington et al., 2008; Wheaton et al., 2013]. Eine Studie untersucht Unterschiede in Zwangsinhalten zwischen Männern und Frauen in Indien [Cherian et al., 2014]. Die verbleibenden sieben Studien untersuchen den Zusammenhang von Zwangssymptomen und kognitiven Konzepten wie etwa Perfektionismus, Thought-Action-Fusion, Fear of Guilt oder magischem Denken und vergleichen diese hinsichtlich verschiedener kultureller Kontexte.
Von den 25 Studien, die Religion, Religiosität, Spiritualität, Aberglauben und/oder Skrupulosität untersuchen, legen 14 eine christlich geprägte Kultur zugrunde und untersuchen vornehmlich die Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen und den nicht-christlichen Minderheiten. Zwei israelische Studien betrachten jüdische Stichproben [Hermesh et al., 2003; Zohar et al., 2005]. Sechs Studien untersuchen muslimische oder überwiegend muslimische Stichproben aus vom Islam geprägten Ländern. Zwei Studien vergleichen muslimisch und christlich geprägte Populationen [Yorulmaz et al., 2009; Inozu et al., 2012].
Es sprengt den Rahmen dieses Artikels, die inhaltlichen Ergebnisse aller 51 Studien zusammenzutragen. Es sei deshalb an dieser Stelle auf die bereits vorhandenen Reviews verwiesen: Besiroglu et al. [2014] untersuchen den vorhandenen Wissensstand zu Skrupulosität im Islam. Fontenelle et al. [2004] vergleichen phänomenologische und soziodemographische Eigenschaften 16 klinischer Stichproben. Himle et al. [2011] tragen Studien zum Zusammenhang von Religion und Zwang zusammen. Horwath und Weissman [2000] erstellen eine kulturübergreifende Epidemiologie. Hunt [2020] vergleicht das klinische Erscheinungsbild von über 9000 Zwangspatient:innen aus verschiedenen Studien auf mehreren Kontinenten. Nicolini et al., [2017] untersuchen den Zusammenhang zwischen Kultur und Zwangsstörung in Studien zwischen 2007 und 2017. Wilson und Thayer [2020] beleuchten Unterschiede im klinischen Erscheinungsbild der Zwangsstörung bei People of Color. Ein Review, das sich umfassender dem Zusammenhang von kulturellen Einflüssen und Zwangsinhalten widmet, gibt es bisher nicht. An dieser Stelle sollen nun einzelne Befunde und relevante Gemeinsamkeiten berichtet werden, um der Frage eines möglichen Einflusses kultureller Faktoren auf Zwangsinhalte näher zu kommen. Darüber hinaus können aus den Studien neueren Datums auch Lücken im Wissenstand und wichtige zukünftige Forschungsinhalte diesbezüglich abgeleitet werden. Vorrangig findet die Forschung bisher in Nordamerika, Europa und Vorderasien statt. Generell zeigt sich, dass die Symptomcluster und Prävalenz der Zwangsstörung interkulturell stabil sind [Fontenelle et al., 2004; Nicolini et al., 2017; Hunt, 2020]: Die Lebenszeitprävalenz variiert über verschiedene Länder, Religionen und kulturelle Subgruppen kaum (Range von 1,9 bis 2,5%), sondern scheint vor allem von soziodemographischen Faktoren beeinflusst zu sein [Horwath und Weissman, 2000]. Außerdem findet sich über alle untersuchten Kulturen hinweg in klinischen Studien eine Dominanz des gemischten Typus nach ICD-10 (d.h. es liegen sowohl Zwangsgedanken als auch -handlungen vor). Dominante Zwangshandlungen sind weltweit die Wasch- und Kontrollhandlungen [Fontenelle et al., 2004]. Spezifische Zwangsinhalte scheinen jedoch durch kulturelle und/oder religiöse Einflüsse geprägt zu sein [Okasha et al., 1994; Fontenelle et al., 2004]. Waschzwänge sind beispielsweise weltweit stark verbreitet, in muslimischen Stichproben liegen der Zwangshandlung aber eher Zwangsgedanken über religiöse Reinheit und spezifisch das Waschritual vor dem Gebet zugrunde [u.a. Ghassemzadeh et al., 2002]. Es treten also häufiger Ängste auf, religiöse Riten nicht richtig ausgeführt zu haben, als beispielsweise Ängste, sich oder andere zu kontaminieren, die ebenfalls zu einem Waschzwang führen können. Auch regional lassen sich Unterschiede in den Zwangsinhalten feststellen: In Brasilien etwa ist Aggression der verbreitetste Zwangsinhalt, im Mittleren Osten dominieren religiöse Inhalte. Im Rest der Welt ist Kontamination als primäre Thematik vorherrschend [Fontenelle et al., 2004]. In Deutschland sind Kontrollzwänge (70,7%) sowie Reinigungs- und Waschzwänge (65,3%) die am weitesten verbreiteten Zwangshandlungen. Die zwei häufigsten Zwangsgedanken sind Gedanken über Verschmutzung (50,7%) und aggressive Gedanken (46,7%). Religiöse Gedanken liegen mit 16% nach Symmetrie und Ordnung (17,3%) und anderen Zwangsgedanken (38,7%) auf Rang 5 [Förstner et al., 2011].
