Zusammenfassung
Geflüchtete machen im Zusammenhang mit ihrer Flucht häufig traumatische Erfahrungen und weisen deutlich erhöhte Prävalenzraten für die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und andere psychische Störungen auf. Optimismus zeigte in vielfältigen anderen Kontexten eine protektive Wirkung auf die psychische Gesundheit. Die vorliegende Studie untersucht im Rahmen eines querschnittlichen Designs, ob auch bei Geflüchteten Zusammenhänge zwischen Optimismus, Pessimismus und der Symptomatik der PTBS bestehen. Anhand einer Stichprobe von Geflüchteten (N = 554), die zum Zeitpunkt der Befragung (2017–2018) erst seit Kurzem in Deutschland waren, wurden Zusammenhänge zwischen (a) Optimismus, Pessimismus und dem Schweregrad der PTBS-Symptomatik und (b) Optimismus, Pessimismus und der Ausprägung der Symptomatik in den verschiedenen Symptomclustern der PTBS untersucht. Optimismus und Pessimismus wurden mit dem Life Orientation Test-Revised (LOT-R) erfasst, PTBS-Symptomatik mit der Posttraumatic Stress Disorder Checklist for DSM-5 (PCL-5). Zusätzlich wurden fluchtbezogene und soziodemographische Variablen erhoben. Optimismus war negativ mit der Gesamtsymptomatik der PTBS sowie der Symptomatik in den Clustern Intrusionen, Negative Kognition und Stimmung sowie Hyperarousal assoziiert. Umgekehrt zeigte Pessimismus positive Zusammenhänge mit diesen vier Variablen. Weder Optimismus noch Pessimismus waren signifikant mit dem Cluster Vermeidung assoziiert. Die Ergebnisse können als vorsichtiger Hinweis darauf interpretiert werden, dass Optimismus zu Resilienz bei Geflüchteten beiträgt.
Abstract
Refugees often experience trauma before, during, or after their flight and show higher prevalence rates for posttraumatic stress disorder (PTSD) and other mental disorders. Optimism has been shown to have a protective effect on mental health in multiple contexts. Using a cross-sectional design, the present study examines whether associations between optimism, pessimism, and PTSD also exist among refugees. Associations between (a) optimism, pessimism, and overall PTSD symptomatology and (b) optimism, pessimism, and symptom burden within the different symptom clusters of PTSD were examined in a sample of refugees (N = 554) who had recently arrived in Germany. The questionnaire included sociodemographic and flight-related questions as well as the Life Orientation Test-Revised (LOT-R) to assess optimism and pessimism and the Posttraumatic Stress Disorder Checklist for DSM-5 (PCL-5) to assess symptoms of PTSD. Optimism was found to be negatively associated with overall PTSD symptomatology as well as symptom burden within the Intrusion, Negative Cognition and Mood, and Hyperarousal cluster. Conversely, pessimism was found to be positively associated with these four variables. Neither optimism nor pessimism was significantly associated with symptom burden in the avoidance cluster. The results can be interpreted as preliminary evidence that optimism contributes to resilience among refugees.
Keywords Optimism, Pessimism, Posttraumatic stress disorder, Asylum seekers, Resilience
Theoretischer Hintergrund
82.4 Millionen Menschen waren Ende 2020 aufgrund von Verfolgung, bewaffneten Konflikten oder Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht [UNHCR, 2021]. Das ist die höchste Anzahl von Menschen auf der Flucht, die jemals gemessen wurde, und entspricht mehr als einem Prozent der Weltbevölkerung [UNHCR, 2021]. Eine Flucht geht häufig mit belastenden und oftmals traumatischen Erfahrungen einher, die sich vor, während und nach der eigentlichen Flucht ereignen können [Nesterko und Glaesmer, 2016; Giacco et al., 2018]. Dazu zählen potentiell traumatische Ereignisse wie bewaffnete Konflikte, organisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe und existenzielle Nöte, beispielsweise Wassermangel oder Obdachlosigkeit [Steel et al., 2017; Giacco et al., 2018]. In einer stratifizierten Stichprobe in Schweden lebender Geflüchteter und Migrant*innen aus Afrika (N = 420) berichten 89% der Befragten von mindestens einer traumatischen Erfahrung vor der Flucht [Steel et al., 2017]. Die Flucht selbst kann mehrere Monate oder Jahre dauern und ebenfalls traumatische Ereignisse beinhalten, etwa bei einer Überfahrt über das Mittelmeer oder gewaltvollen Zusammenstößen mit Grenzschützer*innen [Böttche et al., 2016; Giacco et al., 2018]. Auch nach der Flucht sind Geflüchtete oft weiterhin Belastungen ausgesetzt, die ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen können, beispielsweise Arbeitslosigkeit [Steel et al., 2017], sozialer Isolation [Giacco et al., 2018] oder langandauernden aufenthaltsrechtlichen Unsicherheiten [Böttche et al., 2016].
Die vielfältigen Belastungen, denen Geflüchtete ausgesetzt sind, spiegeln sich in deutlich erhöhten Prävalenzraten psychischer Störungen wider. Untersuchungen zeigen, dass posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und Depressionen zu den häufigsten Störungsbildern bei Geflüchteten zählen [Blackmore et al., 2020]. Die vorliegenden Befunde zur Prävalenz von PTBS bei Geflüchteten weisen eine große Heterogenität auf, die auf die unterschiedlichen methodischen Ansätze der Studien sowie die Heterogenität der untersuchten Populationen zurückzuführen ist [Blackmore et al., 2020]. In einer Meta-Analyse mit 26 Studien mit insgesamt 5’143 Geflüchteten in 15 verschiedenen Aufnahmeländern zeigte sich eine mittlere Prävalenzrate von 31% für die PTBS in klinischen Interviews [Blackmore et al., 2020]. In Bezug auf Geflüchtete, die nach Deutschland geflohen sind, ergeben sich ähnliche Befunde: In einer Meta-Analyse mit 25 Studien mit Geflüchteten in Deutschland (N = 3’936, sowohl Kinder als auch Erwachsene) wird für Erwachsene eine mittlere Prävalenzrate von 30% im Screening-Verfahren berichtet [Hoell et al., 2021]. Trotz der Heterogenität der Studienergebnisse lässt sich eindeutig konstatieren, dass die Prävalenz der PTBS bei Geflüchteten erhöht ist im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung, bei der sie bei ca. 3% liegt [Hauffa et al., 2011].
Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass die psychische Gesundheit Geflüchteter bislang hauptsächlich aus einer auf die Symptomlast fokussierten bzw. defizitorientierten Perspektive erforscht wurde [Schreiber und Iskenius, 2013; Sleijpen et al., 2013]. Doch durch eine ausschließlich defizitorientierte Herangehensweise gerät möglicherweise aus dem Blick, welche Ressourcen zur erfolgreichen Verarbeitung von traumatischen Ereignissen Geflüchtete besitzen, und eine gezielte Aktivierung dieser Ressourcen wird erschwert [Schreiber und Iskenius, 2013]. Die Ergänzung der defizitorientierten Perspektive durch einen resilienzorientierten Ansatz erscheint deshalb von großer Bedeutung für die Versorgungspraxis. Hinzu kommt, dass das Erleben traumatischer Ereignisse nicht zwangsläufig zur Ausprägung einer PTBS oder einer anderen Traumafolgestörung führt [Steinert et al., 2015]. Ein komplexes Zusammenspiel aus intrapersonalen und Umweltfaktoren kann Menschen widerstandsfähiger gegenüber Belastungen machen – dieses Phänomen wird als Resilienz bezeichnet [South-wick et al., 2014]. Angesichts der beschriebenen Belastungen im Zusammenhang mit einer Flucht und der deutlich erhöhten Prävalenzen psychischer Störungen bei Geflüchteten stellt sich umso dringender die Frage nach möglichen Schutzfaktoren sowohl für die Präventionsarbeit als auch für die psychotherapeutische Versorgungspraxis.
Dispositioneller Optimismus zeigt in unterschiedlichen belastenden Lebenssituationen eine schützende Wirkung auf die psychische Gesundheit, wie in zahlreichen Studien belegt werden konnte [Giltay et al., 2006; Gallagher et al., 2020]. Bei dispositionellem Optimismus handelt es sich um eine generalisierte positive Ergebniserwartung [Scheier und Carver, 1985]. Für das Konstrukt ist dabei weniger relevant, worauf die optimistische Einstellung basiert: Optimist*innen könnten z.B. ein positives Ergebnis erwarten, weil sie in ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen oder weil sie überzeugt sind, oft Glück zu haben – entscheidend ist allein, dass sie ein positives Ergebnis erwarten [Scheier und Carver, 1985]. Scheier und Carver verstehen Optimismus zudem als eine generalisierte Erwartung, die sich nicht auf spezifische Bereiche bezieht. Optimist*innen erwarten, dass ihnen im Allgemeinen eher positive Dinge passieren als negative [Carver et al., 2010]. Befunde aus unterschiedlichen Kontexten belegen Zusammenhänge zwischen hoch ausgeprägtem Optimismus und einem geringeren Schweregrad verschiedener psychischer Störungen [Zenger et al., 2010; Taylor et al., 2012; Gallagher et al., 2020]. Zwischen Optimismus und dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik besteht ein durchschnittlicher Zusammenhang von r = –0.29, wie eine Meta-Analyse über 58 querschnittliche Studien (N = 24’848) ergab [Gallagher et al., 2020]. Zudem zeigte sich in 6 eingeschlossenen längsschnittlichen Untersuchungen (N = 2’722) ein durchschnittlicher Zusammenhang von r = –0.20 [Gallagher et al., 2020], was auf eine protektive Wirkung von Optimismus auf die PTBS-Symptomatik hinweist. Die Abstände zwischen den Messzeitpunkten der eingeschlossenen längsschnittlichen Untersuchungen variierten dabei zwischen 2 Monaten und 6 Jahren. Untersucht wurden etwa Studierende, die ein potentiell traumatisches Ereignis erlebt hatten (N = 264) [Frazier et al., 2011], Überlebende des Hurrikans Katrina (N = 334) [Lowe et al., 2013] sowie der Erdbeben von Canterbury (N = 156) [Kuijer et al., 2014].
Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass Optimismus auch bei Belastungen im Zusammenhang mit einer Flucht eine protektive Wirkung hat. Eine Flucht ist mit vielfältigen Risiken und Ungewissheiten verbunden. Auch wenn die Flucht „erfolgreich“ war und die Personen sicher im Zielland angekommen sind, besteht häufig weiterhin Ungewissheit, etwa über den Verbleib von Familienangehörigen oder den Ausgang des Asylverfahrens. Eine optimistische Einstellung könnte gerade in dieser von Ungewissheit geprägten Situation einen stabilisierenden Effekt auf die psychische Gesundheit haben. Tatsächlich fanden sich bereits in einigen querschnittlichen Studien Hinweise auf einen negativen Zusammenhang von Optimismus und PTBS-Symptomatik bei Geflüchteten, etwa bei jugendlichen Geflüchteten in den Niederlanden [Sleijpen et al., 2013] sowie bei Binnenflüchtlingen in Liberia [Acquaye et al., 2018]. Da sich diese Untersuchungen jeweils auf vergleichsweise spezifische Populationen beziehen, besteht weiterer Forschungsbedarf. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an: Sie untersucht den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Optimismus und der PTBS-Symptomatik anhand einer großen Stichprobe (N = 554) in Deutschland lebender erwachsener Geflüchteter. Besonders ist zudem, dass die Teilnehmenden kurz (wenige Tage bis Wochen) nach ihrer Ankunft in Deutschland befragt wurden, sodass Effekte von Postmigrationsstressoren auf die untersuchten Variablen weitestgehend ausgeschlossen werden können.
