Zusammenfassung
Hintergrund: Der Artikel gibt einen Überblick über die diagnostischen Veränderungen bei den Essstörungen in der ICD-11. Zusammenfassung: Die kindlichen Fütterstörungen wurden mit den Essstörungen zusammengefasst. Als neue eigenständige Diagnosen sind nun die Binge-Eating-Störung und die Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme genannt. Bei den diagnostischen Kriterien von Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung gab es einige relevante Veränderungen, welche die Gewichtsgrenzen sowie die Definition und Frequenz von Essanfällen betreffen. Kernbotschaft: Insgesamt sind die diagnostischen Änderungen im Bereich der Fütter- und Essstörungen sicher weniger gravierend als bei anderen psychischen Störungen.
Abstract
Background: The article provides an overview of the diagnostic changes of eating disorders in the ICD-11.Summary: The feeding and eating disorders now represent a single grouping in the ICD-11. New diagnostic categories are the binge-eating disorder and the avoidant-restrictive food intake disorder. The diagnostic criteria of anorexia nervosa, bulimia nervosa, and binge-eating-disorder have undergone some relevant changes that concern the weight criteria as well as the definition and frequency of binge eating episodes.Key Messages: Overall, the diagnostic changes in the area of feeding and eating disorders are less pronounced than for other mental disorders.
Einleitung
Die ICD-11 wurde im Mai 2019 von der WHO verabschiedet und ist seit dem 01.01.2022 international gültig [Claudino et al., 2019, First et al., 2021, World Health Organization, 2024]. Wann die ICD-11 für die Morbiditätsdiagnostik in Deutschland eingeführt wird, ist noch nicht absehbar. Es liegt bisher nur eine deutsche Entwurffassung vor [Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM), 2024].
In der ICD-11 wird die Trennung zwischen Essstörungen und Fütterstörungen aufgehoben. Damit wird die gesamte Lebensspanne für jene psychischen Störungen berücksichtigt, die mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängen. Der hohe Anteil unspezifischer Diagnosen (atypisch, andere näher bezeichnete, nicht näher bezeichnete) wurde reduziert. Die Binge-Eating-Störung (BES) und die Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme (Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder, ARFID) werden erstmals als eigenständige Störungen gelistet (Tab. 1). Die Purging Disorder (kompensatorische Maßnahmen ohne Essanfälle) und das Night-Eating-Syndrom können in der ICD-11, ähnlich wie im DSM-5, den sonstigen näher bezeichneten Fütter- oder Essstörungen zugeordnet werden.
Unterschiede zwischen ICD-10 und ICD-11
Fütter- und Essstörungen in der ICD-10 . | Fütter- und Essstörungen in der ICD-11 . |
---|---|
F50.0 Anorexia nervosa | 6B80 Anorexia nervosa |
F50.1 Atypische Anorexia nervosa | 6B81 Bulimia nervosa |
F50.2 Bulimia nervosa | 6B82 Binge-Eating-Störung |
F50.3 Atypische Bulimia nervosa | 6B83 Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung |
F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen | 6B84 Pica |
F50.5. Erbrechen bei anderen psychischen Störungen | 6B85 Ruminations- und Regurgitationsstörung |
F50.8 Sonstige Essstörungen | 6B8Y Sonstige näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen |
F50.09 Essstörungen, nicht näher bezeichnet | 6B8Z Fütter- oder Essstörungen, nicht näher bezeichnet |
F98.2 Fütterstörung im frühen Kindesalter (beinhaltet Rumination und Regurgitation) | |
F98.3 Pica im Kindesalter |
Fütter- und Essstörungen in der ICD-10 . | Fütter- und Essstörungen in der ICD-11 . |
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F50.0 Anorexia nervosa | 6B80 Anorexia nervosa |
F50.1 Atypische Anorexia nervosa | 6B81 Bulimia nervosa |
F50.2 Bulimia nervosa | 6B82 Binge-Eating-Störung |
F50.3 Atypische Bulimia nervosa | 6B83 Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung |
F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen | 6B84 Pica |
F50.5. Erbrechen bei anderen psychischen Störungen | 6B85 Ruminations- und Regurgitationsstörung |
F50.8 Sonstige Essstörungen | 6B8Y Sonstige näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen |
F50.09 Essstörungen, nicht näher bezeichnet | 6B8Z Fütter- oder Essstörungen, nicht näher bezeichnet |
F98.2 Fütterstörung im frühen Kindesalter (beinhaltet Rumination und Regurgitation) | |
F98.3 Pica im Kindesalter |