Studien aus einzelnen Ländern versuchen den möglichen Zusammenhang von Zwangsinhalten und kulturellen, hier aber insbesondere religiösen Einflüssen zu analysieren. So vermuten unter anderem Okasha [2004] und Al-Sabaie et al. [1992], dass religiöse Regeln in muslimischen Ländern Grund für das vermehrte Auftreten religiöser Zwangsgedanken sind. Religiöse Zwangsinhalte sind in Saudi-Arabien mit einem Anteil von 46,7% vertreten [Al-Sabaie et al., 1992]. Die Autor:innen betonten, dass blasphemische Gedanken von der Bevölkerung noch immer als Zeichen des Teufels gesehen würden. Okasha et al. [1994] beschreiben außerdem einen möglichen Zusammenhang der hohen Prävalenz von Wiederholungszwängen in Ägypten mit dem Ritual des wiederholten Aufsagens religiöser Sätze wie z.B.: „Ich suche Zuflucht beim Herrn vor dem verfluchten Teufel“ [Übers. d. Verf.; Okasha et al., 1994, S. 194]. Ähnlich wie in Stichproben aus Ägypten [Okasha et al., 1994] oder Bahrain [Shooka et al., 1998] ist die Prävalenz für religiöse Zwangsinhalte in der Türkei ebenfalls höher als in westlichen Ländern. Auffällig ist, dass sich die Prävalenz innerhalb des Landes verändert und im als konservativ geltenden Osten höhere Prävalenzen zu finden sind als im säkulareren Westen [Tek und Ulug, 2001; Karadaĝ et al., 2006]. Daten aus dem Iran zeigen, dass pathologisches Zweifeln mit 85% und die Angst vor Verunreinigung mit 62% sehr häufig auftreten [Ghassemzadeh et al., 2002]. In Rio de Janeiro hingegen werden viele aggressive Zwangsgedanken berichtet, während in der Gesellschaft und in den Medien die hohen Mortalitätsraten durch physische Gewalt diskutiert werden [Fontenelle et al., 2004]. Im Sinne der Forschungsfrage spiegeln diese Beispiele einen möglichen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Werten und Zwangsinhalten wider. Nicht alle, aber doch die Mehrheit der einbezogenen Studien findet einen Zusammenhang zwischen Zwangsinhalten und dem jeweils betrachteten kulturellen Aspekt bzw. Unterschiede in der Prävalenz von Zwangsinhalten in Ländern mit unterschiedlicher kultureller Prägung.
Diskussion
Ziel des vorliegenden Reviews ist es, die Frage nach der Ausprägung von Zwangsinhalten zu explorieren und einen möglichen Zusammenhang mit kulturell geprägten Normen und Werten zu finden. Hierzu haben wir sowohl systematisch moderne Studien in einem Scoping Review untersucht als auch historische Quellen nach anekdotischer Evidenz für den Einfluss verschiedener Epochen betrachtet, die durch kulturelle Unterschiede gekennzeichnet sind. Insgesamt sprechen die Ergebnisse der Literaturrecherche für die Annahme, dass sich vorherrschende kulturelle Normen in den Inhalten von Zwangsgedanken widerspiegeln, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sich der Wandel kultureller Werte ebenso in veränderten Zwangsinhalten widerspiegeln könnte.