Erfasst wird Optimismus typischerweise mit dem Fragebogen Life Orientation Test-Revised (LOT-R) [Scheier et al., 1994]. Dieser enthält 3 positiv formulierte Items, die Optimismus messen, und 3 negativ formulierte Items, die Pessimismus messen. In der ursprünglichen Konzeptionierung von Scheier und Carver [1985] wird Optimismus als unidimensionales Konstrukt mit den beiden Polen Optimismus und Pessimismus verstanden und es wird daher ein Gesamtwert für dispositionellen Optimismus berechnet, für den die Pessimismusitems invertiert werden [Scheier et al., 1994]. Inzwischen gibt es umfangreiche Forschung zum Konzept des dispositionellen Optimismus und zum LOT-R. Entgegen der ursprünglichen Annahme legen viele dieser Befunde ein bidimensionales Verständnis mit den Dimensionen Optimismus und Pessimismus nahe. So zeigten sich in vielen Studien nur geringe Korrelationen zwischen Optimismus und Pessimismus [Hinz et al., 2017] und in faktorenanalytischen Untersuchungen erwies sich die bidimensionale Struktur als überlegen gegenüber der unidimensionalen Struktur [Herzberg et al., 2006; Glaesmer et al., 2008, 2012; Hinz et al., 2017]. Optimismus und Pessimismus werden deshalb mittlerweile eher als zwei Dimensionen verstanden, die nicht zu einem Gesamtwert integriert werden sollten. Vor diesem Hintergrund werden in der vorliegenden Studie die Zusammenhänge zwischen (a) PTBS-Symptomatik und Optimismus und (b) PTBS-Symptomatik und Pessimismus separat betrachtet.
Zudem sollen Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß des Optimismus bzw. Pessimismus und verschiedenen Symptomclustern der PTBS untersucht werden. Das DSM-5 unterscheidet die Cluster Intrusionen, Vermeidung, negative Veränderungen in Kognition und Stimmung sowie erhöhte Erregung (Hyperarousal). Denkbar wäre, dass diese verschiedenen Symptomcluster unterschiedlich stark mit Optimismus und Pessimismus assoziiert sind. Es handelt sich bei Optimismus bzw. Pessimismus um ein kognitives und motivationales Konstrukt [Scheier und Carver, 1985]. Es könnte daher sein, dass Assoziationen mit dem Cluster negative Veränderungen in Kognition und Stimmung stärker ausgeprägt sind als mit den eher physiologisch und neurobiologisch geprägten Clustern Intrusionen und Hyperarousal. Die Untersuchung der differentiellen Zusammenhänge könnte erste Hinweise darauf liefern, welche Wirkmechanismen dem Zusammenhang zwischen Optimismus bzw. Pessimismus mit der Symptomatik der PTBS zugrunde liegen, und hätte gegebenenfalls Implikationen für die psychotherapeutische Versorgung. Bislang existieren nur wenige Untersuchungen zum Zusammenhang von Optimismus und Pessimismus mit den einzelnen Symptomclustern der PTBS und diese kommen zu inkonsistenten Ergebnissen [Lowe et al., 2013; Birkeland et al., 2017]. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Studie Zusammenhänge von (a) Optimismus und (b) Pessimismus mit der Symptomatik der einzelnen Symptomcluster der PTBS. Angesichts der limitierten und inkonsistenten Befunde dazu können diese Zusammenhänge lediglich explorativ untersucht werden.
Folgende Fragestellungen sollen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beantwortet und einer anschließenden Diskussion unterzogen werden:
(I) Besteht (a) ein (negativer) Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Optimismus und dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik sowie (b) ein (positiver) Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Pessimismus und dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik bei kürzlich nach Deutschland gekommenen Geflüchteten?
(II) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik in den Clustern Intrusionen, Vermeidung, negative Veränderung in Kognition und Stimmung und Hyperarousal und (a) dem Ausmaß des Optimismus sowie (b) dem Ausmaß des Pessimismus?
Methodik
Ablauf der Datenerhebung
Die verwendeten Daten entstammen einer Fragebogenstudie, die zwischen Mai 2017 und Juni 2018 in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber*innen in Leipzig durchgeführt wurde. Es handelt sich dabei um eine größer angelegte Erhebung, in der neben den hier beschriebenen Konstrukten noch verschiedene weitere psychische Erkrankungen (Depression, Somatisierung) sowie soziodemographische und fluchtbezogene Variablen untersucht wurden. Detaillierte Angaben dazu sind bei Nesterko et al. [2020a, 2020b] zu finden. Auf Basis des Registers der Einrichtung wurden alle neu angekommenen Bewohner*innen der Einrichtung über 18 Jahre angesprochen und nach ihrer Teilnahmebe-reitschaft gefragt. Einschlusskriterien waren die Fähigkeit zu lesen und Sprachkenntnisse in einer der 11 Sprachen, in denen der Fragebogen zur Verfügung stand (Albanisch, Arabisch, Englisch, Farsi, Französisch, Kurdisch, Russisch, Spanisch, Tigrinya, Türkisch und Urdu). Die Übersetzungen auf Albanisch, Kurdisch und Urdu wurden jedoch nicht verwendet, da keine*r der Teil-nehmenden entsprechende Sprachkenntnisse angab. Die Teil-nehmenden erhielten schriftlich detaillierte Informationen über den Ablauf der Studie sowie den Datenschutz. Von den 1’316 Personen, die während dieses Zeitraumes ankamen, erklärten sich 569 bereit, an der Studie teilzunehmen. Vor dem Ausfüllen des Fragebogens wurde das schriftliche Einverständnis der Teilnehmenden eingeholt.
