Zusammenfassung
Ziel: Die vorliegende Studie beschreibt die Evaluation eines universitären Bachelorkurses zur Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter hinsichtlich der erworbenen Fähigkeiten von Studierenden bei Anwendung eines strukturierten Interviews (Kinder-DIPS-OA). Methode: Zweiundfünfzig Psychologiestudierende nahmen an der Evaluation des Kurses teil. Die Inhalte stellten eine verkürzte Form des standardisierten Trainings zum Kinder-DIPS-OA dar. Am Ende des Kurses bestimmten wir die prozentuale Übereinstimmung der ICD-10-Diagnosen der Studierenden nach Rezeption eines Interviews auf Video mit der vorher festgelegten Diagnose der Seminarleitung. Für ein simuliertes Interview wurden Fehlerquellen und Schwächen der Studierenden in der eigenständigen Interviewdurchführung durch die Seminarleitung nach vorher festgelegten Fehlerquellen prozentual kodiert. Ergebnisse: Alle Studierenden kodierten die primäre Störung korrekt, aber 84,7% übersahen die komorbide Symptomatik. Nur 11,5% der Studierenden identifizierten die richtige Kombinationsdiagnose nach ICD-10. Die Hauptschwierigkeiten bei der Durchführung des Interviews bestanden darin, die Kriterien angemessen zu explorieren und eine klinische Bewertung auf der Grundlage der Antworten der Befragten vorzunehmen. Schlussfolge-rungen: Im Rahmen des Kurses gelang es, die Studierenden im Kinder-DIPS-OA so weit zu schulen, dass sie auf der Grund-lage eines technisch einwandfreien Interviews reliable Diagnosen stellen konnten. Allerdings traten bei der praktischen Durchführung typische Schwierigkeiten auf, die die Reliabi-lität und Validität der Diagnosen gefährdeten. Um die Stu-dierenden besser auf die klinisch-diagnostische Praxis nach dem neuen, zur Approbation führenden Master vorzuberei-ten, muss die universitäre Lehre hier nachbessern und stär-ker praxisorientierte Lehrkonzepte etablieren.
Abstract
Aim: The present study describes the evaluation of a university bachelor's course on diagnostics of mental disorders in children and adolescents with regard to the skills acquired by students using a structured interview (Kinder-DIPS-OA). Method: Fifty-two psychology students participated in the evaluation of the course. The content represented an abbreviated form of the standardized training on the Kinder-DIPS-OA. At the end of the course, we determined the percentage agreement of the ICD-10 diagnoses of the students after receiving a video interview with the previously determined diagnosis by the instructor. For a simulated interview, sources of error and weaknesses of the students in the independent conduct of the interview were coded by the instructor in percentage according to previously defined sources of error. Results: All students correctly coded the primary disorder, but 84.7% missed the comorbid symptomatology. Only 11.5% of the students identified the correct ICD-10 combined disorder. The main difficulties in conducting the interview were to adequately explore the criteria and to make a clinical assessment based on the respondent's answers. Conclusions: The course succeeded in training students in the Kinder-DIPS-OA to the point where they could make reliable diagnoses based on a technically sound interview. However, typical difficulties arose during practical implementation that compromised the reliability and validity of the diagnoses. In order to better prepare students for clinical-diagnostic practice after their new licensing master’s program, university teaching must improve here and establish more practice-oriented teaching concepts.
Keywords Mental disorders, Child and adolescent psychotherapy, Diagnostics, Structured interview, Reliability, Teaching concept
Einleitung
Um die Symptomatik von Patientinnen möglichst umfassend, systematisch und verlässlich zu erfassen, wird als „Goldstandard“ im diagnostischen Prozess der Einsatz eines strukturierten klinischen Interviewverfahrens empfohlen [Costello et al., 2005; Silverman und Ollendick, 2005]. Gerade auch bei Kindern, die z.B. noch nicht über ausreichende Schreib- und Lesefähigkeiten verfügen, um Fragebogenverfahren zu bearbeiten, kann mithilfe strukturierter Interviews dennoch direkt, entwicklungsangemessen und systematisch die kindliche Perspektive auf klinische Symptome erhoben werden [Popp et al., 2017]. Im deutschsprachigen Raum hat sich dabei insbesondere das diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS-OA) [Schneider et al., 2009, 2017] als reliables und valides Instrument bewährt [Neuschwander et al., 2013].
Obwohl strukturierte Interviews nachweislich von Kindern, Jugendlichen und ihren primären Bezugspersonen sowohl im ambulanten als auch im stationären Behandlungssetting gut akzeptiert werden [Suppiger et al., 2009; Neuschwander et al., 2017] und nachweislich zur Verbesserung der Objektivität und zur Reduktion von verzerrenden Einflüssen auf die Diagnosestellung beitragen [Margraf und Schneider, 2018], finden sie häufig dennoch nicht Eingang in die Praxisroutine [Bruchmüller et al., 2011]. In einer umfangreichen Untersuchung von Bruchmüller et al. [2011] berichteten Psychiaterinnen und Psychologinnen, warum sie auf strukturierte Interviews verzichteten: Genannt wurde, dass diese Verfahren bei der Durchführung, aber auch beim Erlernen, viel Zeit beanspruchen, zu mechanisch und unflexibel seien oder aber, dass das eigene klinische Urteil als hilfreicher eingeschätzt werde [Bruchmüller et al., 2011].
Wenngleich diese Hindernisse durchaus in der Vergangenheit zum Teil bestanden, sind aktuelle strukturierte Interviews, wie etwa das Diagnostische Interview bei Psychischen Störungen (DIPS-OA) in seiner Fassung zur Diagnostik von Kindern und Jugendlichen als auch von Erwachsenen geeignet, die Reliabilität und Validität klinischer Diagnosen sicherzustellen und gegenüber einem unstrukturierten Vorgehen entscheidend zu verbessern [Dolle et al., 2012; Margraf et al., 2017]. Die universitäre Lehre hat dementsprechend die Aufgabe, an der Dissemination solcher Verfahren mitzuwirken. Zum einen sollen Studierende an diese Verfahren herangeführt werden und die wissenschaftlich erwiesenen Vorteile kennenlernen. Zum anderen soll bereits in der universitären Ausbildung der Grundstein für die praktische Anwendung strukturierter Interviews gelegt werden. Dies erscheint umso relevanter, da seit der aktuellen Reform der Studiengänge nun nach Abschluss des Psychotherapiestudiums unmittelbar die staatliche Prüfung zur Erteilung der Approbation erfolgen wird, die dann wiederum zur eigenständigen Patienteninnenbehandlung ermächtigt. Für eine adäquate und evidenzbasierte Behandlung ist die Indikationsstellung das Fundament, so dass der Ausbildung zur Durchführung, Auswertung und Interpretation strukturierter Interviews hier eine zentrale Rolle zukommt.