Beim europäischen Spätmittelalter handelte es sich um eine Epoche, die von weit verbreiteter starker Religiosität geprägt war. Der Gedanke, vom Teufel eingenommen zu werden, löste bei vielen Menschen starke Ängste aus. Existierende Berichte über die Symptomatik der Skrupulosität im Mittelalter erweitern Rachmans [1998] Annahme insofern, dass es auch in historischen Berichten Hinweise darauf gibt, dass das individuelle Wertesystem von gesellschaftlichen Normen und Werten geprägt wird und hierüber für die Ausbildung spezifischer Zwangsinhalte mitbestimmend ist. Die Veränderung religiöser Zwangsinhalte hin zu einer größeren Varianz an Zwangssymptomen mit einem verstärkten Auftreten von Kontroll- oder Ordnungszwängen im 19. Jahrhundert scheint zur gesellschaftlichen Entwicklung zu passen. Allgemein entwickelte sich die Gesellschaft weg von einem religiösen Fokus hin zu säkularen Werten mit Fokus auf individuelle Werte. Hierbei liegt die Vermutung nahe, dass das Leistungsprinzip und die gestiegene Bedeutung von Bildung die Entstehung z.B. von Kontroll- und Ordnungszwängen begünstigten. Kontroll- oder Ordnungszwänge könnten also deshalb vermehrt aufgetreten sein, da die Annahme herrschte, dass man durch eigene Leistung einen guten Stand in der Gesellschaft erreichen konnte. Um ein erfolgreicher Teil der Gesellschaft zu sein, musste man demnach Leistung erbringen und durfte keine Fehler machen [Thielen, 2012].
Die im Mittelalter berichteten zwangsähnlichen Symptome beziehen sich allesamt auf religiöse Inhalte, während im 19. Jahrhundert vielfältigere Zwangsinhalte beschrieben wurden. Das Hinzuziehen solch alter Quellen bringt drei wesentliche methodische Problematiken mit sich: Erstens liegen nur sehr wenige Fallbeschreibungen aus Zeiten vor der modernen Definition der Zwangsstörung vor. Dadurch ist nicht gesichert, ob die vorliegenden Fallbeschreibungen repräsentativ für die entsprechende Zeit oder die entsprechende Region sind. Besonders für das Mittelalter ist eine Konfundierung nicht ausgeschlossen. So wurde wahrscheinlicher von religiösen Zwangssymptomen berichtet, da überwiegend religiöse Schriften verfasst wurden und somit die religiösen Zwangssymptome von besonderer Bedeutung waren. Viele Texte wie etwa der Hexenhammer spiegeln das vorherrschende Bild wider, psychische Störungen hätten ihren Ursprung in übernatürlichen und teuflischen Kräften und fielen somit in die Domäne von Priestern und der Kirche [Kemp, 2019]. Gleichzeitig wurden möglicherweise in anderen Kontexten auftretende Zwangsgedanken und -symptome als nicht berichtenswert angesehen. Auch im 19. Jahrhundert liegen vereinzelte Fallberichte vor; auch hier fanden keine modernen, systematischen, epidemiologischen oder phänomenologischen Untersuchungen statt, wie wir sie für die zweite Hälfte des 20. und das 21. Jahrhundert gewohnt sind. Zweitens kann die hier berichtete historische Quellensammlung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Für vormoderne Literatur und die hier betrachtete Fragestellung gibt es keine Datenbanken, die für eine systematische Quellensuche herangezogen werden konnten. Drittens ist es nicht möglich, valide einzuordnen, ob die berichteten Symptome tatsächlich die heutigen Kriterien und die Diagnose einer Zwangsstörung erfüllen würden (retrospektive Diagnostik) [für eine weiterführende Problematisierung siehe z.B. Cefalu, 2010; Krischel, 2019]. Es liegen lediglich Ausschnitte aus der Psychopathologie der vermeintlich Betroffenen und keine vollständigen Anamnesen vor. Von diesen Fallbeschreibungen, die außerdem keiner Fachterminologie folgen, kann nicht auf den psychischen Allgemeinzustand oder gar auf eine Diagnose geschlossen werden. Darüber hinaus muss vermeintlich obsessives Verhalten ins Verhältnis zu jeweilig vorherrschenden Normen gesetzt werden. Nach Ansicht vieler Wissenschaftler:innen [u.a. Cefalu, 2010] sollten die Kriterien des 21. Jahrhunderts nicht zur retrospektiven Diagnose herangezogen werden.