Die große Mehrheit der Teilnehmenden füllte den Fragebogen an einem Tablet aus (n = 502), lediglich in der Pilotphase (1. Mai bis 17. Mai 2017) füllten die Teilnehmenden den Fragebogen in einer Papierversion aus (n = 67). Die Teilnehmenden füllten den Fragebogen selbstständig aus, was im Schnitt ca. 45 Minuten dauerte. Die Studie entsprach allen Anforderungen der Deklaration von Helsinki und wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig genehmigt (446/16-ek).
Instrumente
Im Fragebogen wurden (a) dispositioneller Optimismus und Pessimismus, (b) Symptomatik der PTBS, (c) fluchtbezogene und (d) soziodemographische Angaben erfasst. Eine professionelle Übersetzungsagentur (mt-g medical translation GmbH) fertigte Übersetzungen und Rückübersetzungen der deutschen Version des Fragebogens in die oben genannten Sprachen an sowie eine Tigrinya-Übersetzung basierend auf der englischen Version des Fragebogens. Alle Rückübersetzungen wurden durch die Zweitautorin und den Letztautor dieses Artikels überprüft und zur Überarbeitung an die Agentur zurückgegeben, wenn nötig.
Dispositioneller Optimismus und Pessimismus wurden mittels des LOT-R [Glaesmer et al., 2008] erfasst. Der LOT-R besteht aus 10 Items, von denen 3 Optimismus erfassen (z.B. „Auch in ungewissen Zeiten erwarte ich normalerweise das Beste“), 3 Pessimismus (z.B. „Wenn bei mir etwas schieflaufen kann, dann tut es das auch“) und 4 als Füllitems fungieren. Die Items können mittels einer fünfstufigen Likert-Skala von 0 („trifft überhaupt nicht zu“) bis 4 („trifft ausgesprochen zu“) beantwortet werden. Der LOT-R wurde im Original [Scheier et al., 1994] als unidimensionales Konstrukt verstanden, bei dem die 3 Optimismus-Items und die 3 Pessimismus-Items zu einem Gesamtwert integriert werden. Wie oben beschrieben werden Optimismus und Pessimismus mittlerweile jedoch überwiegend als zwei unabhängige Dimensionen verstanden [Hinz et al., 2017], weshalb die beiden Subskalen Optimismus und Pessimismus in der vorliegenden Studie separat betrachtet wurden (Optimismus: α = 0.75 [α = 0.56–0.89 für verschiedene Sprachen], Pessimismus: α = 0.61 [α = 0.39–0.69 für verschiedene Sprachen]). Die LOT-R-Subskalen weisen damit in einigen Übersetzungen sehr geringe Reliabilitätswerte auf, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden sollten. Eine detaillierte Übersicht dazu befindet sich im online Supplement Anhang (für das ganze online suppl. Material, siehe www.karger.com/doi/10.1159/000524520).
PTBS-Symptomatik wurde mittels der Posttraumatic Stress Disorder Checklist for DSM-5 (PCL-5) [Blevins et al., 2015] erfasst, einem Fragebogen mit 20 Items, der die Symptome einer PTBS nach DSM-5 erfasst. Die Items erfassen mittels einer fünfstufigen Likert-Skala von 0 („gar nicht“) bis 4 („sehr stark“), wie stark das jeweils abgefragte Symptom im letzten Monat erlebt wurde. Es können Summenwerte zwischen 0 und 80 erreicht werden und Summenwerte ab dem Cut-Off-Wert von 33 indizieren das Vorliegen einer PTBS [Krüger-Gottschalk et al., 2017]. Die PCL-5 wies in der vorliegenden Stichprobe eine exzellente interne Konsistenz auf (α = 0.95 [α = 0.93–0.97 für verschiedene Sprachen]). Die PCL-5 erfasst zudem die Symptomcluster der PTBS nach DSM-5: 5 Items erfassen Intrusionen, 2 Items Vermeidung, 7 Items negative Veränderungen in Kognition und Stimmung und 6 Items Hyperarousal. Für jedes Cluster wurde ein Summenwert berechnet. Alle Cluster zeigten eine hohe interne Konsistenz (α = 0.85–0.90).
Um das A-Kriterium für das Vorliegen einer PTBS zu erfassen, wurde die Life Events Checklist for DSM-5 (LEC-5) [Weathers et al., 2013] verwendet. Dabei handelt es sich um eine Liste mit 16 potentiell traumatischen Ereignissen, zu denen die Teilnehmenden jeweils angeben sollen, ob sie diese bereits erlebt haben. Die Antwortmöglichkeiten lauten (a) „ist mir persönlich zugestoßen“, (b) „Zeug*in davon gewesen“, (c) „davon gehört“, (d) „im Rahmen meines Berufs“, (e) „unsicher“ und (f) „trifft nicht zu“. Für die vorliegende Untersuchung wurde lediglich die Kategorie (a) „mir persönlich zugestoßen“ ausgewertet.
Zu den fluchtbezogenen Informationen, die erfasst wurden, gehörten die Dauer der Flucht (in Monaten) sowie die Aufenthaltsdauer in Deutschland (in Tagen). Darüber hinaus wurden die Teilnehmenden gebeten, anzugeben, ob sie ausreichend Informationen über den Verbleib (a) ihrer zurückgelassenen Familie und (b) weiterer ihnen nahestehender zurückgelassener Personen hätten. Hierfür wurde jeweils ein Item mit dichotomem Antwortformat (Ja/Nein) verwendet.
Bezüglich der soziodemographischen Daten wurden Teilneh-mende gebeten, ihr Alter, Geschlecht sowie ihr Herkunftsland anzugeben. Des Weiteren wurde jeweils mit einem Item mit dicho-tomem Antwortformat (Ja/Nein) erfragt, ob sie sich aktuell in einer Partnerschaft befänden und ob sie Kinder hätten. Außerdem wurde die Anzahl der absolvierten Schuljahre sowie das Vorliegen eines Hochschulabschlusses (ebenfalls dichotom) erfasst.