Aus unserer Sicht müssen entsprechend bereits im Studium die Kernkompetenzen zur fachlich sauberen Anwendung klinisch strukturierter Interviews vermittelt werden, wie im Handbuch des Kinder-DIPS für DSM-IV-TR [Schneider et al., 2009] beschrieben. Hierfür ist eine ausführliche und intensive Schulung notwendig, die wir im Folgenden kurz hier skizzieren wollen.
•Einarbeitung. Zunächst sollten sich Trainees eigenständig anhand des Handbuchs und der Interviewleitfäden sowie unter Bezugnahme auf ICD-10 bzw. DSM-5 Diagnosekriterien ins Kinder-DIPS-OA einarbeiten. Es wird ferner die Durchführung von mindestens einem Probeinterview angeregt, um frühzeitig einen Bezug zur praktischen Durchführung herzustellen und mögliche Herausforderungen bei der Durchführung aufzuzeigen.
•Beobachtungsphase. Mindestens zwei Kinder-DIPS-OA-Interviews, die von einer trainierten Interviewerin durchgeführt werden, sollen beobachtet werden. Die Aufgabe des Trainees ist hierbei, eine unabhängige Kodierung vorzunehmen und anschließend die Interviewtechnik, die klinischen Einschätzungen und Diagnosen zu diskutieren.
•Übungsphase. Die Durchführung von drei Interviews im Beisein einer erfahrenen Kinder-DIPS-Trainerin ist hier vorgesehen. Der Trainee führt die Interviews durch und die Trainerin stellt Zusatzfragen, falls dies notwendig ist, um zu einer reliablen und validen Diagnose, Differentialdiagnose oder Abklärung zu gelangen. Ziel dieser Übungsphase ist, das Kinder-DIPS-OA eigenständig durchführen zu können.
•Abschluss-/Zertifizierungsphase. Abgeschlossen wird das Training durch mindestens fünf Interviews, die entweder im Beisein einer zertifizierten Interviewerin durchgeführt werden oder alternativ videografiert und von einer zertifizierten Interviewerin gegenkodiert werden. In drei der fünf Interviews muss die Gegenkodierung durch die zertifizierte Trainerin hinsicht-lich der aktuellen und früheren Diagnosen und dem Schweregrad der Störung mit der Trainee-Beurteilung übereinstimmen. Zudem dürfen bei der Durchführung aller Interviews keine administrativen Fehler begangen werden.
Eine 1:1 Umsetzung dieses Schulungsplans in eine universitäre Lehrveranstaltung ist angesichts beschränkter Ressourcen schwer vorstellbar, so dass hier neue Lehrkonzepte entwickelt, mit Studierenden umgesetzt und bezüglich des erreichten Kompetenzerwerbs evaluiert werden müssen.
Insofern ist das Ziel der vorliegenden Studie zu prüfen, inwieweit ein auf universitäre Rahmenbedingungen (1-semestriger Kurs mit nicht mehr als 14 doppelstündigen Sitzungen und nicht mehr als 30 Stunden Nachbereitungszeit) angepasstes Schulungskonzept Studierende dazu ermächtigt, ein Kinder-DIPS-OA korrekt durchzuführen und auszuwerten. Daraus abgeleitet ergeben sich für das vorliegende Seminarkonzept zwei Kernfragen respektive zwei Aufgaben für die Studierenden:
1.Gegenkodierung. Inwieweit stimmen Studierende in ihrer diagnostischen Einschätzung nach Durchführung des Kinder-DIPS-OA mit erfahrenen Psychotherapeutinnen überein – kodieren Studierende nach dem Seminar korrekt?
2.Interview-Durchführung. Welche Fehlerquellen treten bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA durch Studierende auf – können Studierende nach dem Seminar selbstständig ein Interview durchführen?
Methodik
Stichprobe
Insgesamt nahmen 52 Studierende des Bachelor-Studiengangs Psychologie der Philipps-Universität Marburg an der Studie teil, die zuvor zwei Vorlesungen „Einführung in die Kinder- und Jugendlichenpsychologie“ belegt und hierzu eine Prüfung erfolgreich abgeschlossen hatten. Das Seminar im Umfang von zwei Semesterwochenstunden (2 LP ECTS) wurde im Sommersemester 2020 von einer approbierten psychologischen Psychotherapeutin mit Zusatzqualifikation für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie geleitet und von zwei studentischen Tutorinnen unterstützt.
Seminar- und Untersuchungsablauf
Aufgrund der Covid-19-Pandemie nutzte das Seminar überwiegend Videokonferenzen sowie Hausaufgaben mit individualisierten Rückmeldungen durch die Seminarleitung als Lehrmethoden. Die Veranstaltung bestand aus 12 Sitzungen, die sich in drei große thematische Blöcke fassen lassen (siehe Abb 1).
Seminar- und Untersuchungsablauf. Diese Abbildung zeigt die einzelnen Teile des untersuchten Seminars und der Studie selbst. Zunächst wurde die Interrater-Reliabilität der zugrunde liegenden Diagnose des dritten Videobeispiels mit den Einschätzungen der Studierenden prozentual bestimmt, um eine Aussage über die Güte der studentischen Diagnoseentscheidungen treffen zu können. Im zweiten Untersuchungsteil wurden Durchführungsfehler der Studierenden bei der eigenen Anwendung des Kinder-DIPS-OA dokumentiert.