Der Forschungs- und Wissenszuwachs im 20./21. Jahrhundert ermöglicht eine deutlich detailliertere, länder- und kulturübergreifende Übersicht über das Auftreten unterschiedlicher Zwangsinhalte unter der Verwendung klinischer Diagnosesysteme. Die Mehrheit der Studien deutet darauf hin, dass in religiös geprägten Ländern auch religiöse Zwangsinhalte häufiger vorkommen, wohingegen Betroffene aus Ländern mit säkularen Werten mehrheitlich nicht-religiöse Inhalte (z.B. Kontaminationsinhalte) berichten. In Übereinstimmung mit diesen Befunden finden beispielsweise Greenberg und Huppert [2010] Belege, dass sich die Zwangssymptome sehr gläubiger Menschen öfter als bei nicht gläubigen Stichproben auf religiöse Zwangsinhalte beziehen (bis zu 93% der jeweiligen Stichprobe): Der Anteil von Skrupulosität, also einer Zwangsstörung mit religiösem Inhalt, ist bei Menschen mit Zwangsstörung in muslimischen Ländern sowie in der Gruppe ultraorthodoxer jüdischer Personen deutlich höher als in christlichen Ländern. Allerdings weist Cefalu [2010] darauf hin, dass ein in manchen Kulturen als obsessiv geltendes Verhalten durchaus (klinisch) unauffällig sein kann, wenn das Verhalten im Zusammenhang mit den Anforderungen der entsprechenden Religion und Gesellschaftsordnung steht und den Betroffenen wenig Leidensdruck verursacht. Interessanterweise können den gleichen Zwangssymptomen unterschiedliche Zwangsinhalte zugrunde liegen. Kontrollzwänge in westlichen Ländern werden häufig ausgelöst durch den Wunsch, keine Fehler zu machen, während auftretende Kontrollzwänge in religiös geprägten Ländern primär durch Zwangsinhalte ausgelöst zu werden scheinen, die sich auf spirituelle Reinheit beziehen [Cefalu, 2010].
Das Scoping Review konnte jedoch auch zeigen, dass die meisten Studien isoliert in einzelnen Ländern durchgeführt wurden und direkte Vergleiche zwischen mehreren Ländern unterschiedlicher Kulturkreise selten sind. Außerdem findet der Großteil der Forschung zur Zwangsstörung in nordamerikanischen, europäischen oder vorderasiatischen Ländern statt. Hier wären weitere im Vornherein geplante interkulturell durchgeführte Studien wünschenswert, die auch weitere Kulturkreise und Länder berücksichtigen, um auch über diese kulturellen Hintergründe fundierte Aussagen treffen zu können. Weiterhin hat das Scoping Review gezeigt, dass die absolute Mehrheit der Studien, die Zwangsinhalte im Kontext kultureller Faktoren untersuchen und nicht phänomenologischer Natur sind, Religion und/oder Religiosität als kulturellen Faktor heranzieht, obwohl die verwendeten Suchbegriffe auch andere kulturelle Aspekte zugelassen hätten. So können wir, bis auf wenige Einzelstudien, nur Aussagen über die Zusammenhänge von Zwangsinhalten und Religion/Religiosität oder Nationalität machen. Hier wäre es spannend, die Einflüsse weiterer kultureller Facetten wie beispielsweise Traditionen, Sprache, Politik, Streitkultur, Kollektivismus/Individualismus oder Erziehungsstile zu untersuchen.