Die Essstörungsdiagnosen in der ICD-11
Anorexia nervosa in der ICD-11
Das Hauptkriterium der Anorexia nervosa (AN) bleibt das niedrige Gewicht. Der BMI von 17,5 kg/m2 als Gewichtsgrenze für die Diagnose einer AN wurde jedoch auf 18,5 kg/m2 erhöht. Es ist erstaunlich, dass das Gewichtskriterium bei Erwachsenen erhöht wurde, während es bei der kindlichen und jugendlichen AN auf einen Wert unterhalb der 5. Altersperzentile erniedrigt wurde. Von Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet wird kritisiert, dass diese Gewichtsgrenze zu niedrig angelegt sei, vor dem Hintergrund, dass die Konsequenzen eines chronischen Hungerzustandes gravierender sind als bei Erwachsenen [Gradl-Dietsch et al., 2021, Engelhardt et al. 2021, Gradl-Dietsch et al., 2022]. Zusätzlich kann ein sehr rascher Gewichtsverlust (>20% innerhalb von 6 Monaten) das Gewichtskriterium ersetzen, auch wenn noch kein Untergewicht besteht (Tab. 2). Dies ist eine sinnvolle Änderung, um die zunehmende Anzahl von Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen, die bei einem höheren Ausgangsgewicht eine akute und bedeutsame Gewichtsabnahme aufweisen, ohne den BMI Schwellenwert zu erreichen. Das könnte sogar bedeuten, dass Patientinnen und Patienten sowohl die Diagnose Adipositas als auch AN erfüllen. Das trifft etwa bei Patientinnen und Patienten zu, die nach einer adipositaschirurgischen Maßnahme die Kriterien einer AN erfüllen, deren Gewicht aber noch im übergewichtigen Bereich liegt [Hilbert et al., 2022].
Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa in der ICD-11
• Ein für die Körpergröße, das Alter und den Entwicklungsstand der Person signifikant niedriges Körpergewicht, das nicht auf eine andere gesundheitliche Störung oder auf die Nichtverfügbarkeit von Nahrung zurückzuführen ist. |
o Ein häufig verwendeter Schwellenwert ist ein Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18,5 kg/m2 bei Erwachsenen und ein BMI für das Alter unterhalb der 5. Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen. |
oder |
o Ein rascher Gewichtsverlust (z.B. mehr als 20 % des gesamten Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten) kann den Richtwert für ein niedriges Körpergewicht ersetzen, sofern andere diagnostische Anforderungen erfüllt sind. |
oder |
o Fehlende zu erwartende Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen. |
• Verhaltensweisen, die auf eine Verringerung der Energiezufuhr abzielen (eingeschränkte Nahrungsaufnahme), Reinigungsverhalten (z.B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln) und Verhaltensweisen, die auf eine Erhöhung des Energieverbrauchs abzielen (z.B. exzessive körperliche Betätigung), typischerweise verbunden mit der Angst vor einer Gewichtszunahme. |
• Ein niedriges Körpergewicht oder eine niedrige Körperform steht im Mittelpunkt der Selbsteinschätzung der Person oder wird fälschlicherweise als normal oder sogar übertrieben empfunden. |
• Ein für die Körpergröße, das Alter und den Entwicklungsstand der Person signifikant niedriges Körpergewicht, das nicht auf eine andere gesundheitliche Störung oder auf die Nichtverfügbarkeit von Nahrung zurückzuführen ist. |
o Ein häufig verwendeter Schwellenwert ist ein Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18,5 kg/m2 bei Erwachsenen und ein BMI für das Alter unterhalb der 5. Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen. |
oder |
o Ein rascher Gewichtsverlust (z.B. mehr als 20 % des gesamten Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten) kann den Richtwert für ein niedriges Körpergewicht ersetzen, sofern andere diagnostische Anforderungen erfüllt sind. |
oder |
o Fehlende zu erwartende Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen. |
• Verhaltensweisen, die auf eine Verringerung der Energiezufuhr abzielen (eingeschränkte Nahrungsaufnahme), Reinigungsverhalten (z.B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln) und Verhaltensweisen, die auf eine Erhöhung des Energieverbrauchs abzielen (z.B. exzessive körperliche Betätigung), typischerweise verbunden mit der Angst vor einer Gewichtszunahme. |
• Ein niedriges Körpergewicht oder eine niedrige Körperform steht im Mittelpunkt der Selbsteinschätzung der Person oder wird fälschlicherweise als normal oder sogar übertrieben empfunden. |
Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Accessed 25.07.2024. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.