Seminar- und Untersuchungsablauf. Diese Abbildung zeigt die einzelnen Teile des untersuchten Seminars und der Studie selbst. Zunächst wurde die Interrater-Reliabilität der zugrunde liegenden Diagnose des dritten Videobeispiels mit den Einschätzungen der Studierenden prozentual bestimmt, um eine Aussage über die Güte der studentischen Diagnoseentscheidungen treffen zu können. Im zweiten Untersuchungsteil wurden Durchführungsfehler der Studierenden bei der eigenen Anwendung des Kinder-DIPS-OA dokumentiert.
1.Einführung in die klinische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter und Vertrautmachen mit dem Kinder-DIPS-OA (drei Webkonferenzen synchron, eine Lerneinheit Selbststudium)
•Bei der Seminareinführung wurden die Konzeption und die Inhalte des Seminars innerhalb einer Web-Konferenz vorgestellt. Hierfür wurden den Studierenden Grundlagen der testpsychologischen Diagnostik sowie relevante entwicklungspsychologische und klinisch-psychologische Zusammenhänge im Kindes- und Jugendalter vermittelt sowie die Prinzipien, Vorteile und Nachteile kategorialer Diagnostik wiederholt. Weiterhin wurde der organisatorische Rahmen der Seminardurchführung und Leistungserbringung erläutert.
•Mit einer online-gestützten Einführung in das Multiaxiale Klassifikationsschema nach ICD-10 [Remschmidt et al., 2017] erlernten die Studierenden im zweiten Schritt die Einordnung psychopathologischer Symptome in ein wissenschaftlich anerkanntes Klassifikationssystem. Zu diesem Zwecke wurden u.a. Übungen zum Kodieren von Fallbeispielen nach ICD-10 durchgeführt, die Richtlinien und Entscheidungsprozesse diskutiert und die Studierenden erhielten eine individuelle Rückmeldung durch die Seminarleitung zu ihren Kodierungen in einer abschließenden Übung.
•Im dritten Termin wurden dann mittels Videokonferenz die methodischen Grundlagen von strukturierten Interviews und des Interviewerinnenverhaltens (wünschenswertes Verhalten, typische Fehler) eingeführt.
•Um die Studierenden mit dem Kinder-DIPS-OA vertraut zu machen, waren die Seminarteilnehmenden angehalten, sich zunächst im Selbststudium in die Durchführung und Auswertung des Interviews einzuarbeiten. Hierzu wurden zugrunde liegende Materialien, wie das Manual, der Interviewleitfaden sowie der Protokollbogen des Kinder-DIPS-OA eingeführt.
2.Praktisches Training: Beobachtungs- und Erprobungsphase (drei Sitzungen und drei Hausaufgaben mit individualisierter Rückmeldung)
•Als Einstieg in das praktische Training wurde zunächst eine Beobachtungsphase realisiert. In Form einer Hausaufgabe kodierten die Studierenden ein bezüglich des Interviewerinnenverhaltens kommentiertes Beispielvideo einer Kinder-DIPS-OA-Interviewsequenz und reichten im Anschluss ihre Kodierungen, Überlegungen zu Diagnose und Differentialdiagnose dieses Fallbeispiels sowie aufgekommene Fragen auf Lehr- und Lernplattform der Philipps-Universität Marburg ein. Alle Studierenden erhielten eine individualisierte Rückmeldung durch die Seminarleiterin zu ihren Einreichungen. In einer gemeinsamen Online-Fallkonferenz wurden die gestellten Diagnosen, aufgetretene Fehler und assoziierte Schwierigkeiten bei der klinischen Bewertung von Symptomen, das Verständnis der einzelnen Kriterien und das Verhalten der Interviewerinnen mit den Studierenden kritisch reflektiert. Es folgten zwei weitere Sitzungen, die analog gestaltet waren und neben kurzen Livedemonstrationen auch zwei kurze Rollenspielsequenzen zur Erprobung der Interviewerinnenrolle enthielten.
Bei den von den Studierenden untersuchten Videobeispielen handelte es sich um reale Fälle von Patientinnen respektive deren Eltern der Hochschulambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Marburg, die ihr Einverständnis zur Nutzung der Videoaufzeichnungen zum Zwecke von Forschung und Lehre erteilt hatten. In allen drei Fällen wurden die Interviewten in den Videos vor der Sichtung durch die Studierenden visuell und akustisch unkenntlich gemacht. Nähere Angaben zu den betroffenen Personen wurden verfremdet, so dass keine Rückschlüsse auf die Identität der Interviewten getroffen werden konnten.
3.Schauspielinterview: Erprobung unter Simulationsbedingungen und individualisiertes Feedback (eine Sitzung Rollenspiel, eine Sitzung Rückmeldung)
•Für die letzte Übung des Seminars vereinbarten die Studierenden einen Online-Einzeltermin mit einer seminarbetreuenden Tutorin oder der Seminarleiterin. Der ca. 60-minütige Termin beinhaltete die aktive Durchführung (1) einer manualgetreuen Einführung in das Kinder-DIPS-OA sowie (2) die Erhebung der ersten drei Sektionen des Kinder-DIPS-OA in der Elternversion mit einer Schauspielpatientin (Tutorin oder Seminarleiterin). Bei den Schauspielsequenzen orientierten sich alle Schauspielpatientinnen an einer zuvor geskripteten Fallvignette (Elterninterview, 8-jähriger Junge, Diagnose nach ICD-10: F90.1). Als letzter Schritt erfolgte (3) die individuelle Auswertung der durchgeführten Interview-Sequenz durch die Studierenden. Sowohl Auswertungsbögen als auch Protokollblätter wurden eingereicht.
•Zur Reflektion und Nachbereitung der Übung mit den Schauspielpatientinnen wurden in Einzelgesprächen die vergebenen Diagnosen, das Interviewverhalten sowie Schwierigkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten mit den Studierenden besprochen. Um die Rückmeldungen vergleichbar zu halten, wurden diese ebenfalls durch die Seminarleitung gegeben.