Statistische Analysen
Zur Untersuchung der genannten Fragestellungen wurde das Programm IBM SPSS Statistics® (Version 21) für Windows sowie das Programm R [Version 4.0.5; R Core Team, 2021] verwendet.
Für alle untersuchten metrischen und ordinalskalierten bzw. quasi-metrischen Variablen wurden zunächst deskriptive Statistiken (Mittelwert, Standardabweichung, Schiefe, Kurtosis) sowie Histogramme und P-P-Plots betrachtet. Für die dichotomen Variablen wurden absolute und relative Häufigkeiten berechnet. Für die weiteren Schritte der Analyse wurden Teilnehmende ausgeschlossen, die bei Geschlecht „Anderes“ angegeben hatten (n = 4), um die Analyse zu vereinfachen. Zudem wurden Personen ausgeschlossen, die mindestens einen fehlenden Wert auf einem der sechs LOT-R-Items aufwiesen (n = 11), sodass die Analysestichprobe aus 554 Personen bestand.
Im nächsten Schritt wurden die Zusammenhänge zwischen Optimismus, Pessimismus und dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik untersucht. Dafür wurde eine multiple lineare Regression berechnet, bei der die Symptomatik der PTBS als Outcome und das Ausmaß des Optimismus sowie des Pessimismus als Prädiktoren spezifiziert wurden. Zusätzlich wurden Alter und Geschlecht als Kontrollvariablen in die Analyse aufgenommen, da es Hinweise gibt, dass beide sowohl mit dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik assoziiert sind [McGinty et al., 2021], als auch mit Optimismus bzw. Pessimismus, wobei die Befunde diesbezüglich weniger konsistent sind [Glaesmer et al., 2012; Schou-Bredal et al., 2017; Gallagher et al., 2020].
Im letzten Schritt wurden die Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß des Optimismus bzw. Pessimismus und dem Ausmaß der Symptomatik der einzelnen Cluster einer PTBS (Intrusionen, Vermeidung, negative Kognition und Stimmung sowie Hyperarousal) untersucht. Dafür wurden vier separate multiple lineare Regressionsanalysen berechnet, bei denen jeweils der Summenwert eines der vier Cluster als Outcome spezifiziert wurde. Optimismus, Pessimismus, Alter und Geschlecht wurden in allen vier Analysen als Prädiktoren spezifiziert.
Für jede der insgesamt fünf beschriebenen Regressionsanalysen wurde eine Bonferroni-korrigierte Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 0.01 verwendet.
Ergebnisse
Deskriptive Statistiken für alle relevanten Variablen können Tabelle 1 entnommen werden. Die Stichprobe enthielt Personen aus über 30 verschiedenen Herkunftsländern. Die meisten Teilnehmenden stammten aus Kamerun (n = 92, 17%), Venezuela (n = 79, 14%), Syrien (n = 56, 10%), der Türkei (n = 49, 9%), Eritrea (n = 49, 9%) und Nigeria (n = 33, 6%). Detailliertere Angaben dazu finden sich bei Nesterko et al. [2020b]. Ein Großteil der Teilnehmenden war zum Zeitpunkt der Befragung erst seit kurzer Zeit in Deutschland: 55% (n = 303) der Teilnehmenden wurden in der ersten Woche nach ihrer Ankunft befragt, 19% (n = 107) wurden 1 bis 2 Wochen nach Ankunft befragt, 11% (n = 65) 3 bis 4 Wochen nach Ankunft, 5% (n = 26) 5 bis 6 Wochen nach Ankunft und 10% (n = 56) mehr als 6 Wochen nach ihrer Ankunft.
In Bezug auf Optimismus zeigte sich eine rechtssteile Verteilung (Schiefe = –1.15, SESchiefe = 0.10). Knapp die Hälfte der Stichprobe (n = 256, 46%) erreichte auf der Optimismusskala den maximal möglichen oder den zweithöchsten Skalensummenwert (12 bzw. 11). Die Ausprägungen des Merkmals Pessimismus dagegen waren annähernd normalverteilt (Schiefe = –0.07, SESchiefe = 0.10), lediglich 11% (n = 63) erreichten einen der beiden obersten Skalensummenwerte.
87% (n = 479) der Befragten gaben an, mindestens eine traumatische Erfahrung erlebt zu haben. Am häufigsten genannt wurden dabei gewalttätige Angriffe ohne Waffe, davon berichteten 61% der Befragten (n = 337). 56% (n = 308) gaben an, Opfer eines gewalttätigen Angriffs mit einer Waffe geworden zu sein, und 46% (n = 257) berichteten, schweres menschliches Leid erlebt zu haben. Etwa ein Drittel der Teilnehmenden (35%, n = 195) lag oberhalb des Cut-Off-Wertes für das Vorliegen einer PTBS.
Die Ergebnisse der Regressionsanalyse zur Vorhersage des Schweregrades der PTBS-Symptomatik durch Optimismus und Pessimismus können Tabelle 2 entnommen werden. Das Modell zeigt einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Optimismus und der PTBS-Symptomatik (β = –0.23, p < 0.001, 95% KI für β [–0.31 bis –0.15]); höherer Optimismus ging also mit einer geringeren Symptomlast einher. Umgekehrt war Pessimismus positiv mit dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik assoziiert (β = 0.16, p < 0.001, 95% KI für β [0.07–0.24]). Die untersuchten Kontrollvariablen Alter und Geschlecht zeigten keine signifikanten Zusammenhänge mit dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik. Die untersuchten Variablen klärten etwa 6% an der Gesamtvarianz der PTBS-Symptomatik auf.
Abschließend wurden die Zusammenhänge zwischen Optimismus bzw. Pessimismus und den Symptomclustern der PTBS untersucht. Die Ergebnisse können Tabelle 3 entnommen werden. Dabei zeigten sowohl Optimismus als auch Pessimismus signifikante Assoziationen mit den Clustern Intrusionen, negative Kognition und Stimmung sowie Hyperarousal. Optimismus war negativ mit den drei beschriebenen Clustern assoziiert, ein höheres Ausmaß an Optimismus ging also mit einer jeweils geringer ausgeprägten Symptomatik einher. Umgekehrt war Pessimismus positiv mit den drei beschriebenen Clustern assoziiert. Keine Zusammenhänge zeigten sich dagegen mit dem Cluster Vermeidung; weder Optimismus noch Pessimismus waren signifikant mit diesem Cluster assoziiert. Die Kontrollvariablen Alter und Geschlecht waren mit keinem der vier Cluster assoziiert.
Diskussion
Ziel der Studie war es, Zusammenhänge von Optimismus und Pessimismus mit dem Schweregrad der PTBS-Symptomatik bei Geflüchteten zu untersuchen. Neben Zusammenhängen mit dem Schweregrad der PTBS-Symptomatik insgesamt wurden auch Zusammenhänge mit dem Ausmaß der Symptomatik innerhalb der einzelnen PTBS-Cluster Intrusionen, Vermeidung, negative Kognition und Stimmung sowie Hyperarousal untersucht. Damit sollten erste Hinweise auf eine mögliche protektive Wirkung von hohem Optimismus bzw. geringem Pessimismus auf die psychische Gesundheit Geflüchteter gewonnen werden.
In Bezug auf psychische Gesundheit ist zunächst festzuhalten, dass sich bei den befragten Geflüchteten im Screening-Verfahren deutlich erhöhte Prävalenzraten für die PTBS zeigen. Zudem zeigen sich bei ihnen erhöhte Prävalenzraten für Depression und Somatisierung, wie Nesterko et al. [2020a] bereits darlegten. Zwar ist einschränkend anzumerken, dass die verwendeten Übersetzungen der PCL-5 noch nicht auf inhaltliche und metrische Äquivalenz überprüft wurden, dennoch lässt sich konstatieren, dass die Befragten als eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung hochbelastete Gruppe zu sehen sind. Diese Befunde decken sich mit anderen Studien, die ebenfalls auf deutlich erhöhte Prävalenzraten für psychische Störungen bei Geflüchteten hinweisen [Blackmore et al., 2020; Hoell et al., 2021], und können als weiterer Beleg dafür aufgefasst werden, dass die mit einer Flucht verbundenen Belastungen ein klares Risiko für die psychische Gesundheit darstellen. Zugleich lassen sich die befragten Geflüchteten als eher optimistisch beschreiben: Die Optimismuswerte der Befragten ähneln den Werten einer repräsentativen Stichprobe aus der deutschen Allgemeinbevölkerung, deskriptiv liegen sie sogar leicht darüber (MAllgemeinbevölkerung = 8.5, SD = 2.3 [Glaesmer et al., 2012]; d = 0.22). Allerdings liegen auch die Pessimismuswerte der befragten Geflüchteten deskriptiv etwas höher als die Werte der deutschen Allgemeinbevölkerung (MAllgemeinbevölkerung = 5.3, SD = 2.7 [Glaesmer et al., 2012], d = 0.36).
Zusammenhänge zwischen Optimismus, Pessimismus und PTBS-Symptomatik
In Bezug auf die Zusammenhänge zwischen Optimismus, Pessimismus und dem Schweregrad der PTBS-Symptomatik bestätigten die Ergebnisse die Hypothese: Höherer Optimismus ging mit geringer ausgeprägter Symptomatik der PTBS einher, höherer Pessimismus ging dagegen mit einer höher ausgeprägten PTBS-Symptomatik einher. Die Befunde decken sich mit der querschnittlichen Evidenz aus anderen Kontexten, die negative Zusammenhänge zwischen Optimismus und dem Ausmaß der PTBS-Symptomatik belegen [Gallagher et al., 2020]. Vor dem Hintergrund der bestehenden längsschnittlichen Evidenz für eine protektive Wirkung von Optimismus auf den Schweregrad der PTBS-Symptomatik [Gallagher et al., 2020] liegt es nahe, die beschriebenen Zusammenhänge ebenfalls in diesem Sinne zu interpretieren. Diese Interpretation erscheint auch deshalb plausibel, weil es sich bei Optimismus um eine relativ stabile Trait-Variable handelt [Carver et al., 2010], während die PTBS-Symptomatik stärker fluktuiert und ihr Auftreten im letzten Monat erfasst wurde. Jedoch gibt es auch Hinweise auf eine gewisse Variabilität im Ausmaß des Optimismus [Segerstrom, 2007]. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass eine erhöhte Symptomatik zu einem erhöhten Pessimismus und einem reduzierten Optimismus führt, oder dass Zusammenhänge in beide Richtungen existieren. Die Frage nach der Kausalität lässt sich im querschnittlichen Design der vorliegenden Untersuchung nicht abschließend beantworten.
Ein zusätzliches Anliegen der Studie war es, die Zusammenhänge zwischen Optimismus und Pessimismus und den Symptomclustern der PTBS zu betrachten. Dabei zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Untersuchung der Zusammenhänge zur Gesamtsymptomatik: Optimismus war negativ mit den Clustern Intrusionen, negative Kognition und Stimmung sowie Hyperarousal assoziiert, umgekehrt zeigte Pessimismus positive Zusammenhänge mit den beschriebenen Clustern. Keine Zusammenhänge zeigten sich dagegen mit dem Cluster Vermeidung. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie decken sich damit nur teilweise mit den wenigen anderen Befunden, die zu Zusammenhängen zwischen Optimismus und den Symptomclustern der PTBS existieren: Birkeland et al. [2017] berichten Zusammenhänge mit allen Clustern der PTBS, Lowe et al. [2013] berichten dagegen nur von Zusammenhängen mit dem Cluster Intrusionen, jedoch nicht mit den Clustern Vermeidung und Hyperarousal. Allerdings wird in beiden Studien – anders als in der vorliegenden Studie – der Gesamtscore des LOT-R und die Einteilung der Symptomcluster nach DSM-IV verwendet, was die Vergleichbarkeit einschränkt. Die inkonsistenten Befunde diesbezüglich verweisen auf weiteren Forschungsbedarf. Darüber hinaus sind mögliche inhaltliche Überschneidungen zwischen den Konstrukten zu bedenken. So erscheint es etwa plausibel, dass Überschneidungen zwischen Optimismus bzw. Pessimismus und dem PTBS-Symptomcluster negative Kognition und Stimmung existieren, da beide eine negative Sicht auf die Welt umfassen.
Unklar ist zudem, warum sich in der vorliegenden Studie kein Zusammenhang zwischen Optimismus bzw. Pessimismus und dem Cluster Vermeidung zeigt. Möglich wäre, dass ein eventuell bestehender positiver Zusammenhang zwischen Optimismus und Vermeidung durch gegenläufige negative Zusammenhänge zwischen Optimismus und den anderen Clustern maskiert wird (und umgekehrt für Pessimismus). Ein solcher maskierender Effekt wäre möglich, da die Cluster untereinander hoch korreliert sind, ihr Einfluss in den separaten Regressionsanalysen jedoch nicht kontrolliert wird. Ein solcher positiver Zusammenhang in Bezug auf Vermeidung erscheint auch inhaltlich möglich: Optimistische Personen neigen möglichweise dazu, bestehende Belastungen zu unterschätzen, und vermeiden daher die Auseinandersetzung mit dem Erlebten und seinen Folgen. Um eventuelle Zusammenhänge zwischen Optimismus und dem Cluster Vermeidung besser zu verstehen, bedarf es jedoch zunächst weiterer belastbarer Befunde.
Die beschriebenen Zusammenhänge zwischen Optimismus, Pessimismus und der Symptomatik der PTBS (insgesamt sowie innerhalb der einzelnen Cluster) liegen größtenteils im geringen Bereich. Zudem weist die geringe Varianzaufklärung in allen Analysen darauf hin, dass die beschriebenen Zusammenhänge nicht in ihrer Bedeutsamkeit überschätzt werden dürfen. Weitere Faktoren, die in der Studie nicht betrachtet wurden, scheinen das Ausmaß der PTBS-Symptomatik maßgeblich zu beeinflussen.
Limitationen
Auffällig waren die vergleichsweise hohen Optimismuswerte in der vorliegenden Studie sowie deren rechtssteile Verteilung. Bei anderen Stichproben, bei denen der LOT-R verwendet wurde, zeigte sich keine solche rechtssteile Verteilung [Glaesmer et al., 2012; Schou-Bredal et al., 2017]. Um zu erklären, warum sich gerade in der hier untersuchten Stichprobe eine solche Verteilung zeigt, kommen sowohl methodische als auch inhaltliche Gründe in Frage: Aus methodischer Perspektive könnte die rechtssteile Verteilung als Hinweis auf einen möglichen Deckeneffekt gedeutet werden. Im Falle eines Deckeneffektes würden auch Personen, die keinen extrem hoch ausgeprägten Optimismus haben, den höchsten Wert auf der Skala erreichen und der Fragebogen könnte dementsprechend nicht gut zwischen Personen mit hohen und sehr hohen Werten unterscheiden. Die rechtssteile Verteilung der Werte bedeutet darüber hinaus eine eingeschränkte Varianz am unteren Ende der Optimismusskala – diese eingeschränkte Varianz kann dazu führen, dass tatsächlich bestehende Zusammenhänge übersehen werden. In der vorliegenden Studie wurden Übersetzungen des LOT-R in verschiedene Sprachen verwendet, für die noch keine psychometrischen Kennwerte vorliegen und die teilweise eine sehr geringe interne Konsistenz aufweisen. Unklar ist zudem, ob bezüglich des LOT-R Skaleninvarianz über verschiedene Herkunftsländer hinweg besteht, ob also Personen mit derselben Ausprägung auf dem zugrundeliegenden Konstrukt dieselben Werte auf der Skala erhalten, unabhängig davon, woher sie kommen. Es empfiehlt sich daher eine sorgfältige psychometrische Überprüfung der Übersetzungen des LOT-R sowie seiner Validität in Stichproben nicht-westlicher Sozialisation.
Neben einer methodischen Erklärung könnten die vergleichsweise hohen Optimismuswerte in der vorliegenden Stichprobe jedoch auch auf inhaltliche Gründe zurückzuführen sein: Möglich wäre, dass es diesbezüglich einen Selektionseffekt gibt, dass also nur Personen mit relativ hohem Optimismus überhaupt das Risiko der Flucht auf sich nehmen. Ein solcher Selektionseffekt entspräche der Idee eines Healthy Migrant Effect, auf den verschiedene (allerdings teilweise inkonsistente) Befunde hindeuten [Elshahat et al., 2021]. Unklar ist zudem, inwiefern die Idee einer Selbstselektion von Migrant*innen auf den Kontext erzwungener Migration anwendbar ist [Elshahat et al., 2021]. Als weitere inhaltliche Erklärung für die hohen Optimismuswerte in der vorliegenden Stichprobe kommt ein Effekt des Befragungszeitpunktes in Frage. Ein Großteil der Befragten befand sich zum Zeitpunkt der Befragung erst seit relativ kurzer Zeit, oft erst seit wenigen Tagen oder Wochen, in Deutschland. Möglich wäre, dass in dieser spezifischen Phase die Erleichterung darüber vorherrscht, im Zielland angekommen zu sein, während Sorgen in Bezug auf die Zukunft (etwa über den Ausgang des Asylverfahrens oder Arbeitsmöglichkeiten) erst zu einem späteren Zeitpunkt (wieder) präsenter werden. Ein solcher Effekt des Befragungszeitpunktes würde die Generalisierbarkeit der Befunde auf Geflüchtete in anderen Phasen des Fluchtprozesses einschränken. Ob die vergleichsweise hohen Optimismuswerte in der vorliegenden Stichprobe sich auf methodische oder inhaltliche Erklärungen zurückführen lassen, kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht beantwortet werden. Die Hinweise auf die mögliche Existenz eines Deckeneffekts sowie die eventuell mangelnde Generalisierbarkeit der Befunde aufgrund des spezifischen Befragungszeitpunktes stellen methodische Limitationen der Studie dar.
Eine weitere methodische Limitation der Studie besteht darin, dass in der vorliegenden Untersuchung lediglich das Ausmaß des Optimismus und Pessimismus nach der Flucht betrachtet wurde. Möglich wäre allerdings, dass sich das Ausmaß des Optimismus und Pessimismus durch die mit einer Flucht verbundenen belastenden Erfahrungen verändert. Zwar wird dispositioneller Optimismus als stabile Persönlichkeitseigenschaft verstanden [Scheier und Carver, 1985], jedoch gibt es erste Hinweise auf Variabilität im Ausmaß des Optimismus und Pessimismus im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen [Chopik et al., 2020]. Das Ausmaß des Optimismus und Pessimismus vor der Flucht bzw. deren Veränderung über die Flucht hinweg könnten ebenfalls mit der psychischen Gesundheit in Zusammenhang stehen. Diese Fragen können jedoch nur anhand längsschnittlicher Untersuchungen beantwortet werden.
Schlussfolgerungen in Bezug auf Optimismus als Teil von Resilienz bei Geflüchteten
Trotz der bestehenden Limitationen können die Ergebnisse als vorsichtiger Hinweis auf eine protektive Wirkung von Optimismus auf die psychische Gesundheit Geflüchteter interpretiert werden, während Pessimismus eher eine nachteilige Wirkung zu haben scheint. Zwar lassen sich im Rahmen des querschnittlichen Designs keine Kausalwirkungen nachweisen, jedoch erscheint eine solche Interpretation vor dem Hintergrund bestehender längsschnittlicher Evidenz aus anderen Kontexten plausibel. Nimmt man eine solche protektive Wirkung an, hat dies Implikationen für die psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung Geflüchteter: In diesem Fall wäre es möglicherweise sinnvoll, Optimismus bei Geflüchteten gezielt zu fördern bzw. Pessimismus zu reduzieren. Eine Meta-Analyse mit 29 Studien belegte, dass das Ausmaß des Optimismus durch gezielte Interventionen steigerbar ist, auch wenn es sich dabei um eher kleine Effekte handelte [Malouff und Schutte, 2016]. Unklar ist, wie langfristig der Effekt solcher Interventionen ist [Malouff und Schutte, 2016].
Ein Anliegen der Studie war es, mit der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Optimismus und psychischer Gesundheit zu einer stärker resilienzorientierten Perspektive auf Geflüchtete beizutragen. Eine solche Perspektive nimmt Ressourcen in den Blick, die Geflüchtete mitbringen und die sie widerstandsfähiger gegenüber den Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, machen können. Die Ergebnisse lassen sich als vorsichtiger Hinweis darauf interpretieren, dass Optimismus ein Faktor ist, der zu Resilienz beiträgt. Optimismus kann demnach dazu beitragen, belastende Lebensereignisse besser bewältigen zu können. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Person nach belastenden Ereignissen eine psychische Störung entwickelt, sind jedoch viele andere Risiko- und Schutzfaktoren relevant. Dabei spielen nicht nur intrapersonale Faktoren wie Optimismus eine Rolle, sondern auch eine Vielzahl von Umweltfaktoren. So hängen unter anderem aufenthaltsrechtliche Unsicherheit, finanzielle Schwierigkeiten sowie der beschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung negativ mit der psychischen Gesundheit von Geflüchteten zusammen [Lamkaddem et al., 2015; Böttche et al., 2016; Steel et al., 2017].
Eine resilienzorientierte Perspektive auf Geflüchtete verhindert eine Einengung auf ausschließlich negative Aspekte und nimmt in den Blick, welche enorme Bewältigungsleistung und Anstrengung die Betroffenen erbracht haben. Sie trägt damit zu einem differenzierteren Blick auf Geflüchtete bei, der sie nicht nur als Hilfebedürftige, sondern auch als Persönlichkeiten mit bestimmten Ressourcen sieht, und verändert damit die Herangehensweise für Unterstützungsangebote sowie die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von Geflüchteten [Schreiber und Iskenius, 2013]. Die resilienzorientierte Sicht darf jedoch nicht dazu verleiten, die Belastungen zu unterschätzen, denen Geflüchtete ausgesetzt sind, oder gar den Grund für das Entstehen psychischer Erkrankungen in einer mangelnden Widerstandsfähigkeit des Individuums zu sehen. Aufgabe von Psychotherapeut*innen ist es daher, ihre Haltung, insbesondere gegenüber Patient*innen mit Fluchterfahrung, um eine resilienzorientierte Perspektive zu erweitern, ohne dabei davon auszugehen, dass Resilienz universell oder selbstverständlich sei [Fooken, 2013].
Statement of Ethics
Die Studie entsprach allen Anforderungen der Deklaration von Helsinki und wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig genehmigt (446/16-ek). Vor dem Ausfüllen des Fragebogens wurde das schriftliche Einverständnis der Teilnehmenden eingeholt.
Conflict of Interest Statement
Die Autor*innen erklären, dass keine Interessenskonflikte bestehen.
Funding Sources
Die Studie wurde durch die Roland Ernst Stiftung für Gesundheitswesen finanziert.
Author Contributions
Y.N. und H.G. waren für die Planung der Studie sowie die Datenerhebung verantwortlich. C.P. führte die Analysen durch und erstellte die erste Manuskriptfassung. Y.N. und H.G. kommentierten die Erstfassung und C.P. erstellte die finale Manuskriptfassung.
Data Availability Statement
Die Daten können auf Anfrage bei der Korrespondenzautorin zur Verfügung gestellt werden.