Für die Behandlung der Zwangsstörung könnten die Erkenntnisse, dass verschiedene Aspekte der eigenen Kultur die Ausprägung von Zwangsinhalten mitbeeinflussen können, von Vorteil sein. So bieten sie in der Psychoedukation den Betroffenen einen weiteren Erklärungsansatz innerhalb eines bio-psycho-sozialen Modells, warum sich bei ihnen welche Zwangsinhalte zur Belastung entwickelt haben. Dies kann dazu beitragen, dass Betroffene eine erste Entlastung erfahren, indem sie ihre Gedanken als weniger unsinnig und absurd wahrnehmen. Das Wissen darüber, wie lange es schon die Zwangsstörung gibt und welche Inhalte bereits seit Jahrhunderten existieren, könnte für manche Betroffene ebenfalls zur Entstigmatisierung ihrer Zwangsstörung und zur Entlastung beitragen. Zu erfahren, dass die Inhalte mit den jeweiligen Werten und Normen der Gesellschaft zusammenhängen können und nicht, wie häufig befürchtet, durch einen tiefen, inneren Wunsch entstehen, kann für die Betroffenen eine Hilfe sein, besser mit ihren individuellen Zwangsgedanken umzugehen.
Zukünftige Forschung zu der Entstehung von Zwangsinhalten sollte auch die zu der jeweiligen Zeit und am Erhebungsort gültigen Normen und Werte betrachten und diese in der Selektion ihrer Stichproben mitdenken, um eine möglichst große Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse zu erreichen oder bewusst Aussagen über spezifische Gruppen treffen zu können. Dies wird aus den zwei Hauptergebnissen des vorliegenden Reviews moderner Studien deutlich: Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, Zwangsinhalte ohne den jeweiligen kulturellen Kontext der Stichprobe zu untersuchen, weil große Varianz zu erwarten ist. Dies ist allerdings bisher nicht für alle Kulturkreise und nur für wenige Aspekte von Kultur (vor allem für Religiosität) untersucht. Die vorliegende Studie hat im anekdotischen Review zusätzlich versucht, Hinweise auf den Einfluss von Normen und Werten auf Zwangsinhalte auch im historischen Kontext zu finden. Es gibt erste Hinweise, dass die überlieferten Berichte über mögliche Zwangsinhalte aus dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert die Normen und Werte der untersuchten Epochen widerspiegeln. Trotz der methodischen Limitationen sollte dieser historische Ansatz nicht verworfen werden, weil der zeitliche Kontext offenbar bei der Erklärung helfen kann, welche Zwangsinhalte sich ausprägen, und die nach heutigen wissenschaftlichen Standards arbeitende Forschung noch nicht alt genug ist, diese Vergleiche zu ziehen. Erstrebenswert wäre die Durchführung von Längsschnittstudien, um einen tatsächlichen Wandel bezüglich der Zwangsinhalte sowie kultureller Normen und Werte abzubilden. Interessant wäre es außerdem, Patient:innen über Jahre zu begleiten, um zu analysieren, ob, wie und warum sich Zwangsinhalte intraindividuell verändern. So könnte die Frage beantwortet werden, ob sich Zwangsinhalte basierend auf persönlichen Wertvorstellungen in Abhängigkeit von kulturellen Wertesystemen verändern. Der durch die Betrachtung des kulturellen Kontextes und der jeweils vorherrschenden Werte und Normen zusätzliche Erkenntnisgewinn kann auch in der psychotherapeutischen Praxis genutzt werden: Möglicherweise ist das zusätzliche Wissen über die Entstehung und Veränderung individueller Zwangsinhalte für Patient:innen entlastend. Somit kann die Psychoedukation sowie ein kultursensibler Umgang im Rahmen einer Therapie weiter verbessert werden.
Statement of Ethics
Es wurde kein Ethikantrag gestellt, da es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine reine Übersichtsarbeit bestehender Literatur handelt.
Conflict of Interest Statement
Die Autor:innen erklären, dass kein Interessenskonflikt besteht.
Funding Sources
A.H. wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 450096725.
Author Contributions
A.A.G.: Konzeptualisierung, Datenerhebung, Review-Rating, Schreiben der zweiten Manuskriptfassung, Überarbeitung, Finalisierung des Manuskripts; N.K. und L.A.: Forschungsidee, Konzeptualisierung, Datenerhebung, Schreiben der ersten Manuskriptfassung, Überarbeitung; J.F.L. und A.H.: Konzeptualisierung, Supervision, Review-Rating, Überarbeitung.
Data Availability Statement
Alle im Rahmen dieser Studie analysierten Daten sind in diesem Artikel enthalten. Auf Nachfrage können weitere Daten zur Durchführung des Scoping Reviews zur Verfügung gestellt