Zentral für die vorliegende Studie sind die kodierten Diagnosen des dritten Videobeispiels. Anhand dieser Daten soll überprüft werden, wie hoch die prozentuale Übereinstimmung mit der gesicherten Diagnose (Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, nach ICD-10: F92.8) ist. Die Aufgabe der Studierenden war an dieser Stelle zweiteilig: zunächst sollten die zugrunde liegenden Störungen (1. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten, F91.3; 2. Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters, F93.0) mit dem Protokollheft des Kinder-DIPS-OA korrekt identifiziert werden und danach mit der richtigen Nomenklatur nach ICD-10 benannt werden (Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, F92.8). Die Regelung zur Vergabe von Kombinationsdiagnosen bei gleichzeitigem Vorliegen bestimmter Störungen wurde zuvor im Seminar besprochen (2. Sitzung: Einführung in das Multiaxiale Klassifikationsschema nach ICD-10) und im Verlauf auch noch einmal im Forum der seminarbegleitenden Online-Plattform thematisiert.
Die Schwierigkeit bei der Diagnosefeststellung nach Rezeption des dritten Videofallbeispiels lag darin, dass die obligatorische Information zur Erfüllung des Alterskriteriums einer emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (Beginn der Symptomatik vor dem 6. Lebensjahr) in einer anderen Interviewsektion als der Sektion „Störung mit Trennungsangst“ glaubhaft, sicher und nachvollziehbar gegeben bzw. bestätigt wurde. Die Altersangabe in der Sektion „Störung mit Trennungsangst“ hingegen blieb dagegen unpräzise, was jedoch aufgrund der zuvor gegebenen Informationsgrundlage vernachlässigbar war. Aufgrund dessen wurde das Interview im Videobeispiel weitergeführt bzw. die Sektion „Störung mit Trennungsangst“ nicht abgebrochen, so dass in der Folge alle anderen Kriterien einer emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters durch die Angaben der Interviewten erfüllt wurden. Inhaltlich wird hier die Evaluation der Kompetenz, ein lege artis durchgeführtes Interview korrekt einzuschätzen, geprüft.
Um des Weiteren die erworbene Kompetenz, ein Interview aktiv selbst angemessen durchzuführen, zu prüfen, wurden die Diagnosestellungen aus den selbstgeführten Schauspielinterviews herangezogen. Auch diese wurden hinsichtlich der Übereinstimmung mit der gesicherten Diagnose der Fallvignette bewertet als auch potenzielle Fehlerquellen bei der praktischen Durchführung identifiziert. Bei der zugrunde liegenden Fallvignette handelte es sich um einen 8-jährigen Jungen mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (nach DSM-5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Mischtypus) und Störung mit oppositionellem Trotzverhalten; nach ICD-10 eine Kombination aus F90.0 und F91.3, also dort F90.1). Auch hier wurde zum einen die Übereinstimmung mit der gesicherten Diagnose des geskripteten Falls ermittelt und zum anderen die Fehler bei der praktischen Umsetzung des Interviews kodiert (Checkliste zur Fehleranalyse [Schneider et al., 2009]). Dies liefert wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung des Lehrkonzepts.
Statistische Auswertung
Zur Veranschaulichung der Übereinstimmung zwischen den gestellten Diagnosen der Studierenden und der zugrunde liegenden gesicherten Diagnose, wurde die prozentuale Übereinstimmung berechnet. Jedes Schauspielinterview wurde durch die Dozentin gesichtet und in Anlehnung an die definierten Fehlerquellen [Schneider et al., 2009] bezüglich Durchführungs- und Auswertungsfehlern kodiert. Die Auswertung dieser Daten erfolgte deskriptiv über die absoluten und relativen Häufigkeiten der Fehlerkategorien. Alle durchgeführten Berechnungen und Analysen wurden mithilfe der Statistik- und Analysesoftware IBM SPSS Statistics 27 sowie mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Microsoft Excel 2019 vorgenommen.
Ergebnisse
Gegenkodierung: Übereinstimmung der Kodierungen
Zunächst wurde die Interrater-Reliabilität der zugrunde liegenden Diagnose des dritten Videobeispiels mit den Einschätzungen der Studierenden prozentual bestimmt, um eine Aussage über die Güte der studentischen Diagnoseentscheidungen treffen zu können.
Die Studierenden stellten dabei nach Abschluss des Kurses in allen Fällen als Primärdiagnose eine übergeordnete Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten fest, diagnostizierten jedoch in der Mehrzahl keine gleichwertig vorliegende emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters. So vergaben nur 11,5% (n = 6) der Studierenden die vollständig korrekte Primärdiagnose kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (nach ICD-10: F92.8; siehe Abb 2a), wohingegen immerhin 88,5% (n = 48) der Studierenden die teilweise korrekte Primärdiagnose Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (nach ICD-10: F91.3) vergaben. Von diesen vergaben 3,8% (n = 2) als Sekundärdiagnose die zusätzlich vorhandene emotionale Störung des Kindesalters mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0; Abb 2b), vernachlässigten dabei jedoch die nach ICD-10 definierte Regel, dass bei gleichzeitigem Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens und einer emotionalen Störung der kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen der Vorrang gegeben werden muss. Eine weitere Studierende vergab die vollständig korrekte F92.8 als Verdachtsdiagnose und weitere 8 Studierende vergaben die teilweise korrekte F93.0 ebenfalls als Verdachtsdiagnose (Abb 2c). Darüber hinaus wurden allerdings in 7 Fällen (insgesamt 13,4%) nicht zutreffende Sekundär- oder Verdachtsdiagnosen aus dem Bereich der Emotionalen Störungen des Kindesalters (F93.x) vergeben.
Übereinstimmung der Kodierungen. Diese Abbildung zeigt die gestellten Primär-, Sekundär- und Verdachtsdiagnosen nach der studentischen Kodierung des dritten Videobeispiels. Dabei wurde in jedem Fall die primäre Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens erkannt (a, dargestellt in grün), wobei allerdings nur in 11,5% der Fälle die vollständig korrekte Primärdiagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (nach ICD-10: F92.8, dargestellt in dunkelgrün, rechte Spalte) vergeben wurde. In allen weiteren Fällen (d.h. in 88,5%, linke Spalte) wurde die teilweise korrekte Primärdiagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (nach ICD-10: F91.3) vergeben, wobei die ebenfalls komorbid vorliegende emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (nach ICD-10: F93.0, hellgrün) in 3,8% als Sekundärdiagnose (b) und in weiteren 15,4% als Verdachtsdiagnose (c) vergeben wurde, aber nicht gemäß ICD-10 als F92.8 kodiert wurde.