Es wurde eine Unterteilung nach unterschiedlichen Schweregraden in Abhängigkeit vom BMI bzw. bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von der BMI-Perzentile eingeführt (sogenannter specifier). Es wird zwischen „signifikant niedrigem“ und „gefährlich niedrigem“ BMI unterschieden (Tab. 3). Schweres Untergewicht stellt einen starken Prädiktor für eine ungünstige Prognose und hohe Mortalität dar. Interessant ist, dass die Diagnose AN auch nach Gewichtsrehabilitation (z.B. nach Entlassung aus stationärer Behandlung) bestehen bleiben soll. Gefordert wird, dass die Remission von Untergewicht und der anderen diagnostischen Kriterien über einen Zeitraum von 1 Jahr nach Beendigung der Behandlung besteht. Erst nach einem Jahr Remission aller diagnostischen Kriterien soll die Diagnose nicht mehr vergeben werden bzw. kann gegebenenfalls in eine andere Essstörung wie Bulimia nervosa (BN) oder BES umgewandelt werden. Auch das erscheint klinisch sinnvoll, da auch nach Gewichtsrestitution die Fortführung einer (ambulanten) Behandlung gerechtfertigt ist.
Specifier der Anorexia nervosa in der ICD-11 (B6B80)
Subtypen (specifiers) nach Gewicht . | Subtypen (specifiers) nach Essverhalten . | Beschreibung Essverhalten . |
---|---|---|
6B80.0 mit signifikant erniedrigtem Körpergewicht (BMI 14–18,5 kg/m2; 0,3.–5. BMI-Perzentile)* | 6B80.00 restriktives Verhaltensmuster | Restriktives Verhaltensmuster: |
6B80.01 Binge-Purging Verhaltensmuster | Eingeschränkte Nahrungsaufnahme/Fasten | |
und/oder | ||
6B80.0Z nicht näher bezeichnet | Erhöhter Energieverbrauch (z.B. exzessive körperlich Betätigung) | |
6B80.1 mit gefährlich erniedrigtem Körpergewicht (BMI <14; kg/m2 <0,3. BMI Perzentile) | 6B80.10 restriktives Verhaltensmuster | Binge-Purging Verhaltensmuster: |
6B80.11 Binge-Purging Verhaltensmuster | Essanfälle | |
und/oder | ||
6B80.1Z nicht näher bezeichnet | Purging (z.B. selbst-induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Diuretika, L-Tyroxin, Einläufe, Insulin-purging) | |
6B80.2 in Remission mit normalem Körpergewicht (BMI >18,5 kg/m2; >5. BMI-Perzentile) | Die Diagnose einer AN sollte weiter vergeben werden, bis eine volle Remission über die Dauer von 1 Jahr nach Beendigung der Therapie erreicht wurde. |
Subtypen (specifiers) nach Gewicht . | Subtypen (specifiers) nach Essverhalten . | Beschreibung Essverhalten . |
---|---|---|
6B80.0 mit signifikant erniedrigtem Körpergewicht (BMI 14–18,5 kg/m2; 0,3.–5. BMI-Perzentile)* | 6B80.00 restriktives Verhaltensmuster | Restriktives Verhaltensmuster: |
6B80.01 Binge-Purging Verhaltensmuster | Eingeschränkte Nahrungsaufnahme/Fasten | |
und/oder | ||
6B80.0Z nicht näher bezeichnet | Erhöhter Energieverbrauch (z.B. exzessive körperlich Betätigung) | |
6B80.1 mit gefährlich erniedrigtem Körpergewicht (BMI <14; kg/m2 <0,3. BMI Perzentile) | 6B80.10 restriktives Verhaltensmuster | Binge-Purging Verhaltensmuster: |
6B80.11 Binge-Purging Verhaltensmuster | Essanfälle | |
und/oder | ||
6B80.1Z nicht näher bezeichnet | Purging (z.B. selbst-induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Diuretika, L-Tyroxin, Einläufe, Insulin-purging) | |
6B80.2 in Remission mit normalem Körpergewicht (BMI >18,5 kg/m2; >5. BMI-Perzentile) | Die Diagnose einer AN sollte weiter vergeben werden, bis eine volle Remission über die Dauer von 1 Jahr nach Beendigung der Therapie erreicht wurde. |
Quelle: World Health Organization. International Classification of Diseases 11th Revision. Accessed 25.07.2024. https://icd.who.int/en. *Ein rascher Gewichtsverlust von z.B. mehr als 20% des gesamten Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten kann den Richtwert für ein niedriges Körpergewicht ersetzen, sofern andere diagnostische Anforderungen erfüllt sind.
Wie bisher wird zwischen einem restriktiven Typ der AN und einem Binge-Purge-Typ unterschieden, bei dem es zu aktiven kompensatorischen Maßnahmen der Gewichtskontrolle kommt.
Auf das diagnostische Kriterium der Amenorrhö wurde ganz verzichtet, da das Ausbleiben der Menstruation vorrangig eine organische Folge der AN darstellt und auch bei Hungerzuständen anderer Genese auftritt. Zudem kann das Ausbleiben der Menstruation vor der Menarche, nach der Menopause und bei Einnahme von Kontrazeptiva sowie beim männlichen Geschlecht nicht als Kriterium verwandt werden.