Übereinstimmung der Kodierungen. Diese Abbildung zeigt die gestellten Primär-, Sekundär- und Verdachtsdiagnosen nach der studentischen Kodierung des dritten Videobeispiels. Dabei wurde in jedem Fall die primäre Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens erkannt (a, dargestellt in grün), wobei allerdings nur in 11,5% der Fälle die vollständig korrekte Primärdiagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (nach ICD-10: F92.8, dargestellt in dunkelgrün, rechte Spalte) vergeben wurde. In allen weiteren Fällen (d.h. in 88,5%, linke Spalte) wurde die teilweise korrekte Primärdiagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (nach ICD-10: F91.3) vergeben, wobei die ebenfalls komorbid vorliegende emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (nach ICD-10: F93.0, hellgrün) in 3,8% als Sekundärdiagnose (b) und in weiteren 15,4% als Verdachtsdiagnose (c) vergeben wurde, aber nicht gemäß ICD-10 als F92.8 kodiert wurde.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die Studierenden die tatsächlich vorhandene Störung des Sozialverhaltens mit hoher Zuverlässigkeit richtig erkannt haben, wohingegen allerdings nur etwa ein Drittel der Teilnehmerinnen die komorbid vorliegende emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (teilweise nur als Verdachtsdiagnose) erkannten. Die korrekte Kodierung als F92.8 gelang dabei nur etwa jeder achten Teilnehmerin.
Interview-Durchführung: Analyse des Interviewerinnenverhaltens
Folgende Anwendungsfehler der Studierenden traten bei eigenständiger Durchführung des Kinder-DIPS-OA nach Schneider et al. [2009] auf (siehe Abb 3):
Fehler bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA. Es traten gemäß der Nomenklatur von Schneider et al. [2009] eine Reihe von Durchführungsfehlern auf. Die gravierendsten Probleme bestanden darin, dass in deutlichem Ausmaß ungenügende Folgefragen gestellt wurden und klinische Einschätzungen fehlten.
Fehler bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA. Es traten gemäß der Nomenklatur von Schneider et al. [2009] eine Reihe von Durchführungsfehlern auf. Die gravierendsten Probleme bestanden darin, dass in deutlichem Ausmaß ungenügende Folgefragen gestellt wurden und klinische Einschätzungen fehlten.
1.Unzureichende Einführung in das Interview: In 36,5% (n = 19) der Fälle führten die Studierenden nur unzureichend in das Interview ein und verzichteten so mit-unter auf Erklärungen und Anleitungen über Sinn, Zweck und Ablauf des Interviews.
2.Vorzeitiges Verlassen einer Störungssektion: 3,8% (n = 2) hielten sich nicht an den zugrunde liegenden Interviewalgorithmus.
3.Abweichung von den standardisierten Fragen: Nur 1,9% (n = 1) der Studierenden wichen deutlich von den festgelegten Fragen ab, 13,5% (n = 7) taten dies teilweise.
4.Ungenügende Folgefragen zur Klärung der Diagnose: 26,9% (n = 14) der Studierenden stellten ungenügende und 36,5% (n = 19) teilweise ungenügende Nachfragen, die zur korrekten diagnostischen Einschätzung notwendig gewesen wären.
5.Fehlende klinische Einschätzung: 25% (n = 13) ließen keine eigene klinische Einschätzung und 36,5% (n = 19) nur teilweise ihre klinische Einschätzung in das Interview einfließen, sondern übernahmen stattdessen die Einschätzung der Interviewten selbst.
6.Exzessives, unnötiges Befragen: Nur eine Studierende (1,9%) fiel in dieser Kategorie klar auf; allerdings stellten weitere 7,7% (n = 4) der Studierenden teilweise unnötige über das Protokoll hinausgehende Fragen.
7.Nichtbeachtung von Sprungregeln oder Instruktionen: 3,8% (n = 2) der Studierenden beachteten bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA die vorgegebenen Sprungregeln zum vordefinierten Abbruch einer Störungssektion oder andere Instruktionen gar nicht; bei 23,1% (n = 12) war dies teilweise der Fall.
An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die überwiegende Mehrheit (94,2%, n = 49) trotz der identifizierten Fehlerquellen die zugrunde liegende Störung des Schauspielinterviews nach ICD-10 (F90.1, Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens) korrekt feststellte.
Darüber hinaus wurden weitere Aspekte der allgemeinen Interviewdurchführung protokolliert. Im Ganzen zeigten 32 Interviewdurchführungen (61,5%) positive Durchführungskriterien (Umgang mit Nachfragen, Umgang mit sehr redseligen Interviewten, etc.), wohingegen in 20 Fällen (38,5%) negative allgemeine Aspekte regis-triert wurden. Diese umfassten (a) mangelhafte Gesprächsführung v.a. in Bezug auf die Begrenzung von der Interviewten (25%, n = 13), (b) Vorgabe einer numerischen Ratingskala anstelle einer verbalen Verortung (7,7%, n = 4); und (c) falsche Erläuterungen bei Nachfragen zu spezifischen Symptomen („was meinen Sie genau mit…“; 5,8%, n = 3).
Diskussion
In Anlehnung an die in der Einleitung vorgestellten Kernfragen bzw. Seminaraufgaben der Studierenden ergeben sich zwei Diskussionspunkte.
1. Diagnostische Übereinstimmung nach Sichtung des dritten Videofallbeispiels
Ausgehend von der Annahme, dass strukturierte klinische Interviews in erster Linie dazu dienen, psychopathologische Symptome festzustellen, zu kategorisieren und zu klassifizieren, konnte ein weitgehend zufriedenstellendes Übereinstimmungsergebnis der studentischen Diagnosen mit der Diagnose der erfahrenen Psychotherapeutin (M.-L.C.) festgestellt werden. So gelang allen teilnehmenden Studierenden die korrekte Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens. Es gab allerdings größere Schwierigkeiten, die Symptome einer komorbid vorliegenden emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters zu erkennen (dies gelang insgesamt nur jeder dritten Studierenden), wobei eine weitere Schwierigkeit darin bestand, die korrekte Diagnose nach entsprechender Nomenklatur der ICD-10 als kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) zu kodieren. Zwar wurde die klassifikatorische Regel zur Vergabe von Kombinationsdiagnosen nach ICD-10 im Verlauf des Seminars besprochen, so dass die Beachtung der korrekten Nomenklatur von den Studierenden erwartbar war. Dennoch ist für die Diskussion der vorliegenden Ergebnisse in erster Linie die korrekte Identifikation der beiden, zunächst separat festzustellenden, Störungsbilder von Relevanz. Dies liegt darin begründet, dass die Vergabe von Kombinationsdiagnosen nach ICD-10 kritisch gesehen werden kann, da entsprechende Diagnosen keinerlei Informationsmehrwert besitzen als die separate Vergabe von komorbiden Störungen und noch dazu keinen Rückschluss auf die Hierarchisierung der Störungen bezüglich des Gesamtstörungsbildes zulassen. Demnach kann diskutiert werden, ob mit Feststellung der beiden Störungen bereits eine exakte Übereinstimmung mit der approbierten Therapeutin hergestellt wurde. Weiterhin muss an dieser Stelle kritisch erwähnt werden, dass das im Interview u.a. zu identifizierende Alterskriterium, nach dem eine emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters nach ICD-10 klassifiziert wird, mit Einführung der ICD-11 wegfällt.
Sicherlich ist diese hohe Treffsicherheit beim korrekten Erkennen der vorliegenden Syndrome auch dem klaren und gut nachvollziehbaren Interviewablauf und der für Durchführung und Auswertung leicht zu handhabenden Struktur des Kinder-DIPS-OA geschuldet, so dass dieses positive Ergebnis unter weitgehend idealen Bedingungen zustande gekommen ist. Allerdings bestand für die Teilnehmerinnen bei der Kodierung des Materials die besondere Herausforderung, dem Verlauf des Interviews sehr aufmerksam folgen zu müssen, um die notwendigen diagnoserelevanten Informationen zu sammeln, da mitunter wichtige störungsbezogene Aspekte von den Interviewten in Interviewabschnitten genannt wurden, die nicht direkt dem zu diagnostizierenden Störungsbild zuzuordnen waren. So wurde beispielsweise die relevante Information zum Beginn trennungsängstlicher Symptome nicht in der Interviewsektion zur „Störung mit Trennungsangst“ berichtet, sondern vorher in der Kategorie zur Störung mit oppositionellem Trotzverhalten. Eine entsprechende Identifizierung dieser essenziellen Informationsgrundlage erfordert fortgeschrittene Expertise mit dem Interview und den zugrunde liegenden Klassifikationssystemen sowie Erfahrung in der kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Praxis. Es kann kaum davon ausgegangen werden, dass Studierende, die erst kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss stehen, diese Expertise bereits besitzen. Auch Neuschwander et al. [2013] stellten in ihrer Studie fest, dass hauptsächlich Auswertungsfehler im Sinne der falschen Anwendung des zugrunde liegenden Klassifikationssystems und die fehlerhafte Berücksichtigung differentialdiagnostischer Aspekte die Güte der Diagnosen am stärksten beeinflussten.
Anhand der vorliegenden Befunde kann unterstrichen werden, dass eine erhöhte Sensitivität gegenüber dem Vorliegen komorbider oder koexistierender Störungen und gegebenenfalls den Besonderheiten bei der Kodierung gemäß ICD-10 angebracht ist. Dies stellt sicherlich eine besondere Herausforderung im diagnostischen Prozess im Allgemeinen und bei der Anwendung des Kinder-DIPS-OA im Besonderen dar und sollte bei der Vermittlung des Kinder-DIPS-OA entsprechend anhand von Fallbeispielen herausgearbeitet werden.
Allerdings muss zusätzlich darauf hingewiesen werden, dass es bei der vorliegenden ersten Fragestellung der Untersuchung lediglich um die Kodierung einer in Videoaufzeichung vorliegenden Interviewsequenz, also lediglich um einen artifiziell isolierten Aspekt der Interview-durchführung ging. Die Fragen selbstständig zu stellen, die Antworten der Interviewpartnerinnen klinisch zu beurteilen und zu kodieren sowie den Sprungregeln zu folgen stellt weitere Herausforderungen und möglicherweise eine Überforderung von Novizinnen dar. Dementsprechend bleibt fraglich, ob es einen Königsweg abseits der praktischen Tätigkeit gibt, auf dem Studierende über das hier gezeigte Niveau hinaus, auch in Bezug auf diagnostische Kenntnisse, Verbesserungen erzielen können.
2. Identifizierte Fehlerquellen bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA anhand der Übung zur eigenständigen Interviewdurchführung
Die gute Handhabbarkeit des Kinder-DIPS-OA ist gewiss ein zentraler Aspekt bei der Verbesserung des diagnostischen Prozesses, der bei der eigenständigen Interview-durchführung durch die Studierenden zum Tragen kam. Hierbei vermieden fast alle das vorzeitige Verlassen einer Störungssektion und mindestens vier von fünf Studierenden wichen nicht von den vorgegebenen, standardisierten Interviewfragen ab.
Dennoch lassen sich Anwendungsfehler der Studierenden beobachten, die sich vermutlich aus mangelnder Erfahrung und Praxis ergeben. So zeigten jeweils über die Hälfte der Studierenden mindestens teilweise ungenügende Folgefragen und kaum eigene klinische Einschätzungen respektive Urteile. Ein weiterer Aspekt, der vermutlich auf Unerfahrenheit zurückzuführen ist, bestand darin, dass intervieweigene Sprungregeln und Instruktionen in mindestens einem Viertel der Fälle unzureichend beachtet wurden. In diesem etwas „sensitiveren“ Vorgehen mag sich die Unsicherheit ausdrücken, keinesfalls zu früh eine Störungskategorie des Kinder-DIPS-OA abzubrechen und damit vermeintlich diagnoserelevante Informationen zu übersehen. Demgegenüber könnten erfahrenere Praktikerinnen stärker als Anfängerinnen in der Lage sein, „mental shortcuts“ in ihre diagnostische Bewertung einfließen zu lassen [Croskerry, 2009], um damit überflüssige Interviewabschnitte überspringen zu können.