Auf das Kriterium „Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von ,fettmachenden‘ Speisen“ wurde verzichtet, um nicht durch eine vermeintliche Steuerbarkeit der Essstörung durch die Betroffenen zur Stigmatisierung beizutragen. Auch die Angst vor Gewichtszunahme ist kein unbedingt notwendiges diagnostisches Kriterium mehr, solange das Verhalten der Betroffenen, das zum Gewichtsverlust führt, als intentional identifiziert werden kann.
Bulimia nervosa in der ICD-11
Zeitraum und Frequenz der Essanfälle wurden auf mindestens einen Essanfall pro Woche über eine Dauer von einem Monat reduziert (statt wie bisher 2×/Woche über 3 Monate). In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass sich Schweregrad und Prognose der Erkrankung bei höher- oder niederfrequenter Symptomatik nicht unterscheiden. Eines der Hauptkriterien, nämlich, dass die Selbstbewertung übermäßig stark von Figur und Gewicht beeinflusst wird, bleibt unverändert bestehen. Als Essanfall (binge eating) wird ein bestimmter Zeitraum definiert, in dem die betroffene Person (1) subjektiv die Kontrolle über das Essen verliert und (2) „deutlich mehr oder anders isst als gewöhnlich“. Mit dieser Definition ist es nun auch möglich, dass die Diagnose auf Basis subjektiv empfundener Essanfälle vergeben werden kann, unabhängig von der tatsächlichen Menge aufgenommener Nahrungsmittel (Tab. 4). In der klinischen Praxis ist die Größe der Essanfälle sehr variabel und es ist in vielen Fällen nicht einfach, die Menge korrekt als „objektiv groß“ einzuschätzen. Zudem ist die Beeinträchtigung durch die Essstörung und die Häufigkeit von psychischen Komorbiditäten unabhängig von der Größe der Essanfälle [Fitzsimmons-Craft et al., 2014]. Das Gefühl des Kontrollverlustes beim Essen ist von höherer psychopathologischer Relevanz im Vergleich zur verzehrten Nahrungsmenge. Im Gegensatz zum DSM-5 gibt es keine Schweregradeinteilung nach der Häufigkeit der Episoden. Es soll darauf hingewiesen werden, dass die deutsche Übersetzung des Begriffs „binge eating“ in der Entwurffassung der ICD-11 [Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM), 2024] sowie in der deutschen Fassung des DSM-5 [Falkai und Wittchen, 2018] „Essanfall“ und nicht „Essattacke“ ist. Binge Eating wird von wiederholten unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen begleitet, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen. Diese sind in Tabelle 4 aufgelistet.
Diagnostische Kriterien der Bulimia nervosa in der ICD-11
• Häufige, wiederkehrende Essanfälle (z.B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mindestens einem Monat). |
• Eine Binge-Eating-Episode ist ein bestimmter Zeitraum, in dem die betroffene Person subjektiv die Kontrolle über das Essen verliert, deutlich mehr oder anders isst als gewöhnlich und sich nicht in der Lage fühlt, mit dem Essen aufzuhören oder die Art oder Menge der verzehrten Lebensmittel zu begrenzen. |
• Unangemessene kompensatorische Verhaltensweisen, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen (z.B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder Einläufen, anstrengender Sport). |
• Gedanken über Körperform oder Gewicht, die die Selbsteinschätzung stark beeinflussen. |
• Ausgeprägter Leidensdruck in Bezug auf das Essverhalten und unangemessenes kompensatorisches Verhalten oder erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. |
• Erfüllt nicht die diagnostischen Anforderungen der Anorexia nervosa. |
• Häufige, wiederkehrende Essanfälle (z.B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mindestens einem Monat). |
• Eine Binge-Eating-Episode ist ein bestimmter Zeitraum, in dem die betroffene Person subjektiv die Kontrolle über das Essen verliert, deutlich mehr oder anders isst als gewöhnlich und sich nicht in der Lage fühlt, mit dem Essen aufzuhören oder die Art oder Menge der verzehrten Lebensmittel zu begrenzen. |
• Unangemessene kompensatorische Verhaltensweisen, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen (z.B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder Einläufen, anstrengender Sport). |
• Gedanken über Körperform oder Gewicht, die die Selbsteinschätzung stark beeinflussen. |
• Ausgeprägter Leidensdruck in Bezug auf das Essverhalten und unangemessenes kompensatorisches Verhalten oder erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. |
• Erfüllt nicht die diagnostischen Anforderungen der Anorexia nervosa. |
Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Accessed 25.07.2024. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.
Wenn Laxanzien missbraucht werden, kann in der ICD-10 die zusätzliche Diagnose F55.1 „Schädlicher Gebrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen – Laxanzien“ und unter F55.8 der schädliche Gebrauch von Diuretika vergeben werden, wenn es durch die Einnahme zu schädlichen körperlichen Auswirkungen wie Nieren- oder Elektrolytstörungen kommt oder unnötige Ausgaben oder überflüssige Arztbesuche damit verbunden sind. In der ICD-11 gibt es ebenfalls die Diagnose „Störungen durch nichtpsychoaktive Substanzen“ die nun den Störungen durch Substanzgebrauch zugeordnet wurde. Unter dem Code 6C4H.1Z werden auch die Laxanzien erwähnt.
Essanfälle bei anderen psychischen Störungen könnten in der ICD-11 in der Kategorie MB29 („Symptome und Anzeichen, die das Essverhalten betreffen“) und dem Untercode MB29.1 („Binge eating“) verschlüsselt werden.
Binge-Eating-Störung in der ICD-11
In zahlreichen Studien konnte eine hinreichende Evidenz für die BES als eigenständige Störungskategorie nachgewiesen werden (Tab. 5). Die Definition eines Essanfalls ist mit der Definition bei der BN identisch. Im Unterschied zur BN werden jedoch keine regelmäßigen unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen ergriffen. Es besteht ein ausgeprägter Leidensdruck oder eine erhebliche Beeinträchtigung in anderen Lebensbereichen. Auch die BES kann bereits im Kindes- oder Jugendalter beginnen. Durch die Möglichkeit, auch subjektive Essanfälle für die Diagnose heranzuziehen, wird die Diagnose für Kinder besser anwendbar, da diese häufig nicht über einen ungehinderten Zugang zu großen Nahrungsmengen verfügen.
Diagnostische Kriterien der Binge-Eating-Störung in der ICD-11
• Häufige, wiederkehrende Episoden von Essanfällen gekennzeichnet (z.B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mehreren Monaten). |
• Eine Binge-Eating-Episode ist ein bestimmter Zeitraum, in dem die betroffene Person subjektiv die Kontrolle über das Essen verliert, deutlich mehr oder anders isst als gewöhnlich und sich nicht in der Lage fühlt, mit dem Essen aufzuhören oder die Art oder Menge der verzehrten Lebensmittel zu begrenzen. |
• Binge Eating wird als sehr belastend empfunden und oft von negativen Gefühlen wie Schuld oder Ekel begleitet. |
• Keine regelmäßigen unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen. |
• Ausgeprägter Leidensdruck aufgrund der Essanfälle oder eine erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. |
• Häufige, wiederkehrende Episoden von Essanfällen gekennzeichnet (z.B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mehreren Monaten). |
• Eine Binge-Eating-Episode ist ein bestimmter Zeitraum, in dem die betroffene Person subjektiv die Kontrolle über das Essen verliert, deutlich mehr oder anders isst als gewöhnlich und sich nicht in der Lage fühlt, mit dem Essen aufzuhören oder die Art oder Menge der verzehrten Lebensmittel zu begrenzen. |
• Binge Eating wird als sehr belastend empfunden und oft von negativen Gefühlen wie Schuld oder Ekel begleitet. |
• Keine regelmäßigen unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen. |
• Ausgeprägter Leidensdruck aufgrund der Essanfälle oder eine erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. |
Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Accessed 25.07.2024. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.
Die BES gilt als Risikofaktor für Gewichtszunahme, Übergewicht und Adipositas und findet sich häufiger bei Menschen mit Adipositas als bei Normalgewichtigen. Wenn eine Adipositas vorliegt, sollte diese separat diagnostiziert werden. In der ICD-11 findet man die Diagnose Adipositas unter den „Endokrinen, Ernährungs- oder Stoffwechselkrankheiten“.
Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (ARFID) in der ICD-11
Die Störung ist durch abnormes Ess- oder Fütterverhalten gekennzeichnet, das in der Aufnahme einer unzureichenden Nahrungsmenge oder Nahrungsmittelvielfalt resultiert, um einen adäquaten Energie- und Nährstoffgehalt zu decken [Kambanis und Thomas, 2023] (Tab. 6). Das extrem wählerische Essverhalten kann sich beispielsweise auf die Farbe, den Geschmack, den Geruch oder die Textur der Nahrung beziehen. Die Motivation der Nahrungsvermeidung oder -einschränkung ist dabei nur teilweise erforscht; angenommen werden insbesondere ein Desinteresse am Essen, sensorische Empfindlichkeiten, essensbezogene Ängste (z.B. Angst, zu ersticken) oder emotionale Probleme. Organische Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden.
Diagnostische Kriterien von ARFID in der ICD-11
• Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme: |
o Aufnahme einer unzureichenden Menge oder Vielfalt von Nahrungsmitteln zur Deckung eines angemessenen Energie- oder Nährstoffbedarfs, was zu einem signifikanten Gewichtsverlust, klinisch bedeutsamen Ernährungsdefiziten, zur Abhängigkeit von oralen Nahrungsergänzungsmitteln oder Sondennahrung oder zu einer anderweitigen Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit der Person geführt hat; |
oder |
o signifikante Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (z.B. aufgrund von Vermeidung oder Stress im Zusammenhang mit der Teilnahme an sozialen Erfahrungen, die mit Essen verbunden sind). |
• Nicht durch die Beschäftigung mit dem Körpergewicht oder der Körperform motiviert. |
• Nicht auf die Nichtverfügbarkeit von Nahrungsmitteln zurückzuführen, nicht Ausdruck einer anderen Erkrankung (z.B. Nahrungsmittelallergien, Schilddrüsenüberfunktion) oder einer psychischen Störung und nicht auf die Wirkung einer Substanz oder eines Medikaments auf das zentrale Nervensystem einschließlich Entzugserscheinungen zurückzuführen. |
• Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme: |
o Aufnahme einer unzureichenden Menge oder Vielfalt von Nahrungsmitteln zur Deckung eines angemessenen Energie- oder Nährstoffbedarfs, was zu einem signifikanten Gewichtsverlust, klinisch bedeutsamen Ernährungsdefiziten, zur Abhängigkeit von oralen Nahrungsergänzungsmitteln oder Sondennahrung oder zu einer anderweitigen Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit der Person geführt hat; |
oder |
o signifikante Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (z.B. aufgrund von Vermeidung oder Stress im Zusammenhang mit der Teilnahme an sozialen Erfahrungen, die mit Essen verbunden sind). |
• Nicht durch die Beschäftigung mit dem Körpergewicht oder der Körperform motiviert. |
• Nicht auf die Nichtverfügbarkeit von Nahrungsmitteln zurückzuführen, nicht Ausdruck einer anderen Erkrankung (z.B. Nahrungsmittelallergien, Schilddrüsenüberfunktion) oder einer psychischen Störung und nicht auf die Wirkung einer Substanz oder eines Medikaments auf das zentrale Nervensystem einschließlich Entzugserscheinungen zurückzuführen. |
Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Accessed 25.07.2024. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.
Die Hauptmanifestation von ARFID ist im Kindes- einschließlich Säuglingsalter. Da die diagnostischen Kriterien von ARFID kein Alterskriterium enthalten, kann ARFID in allen Altersbereichen diagnostiziert werden. Im Erwachsenenalter kann sich ARFID durch ein negatives ernährungsbedingtes Erlebnis (z.B. Ersticken oder Erbrechen) entwickeln. Im Gegensatz zu anderen Essstörungen ist ARFID relativ gleich verteilt zwischen den Geschlechtern. Bei jüngeren Kindern scheinen etwas mehr Jungen als Mädchen betroffen zu sein. Insgesamt sind Kinder und Jugendliche häufiger betroffen als Erwachsene und im Schnitt jünger als Patienten mit AN oder BN. Häufig ist die Störung im Zusammenhang mit Autismus zu beobachten.
Die Störung ist von „Mäkeligkeit“ abzugrenzen und nur zu diagnostizieren, wenn das Ausmaß deutlich außerhalb des Normbereiches liegt oder qualitativ abnorm ist oder wenn das Kind nicht zunimmt oder Gewicht verliert. Eingeschränkte Nahrungsaufnahme (u.a. basierend auf Appetitlosigkeit) kann unspezifisch im Rahmen unterschiedlicher psychischer Störungen auftreten. Eine besonders relevante differenzialdiagnostische Kategorie stellt die AN dar, bei der die Nahrungsrestriktion im Gegensatz zu ARFID allerdings hauptsächlich auf körperbildassoziierten Sorgen basiert. Da die Störung in Deutschland noch wenig bekannt ist, wird sie mitunter als AN fehldiagnostiziert.
Pica in der ICD-11
Pica („pica pica“ = Elster) ist gekennzeichnet durch den regelmäßigen Verzehr von nicht nahrhaften Stoffen wie Gegenständen und Materialien, die keine Nahrungsmittel sind (z.B. Ton, Erde, Kreide, Gips, Plastik, Metall und Papier), oder von rohen Nahrungsmittelbestandteilen (z.B. große Mengen Salz oder Maismehl), der anhaltend oder schwerwiegend genug ist, um eine klinische Behandlung bei einer Person zu erfordern, die ein Entwicklungsalter erreicht hat, in dem man erwarten würde, dass sie zwischen essbaren und nicht essbaren Stoffen unterscheiden kann (etwa 2 Jahre). Das heißt, das Verhalten verursacht gesundheitliche Schäden, Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit oder ein erhebliches Risiko aufgrund der Häufigkeit, Menge oder Art der aufgenommenen Substanzen oder Gegenstände.
Das Phänomen ist am häufigsten bei intelligenzgeminderten Kindern zu beobachten. Pica kann auch im Erwachsenenalter vorkommen und wird in der ICD-10 sogar jetzt schon unter „Sonstige Essstörungen“ (F50.8) erwähnt.
Rumination-Regurgitationsstörung in der ICD-11
Die Rumination-Regurgitationsstörung ist gekennzeichnet durch das absichtliche und wiederholte Hochwürgen von zuvor geschluckter Nahrung in den Mund (d.h. Regurgitation), die (1) erneut gekaut und geschluckt werden kann (d.h. Rumination) oder (2) absichtlich ausgespuckt wird (jedoch nicht wie beim Erbrechen) (Tab. 7).
Diagnostische Kriterien der Rumination-Regurgitationsstörung in der ICD-11
• Die Rumination-Regurgitationsstörung ist gekennzeichnet durch das absichtliche und wiederholte Hochwürgen von zuvor geschluckter Nahrung in den Mund (d.h. Regurgitation), |
o die erneut gekaut und geschluckt werden kann (d.h. Rumination) oder |
o absichtlich ausgespuckt wird (jedoch nicht wie beim Erbrechen). |
• Das Regurgitationsverhalten ist häufig (mindestens mehrmals pro Woche) und hält über einen Zeitraum von mindestens mehreren Wochen an. |
• Das Regurgitationsverhalten lässt sich nicht vollständig auf eine andere Erkrankung zurückführen, die direkt zu Regurgitation führt (z.B. Ösophagusstrikturen oder neuromuskuläre Störungen, welche die Funktion der Speiseröhre beeinträchtigen) oder Übelkeit oder Erbrechen verursacht (z.B. Pylorusstenose). |
• Die Rumination-Regurgitationsstörung sollte nur bei Personen diagnostiziert werden, die ein Entwicklungsalter von mindestens 2 Jahren erreicht haben. |
• Die Rumination-Regurgitationsstörung ist gekennzeichnet durch das absichtliche und wiederholte Hochwürgen von zuvor geschluckter Nahrung in den Mund (d.h. Regurgitation), |
o die erneut gekaut und geschluckt werden kann (d.h. Rumination) oder |
o absichtlich ausgespuckt wird (jedoch nicht wie beim Erbrechen). |
• Das Regurgitationsverhalten ist häufig (mindestens mehrmals pro Woche) und hält über einen Zeitraum von mindestens mehreren Wochen an. |
• Das Regurgitationsverhalten lässt sich nicht vollständig auf eine andere Erkrankung zurückführen, die direkt zu Regurgitation führt (z.B. Ösophagusstrikturen oder neuromuskuläre Störungen, welche die Funktion der Speiseröhre beeinträchtigen) oder Übelkeit oder Erbrechen verursacht (z.B. Pylorusstenose). |
• Die Rumination-Regurgitationsstörung sollte nur bei Personen diagnostiziert werden, die ein Entwicklungsalter von mindestens 2 Jahren erreicht haben. |
Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Accessed 25.07.2024. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.
Auch bei den Essstörungen AN und BN kann es zu Hochwürgen und Ausspucken von Nahrung kommen, um sich zusätzlicher Kalorien zu entledigen [Birmingham und Firoz, 2006]. Patientinnen bezeichnen das Hochwürgen von Nahrung häufig fälschlicherweise als Erbrechen. Wie bei ARFID und Pica ist hier auf mögliche organische Ursachen zu achten, wie gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) oder eine Pylorusstenose. In den sogenannten Rom-Kriterien, die zur differenzierten Diagnostik von funktionellen Störungen des Verdauungstraktes von Gastroenterologen entwickelt wurden, wird das Ruminations-Syndrom ebenfalls erwähnt, ein differenzierter diagnostischer Algorithmus vorgeschlagen und Therapieansätze empfohlen, die in der Regel verhaltenstherapeutische Ansätze beinhalten [Vachhani et al., 2020].
Vergleich mit dem DSM-5
Die 6 Hauptdiagnosen sowie „andere näher bezeichnete“ und“ nicht näher bezeichnete“ Essstörungen finden sich auch im DSM-5 [American Psychiatric Association, 2013], wobei die diagnostischen Kriterien nicht ganz identisch sind. Unterschiede gibt es unter anderem in den Frequenzkriterien und den „specifiern“. Bei der AN werden die Gewichtsschwellenwerte (BMI 18,5 kg/m2) im DSM-5 lediglich vorgeschlagen, eine Abweichung ist jedoch gestattet, was die Diagnose natürlich weniger reliabel macht, dem Kliniker aber mehr Möglichkeiten lässt. Für die Definition eines Essanfalls fordert das DSM-5 weiterhin eine „objektiv große“ Nahrungsmenge (wie in der ICD-10) [Forney et al., 2015], während in der ICD-11 auch „subjektiv große“ Nahrungsmengen ausreichen, solange „mehr oder anders gegessen wird als gewöhnlich“ und das Gefühl des Kontrollverlustes besteht [First et al., 2021]. Vergleichende Untersuchungen konnten zeigen, dass die Übereinstimmung zwischen den beiden Klassifikationssystemen dennoch hoch ist, allerdings mit dem DSM-5 etwas weniger Diagnosen gestellt werden [Quadflieg et al., 2023, Brytek-Matera et al., 2024]. Bei den „anderen näher bezeichneten“ Fütter- und Essstörungen listet das DSM-5 noch folgende Störungsbilder separat auf, die in der ICD-11 nicht explizit beschrieben werden:
atypische AN,
BN von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer,
BES von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer,
Purging Störung und
Night-Eating-Syndrom.
Bei der Purging Disorder handelt es sich um wiederkehrendes Purging Verhalten nach normalen Mahlzeiten und Snacks, um Gewicht oder Figur zu beeinflussen ohne Auftreten von Essanfällen oder Kontrollverlust. Das Night-Eating-Syndrom ist definiert durch wiederkehrende Episoden nächtlichen Essens 1) in Form von Essen nach dem Erwachen aus dem Schlaf oder 2) von übermäßiger Nahrungsaufnahme nach dem Abendessen. Die Personen sind sich dabei des Essens bewusst und können sich auch daran erinnern.
Die sogenannte Orthorexia nervosa, definiert als eine übertriebene Fixierung auf eine vermeintlich gesunde Ernährungsweise mit der Sorge, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden, findet sich weder im ICD- noch im DSM-System. Orthorektische Verhaltensweisen kommen nicht selten im Rahmen (oft zu Beginn) klassischer Essstörungen vor und werden aktuell nicht als eigenständige Störung gesehen [Meule und Voderholzer, 2021].
Zusammenfassung
Eine generelle Umwälzung der Diagnosestrukturen, wie bei anderen psychischen Störungen, hat bei Essstörungen nicht stattgefunden. Durch die Auflösung des eigenen Unterkapitels für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter wurde das Kapitel „Essstörungen“ zu „Fütter und Essstörungen“ umbenannt. Pica und die Rumination-Regurgitationsstörung sind gemäß dem Lebensspannenansatz in die Gruppierung der Fütter- und Essstörungen aufgenommen worden.
Als neue Diagnosen sind in der ICD-11 die BES und ARFID aufgenommen worden, die seit 2013 bereits im DSM-5 als separate Diagnosen aufscheinen. Die BES prägt längst den klinischen Alltag. In Psychotherapieanträgen, Epikrisen oder in Entlassberichten findet man die BES regelhaft, es existieren gut validierte Assessment Instrumente und Therapiemanuale.
Für die Vergabe einer AN muss keine Amenorrhö mehr vorliegen. Die atypischen Varianten der Anorexie und der Bulimie kommen in der ICD-11 nicht mehr vor. Da man keine klinischen Unterschiede bei den atypischen, „subsyndromalen“ Essstörungen im Vergleich zu den Vollbildern gefunden hat [Claudino et al., 2019], handelt es sich um eine sinnvolle Entscheidung. Zudem wird der BMI-Richtwert für die AN bei Erwachsenen auf 18,5 kg/m2 erhöht, während er im Kindes- und Jugendalter gesenkt wurde, was kritisch gesehen wird. Alternativ kann eine rasche Gewichtsabnahme in der ICD-11 als Diagnosehinweis dienen. Als Beispiel nennt die ICD-11 einen Verlust von 20% des Gesamtkörpergewichts innerhalb von sechs Monaten. Eine weitere wesentliche Veränderung ist die Möglichkeit, einen Essanfall auch auf der Basis von nur subjektiv großen Nahrungsmengen zu diagnostizieren, solange das Gefühl des Kontrollverlusts besteht.
Insgesamt gibt es einige klinisch relevante Anpassungen der bereits in der ICD-10 und im DSM-5 bekannten Essstörungsdiagnosen. In einer von der WHO durchgeführten Studie erhielten 2’288 Mental Health Professionals aus 5 Ländern Fallvignetten zu Essstörungen auf der Basis entweder von ICD-10 oder ICD-11. Die ICD-11-Fälle wurden häufiger korrekt diagnostiziert und die ICD-11-Kriterien wurden von den Teilnehmenden als klinisch brauchbarer eingestuft [Claudino et al., 2019].
Conflict of Interest Statement
Die Autorin hat keine Interessenskonflikte.
Funding Sources
Für diesen Beitrag wurden keine besonderen Zuschüsse von Förderstellen im öffentlichen, kommerziellen oder gemeinnützigen Sektor gewährt.
Author Contributions
Martina de Zwaan: Allgemeine Struktur und Verfassen des Manuskripts.