Daneben unterließ die Mehrheit der Studierenden ein unnötiges, redundantes Befragen der Interviewten bei bereits geklärten Sachverhalten, was wiederum ebenfalls als eine Stärke des Kinder-DIPS-OA und der hier gezeigten manualkonformen Durchführung gewertet werden kann.
Einschränkungen
Zur Steigerung der Aussagekraft der Studie wäre eine Baseline-Erhebung bezüglich des diagnostischen Vorwissens der Studierenden vor dem Seminar interessant gewesen. Leider musste aufgrund des ohnehin erhöhten organisatorischen Aufwandes des zugrunde liegenden Seminars darauf verzichtet werden. Andernfalls hätte zum Ende des Seminars eine erneute Erhebung einen Vergleich der diagnostischen Wissensbestände vor und nach dem Seminar ermöglicht. Die Seminarkonzeption musste durch die Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Lockdown spontan und flexibel für das Sommersemester 2020 angepasst werden. Wegen dieses organisatorischen Aufwandes wurde deshalb auch auf eine standardisierte, nachfolgende Lehrevaluation durch die Studierenden verzichtet, was eine Seminarevaluation abgesehen vom studentischen Kompetenzniveau nicht erlaubte. Zur fortlaufenden Verbesserung des Seminars sollte dieser Punkt in kommenden Veranstaltungen berücksichtigt werden.
Um die Anonymität der Patientinnen und deren Eltern zu wahren, wurden in den zu sichtenden und zu kodierenden Videos die Interviewten visuell unkenntlich und akustisch verzerrt dargeboten, so dass nonverbale Informationen wie Mimik oder auch Tonfall oder Ähnliches so nur sehr eingeschränkt in die Kodierung der Studierenden einfließen konnten, was wiederum Einfluss auf die diagnostische Einschätzung und damit die Interrater-Reliabilität (prozentuale Übereinstimmung) gehabt haben könnte. Dieser Aspekt ist insbesondere für das untersuchte dritte Videobeispiel von Relevanz, da die entscheidende Information für die zugrunde liegende Diagnose beiläufig von der interviewten Person genannt wurde und die bewusste Wahrnehmung dieser beiläufigen Notiz durch die Form der veränderten audiovisuellen Darbietung erschwert worden sein könnte. An dieser Stelle könnten aufgenommene, realitätsnahe Schauspielinterviews Abhilfe leisten, die keiner Anonymisierung bedürfen, allerdings auch deutlich kostenintensiver sind.
Ebenso waren die Studierenden mit durchaus komplexeren Fällen bei der Interviewkodierung betraut. Hierbei galt es u.a. verschiedene psychopathologische Symptome differenzialdiagnostisch zu begutachten und Komorbiditäten festzustellen bzw. auszuschließen. Dies kann bei den Studierenden zu Überforderung beigetragen haben. Um dem Ziel einer Einführung in die Klassifikation sowie die Erhebung psychischer Störungen gerecht zu werden, würde es unter Umständen reichen, den verhältnismäßig unerfahrenen Studierenden (Bachelor-Studiengang) weniger komplexe Beispiele zur Kodierung vorzulegen, um damit die Erfolgserlebnisse zu erhöhen.
Anders als in der Konstruktion des Kinder-DIPS-OA vorgesehen, erhoben die Studierenden bei eigenständiger Durchführung des Interviews lediglich die ersten drei Störungssektionen, so dass Aussagen zu Reliabilität und Fehlern bei der Durchführung darauf und auf die entsprechend eingeschränkte Interviewdauer beschränkt bleiben müssen. Inwieweit weitere Sektionen andere spezifische Herausforderungen und Fehlerquellen beinhalten, muss daher ebenso offenbleiben, wie die wichtige Abschätzung, ob im fortschreitenden Interviewverlauf weitere Fehlerquellen auftreten und ob beispielsweise adäquat auf Ermüdung reagiert wurde. Weiterhin interviewten die Studierenden insgesamt drei verschiedene Interviewpartnerinnen, was ebenfalls die Durchführung und damit die Interrater-Reliabilität (prozentuale Übereinstimmung) beeinflusst haben könnte.
Neben diesen die Seminardidaktik betreffenden Aspekten, können noch die durch die Covid-19-Pandemie verursachten Beschränkungen der Veranstaltung einen Einfluss gehabt haben. So mussten die als Präsenztermine im Plenum gedachten Sitzungen als Onlinevideokonferenzen angeboten werden. Diese Form erschwert die Vermittlung praktischer Kompetenzen, die sich im Feld der klinischen Psychologie aber vor allem in der direkten, zwischenmenschlichen Interaktion entwickeln. Insofern kann der Kontext des Seminars beispielsweise nicht eins zu eins mit realitätskonformen Rollenspielen verglichen werden – eine Herausforderung, die generell bei „blended learning“ Formaten, also Lernformen, die die Kombination unterschiedlicher Lehrmethoden (u.a. Verzahnung von Präsenzlehre mit E-Learning sowie extrinsischer Vermittlung mit Selbstlernen) vorsehen, zu berücksichtigen ist. Vor dem Hintergrund der zufriedenstellenden Ergebnisse bleibt deshalb offen, welche Lehrform zu den guten Lernergebnissen besonders beigetragen haben könnte. Allerdings kann angemerkt werden, dass das in der aktuellen Studie beschriebene „blended learning“ Format offensichtlich eine vielversprechende, kostengünstige Veranstaltungsalternative sein kann, die im Vorfeld kostenintensiverer Schulungseinheiten mit Schauspielpatientinnen sinnvoll erscheint.
Schlussfolgerung
Anknüpfend an die noch offene Frage der vorherigen Studie [Weber et al., 2020], welche Fehlerquellen die Interrater-Reliabilität bei der Durchführung des Kinder-DIPS-OA beeinflussen, konnte die aktuelle Studie praxisrelevante Bezüge für die Vermittlung diagnostischer Basiskompetenzen an Studierende der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie aufzeigen.
Es bleibt trotz aller hier aufgezeigter Indikatoren offen, wie künftige Lehrkonzepte gestaltet werden können, um den Studierenden praktische Kompetenzen zu vermitteln, wie z.B. die Fähigkeit zu klinischer, erfahrungsbasierter Entscheidungsfindung. Entsprechende Kenntnisse entwickeln sich durch implizite Lernprozesse, die über das reine Wissen um klinisch-psychologische Sachverhalte hinausgehen. Zwar waren die Studierenden in der vorliegenden Studie in der Lage, Videobeispiele überwiegend korrekt und reliabel zu kodieren, dennoch zeigte die Auswertung der Fehlerquellen bei der eigenständigen Durchführung einen möglichen Mangel eben dieses impliziten Wissens, das erfahrene Diagnostikerinnen in der klinischen Praxis nutzen können. Zweifelsohne ist es wenig zielführend, von Bachelor-Studierenden ein derart erfahrungsbasiertes Wissen zu erwarten oder in der kurzen Zeit eines Seminars zu vermitteln. Allerdings sollte durch ein derart erfahrungsorientiertes Lernen ein fallbasiertes Schließen [vgl. auch Glombiewski et al., 2020], im Sinne der schrittweisen, dynamischen Anpassung von gespeicherten Fallinformationen an neue Erfahrungen, aufgebaut werden können, was vor allem diagnostischen Entscheidungen zuträglich wäre.
Die Anfang 2020 vom Bundesrat beschlossene Approbationsordnung für das künftige Psychotherapiestudium (PsychThApprO) sieht im grundlegenden Bachelor-Studium die „berufsqualifizierende Tätigkeit I“ (BQT-I) vor, die u.a. dem Erwerb „erster praktischer Erfahrungen in spezifischen Bereichen der psychotherapeutischen Versorgung“ sowie „grundlegender Kompetenzen in der Kommunikation mit Patientinnen und Patienten sowie mit anderen beteiligten Personen oder Berufsgruppen“ dient. Beiden Anforderungen konnte das untersuchte Seminar Rechnung tragen und die notwendigen Kompetenzen vermitteln. Allerdings offenbarte die vorliegende Studie bei den Studierenden diagnostische Defizite, die sich höchstwahrscheinlich nur mit weiterer Übung in der Anwendung des strukturierten Interviews ausgleichen lassen. Im aufbauenden psychotherapeutischen Master-Studiengang wäre dann zu schauen, inwieweit die Studierenden mit mehr realitätskonformen Übungen unterrichtet werden können, die den in der Literatur beschriebenen, praxis- bzw. routinebezogenen Notwendigkeiten zum Erlernen einer zweckmäßigen Interviewführung gerecht werden können [Margraf und Schneider, 2018]. Eine an das ursprüngliche Trainingskonzept von Schneider et al. [2009] angelehnte Seminarkonzeption scheint hierbei nicht ausreichend, kann aber offensichtlich eine theoretische Vertiefung und eine erste praktische Auseinandersetzung bieten.
Allgemein lässt sich abschließend unterstreichen, dass strukturierte Interviews im diagnostischen Prozess effiziente Instrumente darstellen, die in Verbindung mit fallbezogenen Vorinformationen, wie sie in der Praxis mit Erstgesprächsverdachtsdiagnosen generiert werden [Weber et al., 2020] und in der vorliegenden Studie mit einer Fallvignette präsentiert wurden, reliable und valide Diagnosen generieren können [Margraf und Schneider, 2018] und sich auch gegenüber identifizierbaren Fehlerquellen als stabil erweisen. Insofern sollten auch schon Bachelor-Studierende mit der Anwendung entsprechender Diagnostikmethoden im Studium vertraut gemacht werden – und sich der Herausforderungen des diagnostischen Prozesses trotz des Einsatzes strukturierter Interviews bewusst sein.
Acknowledgement
Wir danken unseren Studierenden für die Bereitschaft das Seminar und damit ihren Kompetenzerwerb evaluieren zu dürfen.
Statement of Ethics
Im Zusammenhang mit dieser Arbeit bestehen keine ethischen Konflikte. Für alle im Rahmen des Seminars genutzten und vollständig anonymisierten Lehrinterviews lagen von Patientinnen und Bezugspersonen entsprechende Einverständniserklärungen zur Verwendung vor. Auch die Studierenden erteilten ihr Einverständnis, die im Seminar erhobenen Daten zu wissenschaftlichen Zwecken nutzen und auswerten zu dürfen. Da in dieser Studie ausschließlich die Reliabilität der Diagnosen sowie die festgestellten Interviewfehler geprüft wurden, wurde kein Ethikantrag gestellt, da keine direkten Patientinnen- bzw. Personendaten verarbeitet wurden, sondern nur die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Beurteilerinnen bestimmt wurde, um das Seminar anhand dieser Kriterien zu evaluieren.
Conflict of Interest Statement
In Bezug auf den vorliegenden Artikel erklären die Autorinnen, keinerlei Interessenskonflikte zu haben.
Funding Sources
Der vorliegende Artikel wurde ohne finanzielle Unterstützung angefertigt.
Author Contributions
Konzeption: Dr. Mira-Lynn Chavanon, Lorenz Weber. Auswertung und Erstellung des Manuskripts: Lorenz Weber. Kritische Überarbeitung des Manuskripts: Lorenz Weber, Dr. Mira-Lynn Chavanon, Prof. Dr. Hanna Christiansen und PD Dr. Björn Albrecht.
Data Availability Statement
Alle während dieser Studie generierten oder analysierten Daten sind in diesem Artikel enthalten. Rückfragen können an den korrespondierenden Autor gerichtet werden.
Literatur
Additional information
Obwohl aus Gründen der besseren Lesbarkeit im Text die weibliche Form gewählt wurde, beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter.