Zusammenfassung
Expositionstherapie stellt mittlerweile eine anerkannte Behandlungsmethode für chronische Rückenschmerzen dar – insbesondere wenn Patientinnen und Patienten zusätzlich unter erhöhten schmerzbezogenen Ängsten sowie Vermeidungsverhalten leiden. Ziel dieses Verfahrens ist, bestehende Ängste und Vermeidung im Hinblick auf spezifische Bewegungen abzubauen, um dadurch langfristig schmerzbedingte Beeinträchtigungen zu reduzieren. Der übliche Ablauf dieses Therapieverfahrens wird anhand eines konkreten Patientenbeispiels verdeutlicht. Zudem werden die Effekte und lerntheoretischen Grundlagen von Expositionen und Verhaltensexperimenten dargestellt. Es wird diskutiert, inwiefern eine Kombination beider Interventionen die spezifischen Besonderheiten schmerzbezogener Ängste optimaler adressiert. Bezüglich dieser Frage werden erste Ergebnisse aus laborexperimentellen Studien vorgestellt sowie ein Überblick über aktuelle Wirksamkeitsbelege und Weiterentwicklungen der Expositionstherapie bei chronischen Schmerzen gegeben.
Abstract
Exposure therapy is considered an effective approach for the treatment of chronic back pain – particularly if individuals also suffer from elevated pain-related fear and avoidance. The principal goal of this treatment approach is to reduce fear and avoidance behavior towards specific movements and to improve pain-related disability as a result. The presentation of a specific patient example gives an overview about the general proceedings of this therapy approach. General effects and basic learning principles of exposures and behavioral experiments are outlined. Thereby, we discuss how treatment effects might be further optimized for this specific patient group, if exposure sessions and behavioral experiments are combined. We present first results from laboratory experiments which support this hypothesis and give an overview about current evidence and developments for exposure therapy in chronic pain.
KeywordsFear avoidance model, Exposure therapy for chronic pain, Fear avoidance beliefs, Behavioral experiments
Psychologische Schmerztherapie
Psychologische Schmerztherapie wird übergreifend von internationalen Behandlungsleitlinien zur Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen empfohlen [Oliveira et al., 2018]. Unter dem Begriff der psychologischen Schmerztherapie werden mittlerweile eine Reihe von unterschiedlichen Behandlungsansätzen subsumiert [Kröner-Herwig, 2014].
In der therapeutischen Praxis hat sich insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie als das am häufigsten eingesetzte Behandlungsverfahren etabliert. Als Haupttherapiefokus dieses Verfahrens gilt die Vermittlung unterschiedlicher Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei geht es jedoch nicht um eine Erreichung einer Schmerzreduktion im eigentlichen Sinne, vielmehr steht die Verringerung schmerzbedingter Einschränkungen im Alltag im Vordergrund. Eingesetzte therapeutische Strategien beinhalten üblicherweise eine Breite an Interventionen [Turk, 2003]. Operante Interventionen wie der graduierte Aktivitätenaufbau zielen auf eine Anpassung des Aktivitätsniveaus unter Berücksichtigung von externen und internen Verstärkern. Kognitive Interventionen beinhalten die Modifikation schmerzfördernder Gedanken oder das Erlernen gezielter Aufmerksamkeitslenkung. Respondente Interventionen versuchen, durch den Einsatz von Entspannungstechniken oder Biofeedback eine Reduktion der Muskelanspannung zu erreichen.
Die Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie bei der Behandlung allgemeiner chronischer Schmerzen ohne Berücksichtigung von Kopfschmerzen gilt als belegt, die Effektstärken liegen jedoch im kleinen bis mittleren Bereich [Williams et al., 2012]. Für die größte Subpopulation der chronischen Rückenschmerzen zeigten sich Therapieeffekte in Bezug auf eine Schmerzreduktion und Verbesserung depressiver Symptome als ebenfalls unbefriedigend [Henschke et al., 2010]. Entsprechend besteht ein großer Bedarf, erfolgreichere Behandlungsansätze zu entwickeln.
Eine Möglichkeit, um psychologische Schmerztherapie zu verbessern, bietet der Ansatz des Tailored-Treatments. Dessen Vertreter fordern eine individuellere Sichtweise, um gezielter auf dysfunktionale Mechanismen bestimmter Patientensubgruppen eingehen zu können [Vlaeyen und Morley, 2005]. Expositionstherapie in vivo baut auf theoretischen Grundlagen des Fear-Avoidance-Modells auf und wurde als spezifischer Therapieansatz für Schmerzpatienten mit erhöhten schmerzbezogenen Ängsten entwickelt.
Fear-Avoidance-Modell
Die theoretische Grundlage für Expositionstherapie bei chronischen Schmerzen bildet das Fear-Avoidance-Modell. Das etablierte biopsychosoziale Erklärungsmodell hebt insbesondere die Rolle von schmerzbezogenen Ängsten und Vermeidungsverhalten bei der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Rückenschmerzen hervor [Vlaeyen und Linton, 2000]. In dem Modell werden nach einer Verletzung zwei gegenläufige Prozesse angenommen: Konfrontation versus Vermeidung. Während sich die meisten Menschen nach einer angemessenen Schonphase wieder allmählich mit Aktivitäten konfrontieren, vermeidet es eine spezifische Subgruppe, ihren Körper im Nachgang allzu stark zu belasten. Grund hierfür ist eine ausgeprägte Angst und Überzeugung, dass “falsche” Bewegungen ihrem Köper zusätzlichen Schaden zufügen könnten.
Als lerntheoretische Grundlage werden bei der Entwicklung schmerzbezogener Ängste klassische und operante Konditionierungsmechanismen angenommen. Ein neutraler Stimulus (z.B. eine spezifische Bewegung) wird zeitlich mit einem unkonditionierten Stimulus (US, Schmerz) sowie der einhergehenden unkonditionierten Reaktion (UR, schmerzbezogene Angst) gepaart. Folglich wird der ursprünglich neutrale Stimulus zu einem konditionierten Stimulus (CS). Er führt fortan zu derselben Reaktion (CR, schmerzbezogene Angst) und steuert zukünftiges Verhalten über operante Mechanismen. Das heißt Vermeidung führt zu einer kurzfristigen Abnahme der Angst (negative Verstärkung) und verhindert dadurch die Möglichkeit einer korrigierenden Erfahrung.
Die Angst vor spezifischen Bewegungen und die damit einhergehende Vermeidung bilden das Herzstück des Teufelskreismodells. Sie begünstigen den Abbau der Muskulatur, die Entwicklung einer depressiven Symptomatik und die Zunahme des Beeinträchtigungserlebens, was zur Aufrechterhaltung der Schmerzsymptomatik beiträgt.
Als Besonderheit werden – anders als bei Angststörungen und Phobien – schmerzbezogene Angstkognitionen (“Falsche Bewegungen können meinem Rücken schaden”) häufig nicht als irrational erkannt. Einerseits sind akute Schmerzen tatsächlich ein Warnsignal vor Schädigung, welches allerdings im Laufe einer Chronifizierung verloren geht. In anderen Fällen basieren Erwartungen der Patientinnen und Patienten auf realen Erfahrungen. Beispielweise tritt der Hexenschuss während einer Bückbewegung auf. Die Bewegungsangst geht in diesem Fall häufig mit der Erwartungshaltung einher, dass diese spezifische Bewegung in dem Sinne schädlich ist, als dass sie zu einer (Wieder-)Verletzung führen kann. Diese Erwartung widerspricht der Beobachtung, dass physische Aktivität generell mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einhergeht, an Rückenschmerzen zu leiden – ausgenommen schwerer körperlicher Arbeit [Alzahrani et al., 2019]. Zudem gelten Bewegungstherapien und die Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität bei akuten und chronischen Rückenschmerzen als empfohlen [Oliveira et al., 2018]. Experimentelle Studien zeigen, dass bewegungsängstliche Schmerzpatienten dazu neigen, Schmerzen sowie die Schädlichkeit von Bewegungen zu überschätzen [Crombez et al., 2002]. Weiterhin sind Angstvermeidungsüberzeugungen sowohl in der Allgemeinbevölkerung [Houben et al., 2005] als auch unter Behandlern verbreitet. Dies kann zu einer zusätzlich ungünstigen Dynamik führen: In Studien konnte beispielsweise belegt werden, dass therapeutische Empfehlungen zur Bettruhe [Coudeyre et al., 2006] oder maximalen Hebeleistung von Patientinnen und Patienten [Lakke et al., 2015] abhängig von der Ausprägung der Angstvermeidungsüberzeugungen ihrer Behandler sind. Solche teilweise uneindeutigen Informationen seitens der Behandler (“Sehr schwere Sachen sollten sie lieber gar nicht oder nur sehr vorsichtig heben. Abgesehen davon sind sie aber wieder voll belastbar”) können Ängste und Unsicherheiten von Patientinnen und Patienten zusätzlich verstärken und diese als plausibel und berechtigt erscheinen lassen.
Bisher herrscht noch Unklarheit über eine eindeutige Konzeptualisierung von schmerzbezogenen Ängsten. Sie wurden ursprünglich als Bewegungsphobie (“Kinesiophobie”) konzeptualisiert [Miller et al., 1990]. Dieses Konstrukt wurde jedoch vielfach in Frage gestellt und kritisiert [Pincus et al., 2010; Crombez et al., 2012]. Barke et al. [2012] argumentieren vielmehr für eine kognitive Interpretation im Sinne von katastrophisierenden Schädlichkeitserwartungen.
In einer Überarbeitung des ursprünglichen Modells wird überdies dem jeweiligen motivationalen Kontext eine größere Bedeutung eingeräumt [Vlaeyen et al., 2016]. Betroffene sind permanent mit Zielkonflikten konfrontiert. Zum einen möchten sie beispielsweise einer Verabredung nachgehen und zum anderen eine Schmerzsteigerung vermeiden. Dabei müssen schmerzbezogene Ängste nicht immer automatisch zu Vermeidungsverhalten führen, sondern können unterdrückt werden, wenn andere Lebensziele und Werte in der jeweiligen Situation als wichtiger eingeschätzt werden. Häufig werden alltägliche Verpflichtungen beispielsweise auf der Arbeit auch unter großen Ängsten aufrechterhalten. Aktive Freizeitaktivitäten werden jedoch eingestellt, um vermeintlich Kräfte zu sparen und den Körper zu schonen. Ein Ziel der Therapie ist daher, das Verhalten der Patientinnen und Patienten in Bezug auf ihre Gesundheit und Lebensqualität kritisch zu hinterfragen und den Hauptfokus des Behandlungsvorgehens daraus abzuleiten.
Insgesamt liefert das Fear-Avoidance-Modell einen wertvollen theoretischen Ansatz zur Definition einer spezifischen Patientengruppe. Bei dieser Subgruppe an Schmerzpatienten scheint die Vermittlung von Schmerzbewältigungsstrategien möglicherweise nicht zielführend. Die Vermittlung von beispielswiese Entspannungstechniken könnte bestehende Unsicherheiten sogar zusätzlich schüren: Patientinnen und Patienten, die zu schmerzbezogenem Katastrophisieren neigen, könnten dies als indirekte Aufforderung verstehen, ihren Körper zusätzlich schonen zu müssen. Zur Bewältigung schmerzbezogener Ängste ist deshalb möglicherweise ein spezifischeres Behandlungsvorgehen erforderlich, obwohl eine empirische Überprüfung dieser Hypothese bisher noch aussteht. Neuere Ansätze zur Konzeptualisierung schmerzbezogener Ängste betonen hierbei die Rolle katastrophisierender Erwartungen.
Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen
Bei der Exposition in vivo werden chronische Rückenschmerzpatienten mit gefürchteten bisher vermiedenen Bewegungen konfrontiert. Ziele der Intervention sind der Abbau von Vermeidungsverhalten und schmerzbezogener Ängste. Bei diesem Vorgehen wird zudem der Überprüfung von Schädlichkeitserwartungen eine entscheidende Rolle beigemessen [Vlaeyen und Crombez, 2020].
Vor dem Beginn der eigentlichen Behandlung sollten zunächst eine ausführliche Anamnese sowie eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt werden. Expositionstherapie bei chronischen Schmerzen gilt dann als besonders geeignet, wenn die Patientinnen und Patienten durch ihre Schmerzen stark beeinträchtigt sind und gleichzeitig ein hohes Maß an schmerzbezogenen Ängsten aufweisen. Zur Erfassung funktioneller Beeinträchtigungen wird im Bereich chronischer Schmerzen der Pain Disability Index [Dillmann et al., 1994] vielfach eingesetzt. Daneben erweist sich die Quebec Back Pain Disability Scale [Riecke et al., 2016] zur Einschätzung der Indikation eines expositionsbasierten Ansatzes als günstig, da in diesem Fragebogen schmerzbedingte Einschränkungen vergleichsweise verhaltensnah und konkret erfasst werden. Schmerzbezogene Ängste können ebenfalls mittels Fragebögen, wie beispielsweise der Pain Anxiety Symptoms Scale-20 [Kreddig at al., 2015], erhoben werden. Eine objektivere und verhaltensnahe Erfassung von Vermeidung ermöglicht der Behavioral Avoidance Test – Back Pain [Holzapfel et al., 2016], welcher Vermeidungsverhalten beim Ausführen einer spezifischen Bewegung, nämlich beim Heben eines Wasserkastens, misst.
Expositionen bei chronischen Schmerzen sollten nicht durchgeführt werden, wenn Hinweise auf die sogenannten “Red Flags” vorliegen [Premkumar et al., 2018]. Diese gelten als Signale (z.B. Entzündungszeichen, Fieber, Gewichtsverlust oder neurologische Ausfälle) für eine gravierende Schmerzursache. Außerdem empfehlen wir – insbesondere in ambulanten Settings – dringend die Konsultation mit dem zuständigen ärztlichen oder physiotherapeutischen Behandlungsteam. Diese Absprache kann nicht nur die spätere Compliance der Patientinnen und Patienten verbessern, sondern auch zu einer größeren Sicherheit bei der Durchführung der späteren Expositionen seitens der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten führen.
Zu Therapiebeginn steht vor allem die Informationsvermittlung zum Thema chronischer Schmerz unter besonderer Berücksichtigung des Fear-Avoidance-Modells im Vordergrund. Hierzu wird ein individualisiertes Teufelskreismodell erarbeitet, sowie kurz- und langfristige Konsequenzen von Vermeidungsverhalten besprochen. Gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten sollte daraus das Expositionsrational abgeleitet sowie ein übergeordnetes Therapieziel mit Zwischenzielen definiert werden.
In Vorbereitung auf die folgenden Expositionsübungen wird für jede Patientin bzw. jeden Patienten eine individualisierte Angsthierarchie mithilfe der Photograph Series of Daily Activities [Trost et al., 2009] erstellt. Diese Skala umfasst 100 Bilder von Alltagsbewegungen, welche auf einer Skala von 0 bis 100 gemäß ihrer subjektiv wahrgenommenen Schädlichkeit für den Rücken eingestuft werden sollen. Bei der Durchführung findet zudem eine Art kognitive Vorbereitung der Exposition statt, Patientinnen und Patienten werden darin geschult, Schmerz und Schädlichkeit differenziert zu betrachten. Für viele ist dies zunächst ungewohnt, da sie bisher Schmerz und Schädigung als gleichbedeutend verstanden haben.
Auf dieser Angsthierarchie aufbauend werden im weiteren Therapieverlauf Expositionsübungen durchgeführt. Anders als bei Angststörungen wird ein graduiertes Vorgehen im Bereich chronischer Rückenschmerzen empfohlen. Für die ersten Expositionssitzungen werden Bewegungen mit einer subjektiv wahrgenommenen Schädlichkeitshöhe zwischen 50 und 70 als ideal erachtet. Es hat sich als hilfreich erwiesen, potenziell ungünstige Vermeidungsstrategien, sogenanntes Sicherheitsverhalten (z.B. Schonhaltungen während der Durchführung, sehr schnelle bzw. sehr langsame Durchführung einer Bewegung, Einnahme von Bedarfsmedikation), vor der Durchführung einer Exposition mit den Patientinnen und Patienten zu besprechen. Weiterhin können Hausaufgaben und Übungen in verschiedenen Kontexten die Generalisierung der Expositionseffekte unterstützen. Ein typischer Ablauf einer Expositionstherapie ist in Tabelle 1 dargestellt.
Expositionen mit Verhaltensexperimenten
Als allgemein anerkanntes Ziel der Exposition gilt die Verringerung der Angst. Auch bei ängstlichen Schmerzpatienten wird das Angstniveau kontinuierlich erhoben, und die Übungen werden so lange fortgesetzt, bis es zu einem starken Angstabfall kommt. Dieses Vorgehen basiert auf theoretischen Annahmen des Habituationsmodells [Rauch und Foa, 2006]. Nach Annahmen dieses Modells führen erfolgreiche Expositionen zu einer spezifischen Veränderung im Muster der psychophysiologischen Angstreaktion. Als essentiell gilt es, Angst zunächst zu aktivieren, um durch den anschließenden Angstabfall eine Veränderung in der Furchtstruktur zu erreichen. Begründet werden kann dieses Vorgehen zudem damit, dass die Verbalisation des emotionalen Erlebens während einer Expositionserfahrung zusätzlich hilfreich erscheint [Kircanski et al., 2012]. Allerdings ist umstritten, inwiefern der Abfall der Angst tatsächlich als notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Expositionserfahrung anzusehen ist [Craske et al., 2014]. Andere Autoren betonen eher die Rolle einer anhaltenden psychophysiologischen Aktivierung, welche zu einer Verbesserung von Lerneffekten beitragen kann. Dementsprechend sollen Expositionserfahrungen eher darauf abzielen, aufkommende Angstgefühle tolerieren zu lernen. Diese Überlegungen scheinen insbesondere im Bereich chronischer Schmerzen relevant. Chronische Schmerzen sind per Definition langanhaltend, und deswegen erscheint eine gewisse Toleranz gegenüber Schmerzerfahrungen für die Rückkehr in ein wertvolles Leben mitchronischen Schmerzen entscheidend.
Ein aktuelles Übersichtspaper zu Exposition bei chronischen Schmerzen betont darüber hinaus die Überprüfung von katastrophisierenden Erwartungen als zentralen Mechanismus [Vlaeyen und Crombez, 2020]. Bei Verhaltensexperimenten steht genau diese Überprüfung konkreter Befürchtungen (z.B. “Wenn ich Fahrrad fahre, schädige ich durch mögliche Stöße aufgrund von Straßenunebenheiten meinen Rücken”) im Vordergrund. Dazu werden Erwartungen in Bezug auf Bewegungen in Form von “Wenn-Dann-Sätzen” ausformuliert. Anschließend werden diese gemeinsam überprüft. Die Therapeutin fungiert zunächst als Modell, woraufhin der Patient bzw. die Patientin die Bewegung selbst ausführt. Dabei findet ein Abgleich zwischen der Erwartung und der tatsächlichen Erfahrung statt. Experimentelle Studien bestätigen, dass katastrophisierende Schmerzpatienten Schmerz und Schädlichkeit in Bezug auf Bewegungen zunächst überschätzen und dass diese Überschätzung durch Konfrontation korrigiert werden kann [Crombez et al., 2002; Goubert et al., 2002].
Deshalb stellt sich insbesondere im Bereich chronischer Schmerzen, bei denen schmerzbezogene Angstkognitionen eine zentrale Rolle einnehmen, die Frage: Können Exposition und Verhaltensexperimente überhaupt als eigenständige, unabhängige Interventionen betrachtet werden, oder handelt es sich dabei nicht eher um eine theoretische, künstliche Trennung?
In der klinischen Praxis werden Exposition und Verhaltensexperiment häufig miteinander kombiniert und gemeinsam durchgeführt. Eine klare Trennung ist kaum möglich, da die Überschneidungen sehr groß sind. Zum einen bedeutet ein Verhaltensexperiment in den meisten Fällen die Konfrontation mit einer gefürchteten Situation. Zum anderen kann bei der wiederholten Überprüfung der Befürchtung auch die Angst reduziert werden [den Hollander et al., 2010]. Andere Autoren argumentieren, dass die korrigierende Erfahrung eine Angstreduktion erst ermöglicht [Leeuw et al., 2007].
Für die Überlappung der beiden Verfahren sprechen weiterhin Erkenntnisse moderner Lerntheorien. Extinktion bzw. das Inhibitionsmodell bilden die lerntheoretische Grundlage für Expositionstherapie. Es gilt als allgemein anerkannt, dass Expositionserfahrungen nicht zu einer endgültigen Löschung der ursprünglichen Angstassoziation, sondern lediglich zu einer konkurrierenden, inhibitorischen Lernerfahrung führen [Bouton, 2004]. Experimentelle Studien belegen darüber hinaus, dass Extinktion durch die Veränderung von Erwartungen stattfindet [Hofmann, 2008]. Um diese neu gebildete Assoziation bestmöglich zu stärken, werden für die Durchführung von Expositionen eine Reihe von Empfehlungen aus lerntheoretischer Grundlagenforschung abgeleitet [Craske et al., 2014]. Darunter fällt unter anderem die Ausformulierung von Erwartungen. Je mehr die Expositionserfahrung von der ursprünglichen Erwartung abweicht, desto stärker ist die neu gelernte, inhibitorische Verbindung.
Laborexperimentelle Studien liefern erste Hinweise, dass eine erwartungsverletzende Instruktion Expositionseffekte bei der Steigerung von Schmerztoleranz zusätzlich optimieren kann [Schemer et al., 2020]. In der Untersuchung wurden bei Studierenden zunächst typische schmerzbezogene Befürchtungen induziert. Anschließend fand die Konfrontation mit einem Hitzereiz statt. Währenddessen wurde entweder das Angstlevel der Teilnehmenden kontinuierlich abgefragt oder die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer vorher formulierten negativen Erwartung. Nur die Erwartungsverletzungsinstruktion führte im Vergleich zur Kontrollgruppe zu einem signifikanten Anstieg in der Schmerztoleranz. Weiterhin zeigte sich nur in dieser Gruppe ein spezifisches psychophysiologisches Aktivierungsmuster, welches sich besser durch Annahmen des Inhibitionsmodells erklären ließ. Eine Replikation in einer klinischen Strichprobe steht jedoch noch aus. Auch Interventionsstudien belegen, dass sich Expositionstherapie auf kognitive Konstrukte auswirken und zu einer signifikanten Abnahme von Schädlichkeitserwartungen führen kann [Leeuw et al., 2008, Riecke et al., 2020]. Exposition in vivo scheint dabei vor allem zu einer Reduktion einer überschätzten Schädlichkeitserwartung nicht jedoch zu einer Abnahme der Schmerzerwartung zu führen [Riecke et al., 2020]. Dieser Befund ist insofern interessant, als dass er darauf hindeutet, dass es während der Exposition zu einer Umbewertung des Schmerzes kommen kann. Dies deckt sich mit unserem klinischen Eindruck, dass Patienten während der Exposition eine Bewegung durchaus als schmerzhaft erleben, aber die Erfahrung machen, dass die erwartete Verletzung nicht eintritt. Dieser Umlernprozess ist für Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen entscheidend [Moseley and Butler, 2015]. Während akute Schmerzen auf eine Gefahr oder Schädigung hinweisen, verlieren chronische Schmerzen diese Signalfunktion.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Erwartungsverletzung als zentraler Mechanismus der Exposition anerkannt ist [Craske et al., 2014]. In einem Übersichtsartikel geht Hofmann sogar so weit, Exposition als kognitive Intervention einzuordnen [Hofmann, 2008]. Insbesondere bei der Behandlung ängstlich-vermeidender, chronischer Rückenschmerzpatienten scheinen Exposition und Verhaltensexperiment in ihrer Kombination indiziert und besonders effektiv zu sein. Darüber hinaus folgt die kombinierte Umsetzung konsequent lerntheoretischen Erkenntnissen und wird den spezifischen Anforderungen dieser Subgruppe an Schmerzpatienten besonders gerecht. Ein Beispiel für beide Vorgehensweisen ist in Tabelle 2 dargestellt.
Wirksamkeitsbelege und Weiterentwicklungen für die Expositionstherapie bei Schmerzen
Die Wirksamkeit von Expositionstherapie bei chronischen Schmerzen wurde zunächst in experimentellen Einzelfallstudien [z.B. Vlaeyen et al., 2001] und später in randomisiert kontrollierten Therapiestudien [z.B. Leeuw et al., 2008] getestet. Meist wurde Exposition mit dem Ansatz des graduierten Aktivitätenaufbaus verglichen. Dieser Ansatz galt als bisheriges Standardverfahren, um übermäßiges Schonverhalten abzubauen und ist üblicherweise ein Element der kognitiven Verhaltenstherapie (siehe operante Interventionen). In einer Übersichtsarbeit wurden vorliegende Wirksamkeitsbelege beider Therapieverfahren systematisch miteinander verglichen [López-de-Uralde-Villanueva et al., 2016]. Hierbei erwies sich die Expositionstherapie insbesondere in Bezug auf die Reduktion schmerzbedingter Beeinträchtigung und Katastrophisieren mit kleinen bis mittleren Effektstärken im Vergleich zu dem graduiertem Aktivitätenaufbau als überlegen.
Die Gegenüberstellung von kognitiver Verhaltenstherapie (mit operanten, kognitiven und respondenten Elementen) als allgemeiner Therapieansatz im Vergleich zu Expositionstherapie als spezifischer Ansatz wurde in einer kürzlich veröffentlichen Therapiestudie vorgenommen [Glombiewski et al., 2018]. Weiterhin wurden Dosierungseffekte von Expositionstherapie untersucht. Eine Patientengruppe erhielt insgesamt 15 Sitzungen mit jeweils 10 Expositionssitzungen, eine andere Patientengruppe durchlief insgesamt 10 Sitzungen mit jeweils 5 Expositionssitzungen. Kognitive Verhaltenstherapie wurde mit insgesamt 15 Sitzungen dargeboten. Die Therapien wurden in einem ambulanten Setting durchgeführt. Teilnehmende (n = 88; 55% weiblich) litten durchschnittlich 15 Jahre an ihrem chronischen Rückenleiden und wiesen erhöhte Angst vor Bewegung sowie eine erhöhte schmerzbedingte Beeinträchtigung auf.
Sowohl zum Therapieende als auch 6 Monate später führten beide Expositionsbedingungen zu deutlich höheren Raten der reliablen und klinisch signifikanten Veränderungen in Bezug auf eine verhaltensnahe schmerzbedingte Beeinträchtigung (gemessen mit der Quebec Back Pain Disability Scale) im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie. Effektstärken lagen hierbei für die kognitive Verhaltenstherapie in einem mittleren, für die Expositionstherapie in einem großen Bereich. In Bezug auf eine eher global gemessene schmerzbedingte Beeinträchtigung auf unterschiedliche Lebensbereiche (gemessen mit dem Pain Disability Index) erzielten beide Therapiebedingungen gleichermaßen große Effektstärken. Weiterhin war Expositionstherapie effektiver als kognitive Verhaltenstherapie in der Verbesserung der psychologischen Flexibilität. Kognitive Verhaltenstherapie hingegen führte zu einer deutlicheren Steigerung bezüglich der Kompetenzen zur Schmerzbewältigung im Vergleich zur Expositionstherapie. Zudem übertraf die kurze Expositionsbehandlung die lange Expositionsbehandlung nach 10 Sitzungen. Dies spricht für eine hohe Ökonomie des Verfahrens. Gleichzeitig kam es in der Expositionstherapie zu vermehrten Therapieabbrüchen. 30% der Teilnehmenden berichteten von Nebenwirkungen, wobei sich kein Unterschied zwischen den Therapiebedingungen zeigte. Es gab keine Berichte über Verletzungen aufgrund von Expositionen. Insgesamt scheint Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen also eine hoch effektive und ökonomische Behandlungsform zu sein, wenngleich die Behandlung für die Patientinnen und Patienten herausfordernder war als die kognitive Verhaltenstherapie.
Eine aktuelle Weiterentwicklung des Expositionsansatzes stammt aus Schweden. Dort wurde der klassische Expositionsansatz durch zusätzliche Therapieelemente aus der dialektisch-behavioralen Therapie angereichert. Dahinter verbirgt sich die Idee, den Patientinnen und Patienten zusätzliche Emotionsregulationsstrategien an die Hand zu geben, um der üblicherweise hohen Rate an komorbiden affektiven Störungen entgegenzuwirken [Linton, 2013].
In einer ebenfalls kürzlich veröffentlichen Therapiestudie wurde diese Hybridform aus Expositionstherapie und dialektisch-behavioraler Therapie als Face-to-Face-Behandlung mit einem internetbasierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehen verglichen [Boersma et al., 2019]. Teilnehmende (n = 115; 55% weiblich) litten durchschnittlich 10 Jahre an chronischen Schmerzen und wiesen zusätzliche Probleme in der Emotionsregulation auf (vorwiegend Depression und Angststörungen). Sowohl zum Therapieende als auch 9 Monate später führte die Hybridbehandlung zu höheren Raten der reliablen und klinisch signifikanten Veränderungen bezüglich der erhobenen Therapieoutcomes im Vergleich zur internetbasierten kognitiven Verhaltenstherapie. Die Ergebnisse fielen mit großen Effektstärken für die Hybridbehandlung besonders deutlich in Bezug auf die schmerzbedingte Beeinträchtigung im alltäglichen Leben aus im Vergleich zu kleinen bis mittleren Effektstärken für die internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie. Es zeigten sich ebenfalls mittlere bis große Unterschiede in Bezug auf Depression, Angst und schmerzbezogenes Katastrophisieren in der Hybridbehandlung im Vergleich zu kleinen bis mittleren Effektstärken in der Vergleichsgruppe. Diese Weiterentwicklung ist ein interessantes transdiagnostisches Behandlungskonzept für Patienten und Patientinnen mit chronischen Schmerzen und zusätzlichen Defiziten in der Emotionsregulation. Der Vergleich mit einem anderen live dargebotenen Therapieansatz steht jedoch noch aus.
Zusammenfassende Empfehlungen für die therapeutische Praxis
Expositionen und Verhaltensexperimente erwiesen sich bei der Behandlung einer spezifischen Subgruppe chronischer Rückenschmerzpatienten mit erhöhten schmerzbezogenen Ängsten als hochwirksam. Die kombinierte Umsetzung beider Interventionen scheint die Methode der Wahl zu sein und die Besonderheiten dieser spezifischen Patientengruppe zu adressieren. Die Kombination beider Interventionen bietet einen erfahrungsbasierten Ansatz, der die zentralen Aspekte der kognitiven Verhaltenstherapie miteinander vereint. Dabei wird sowohl die Bearbeitung auf emotionaler (Angstreduktion) und kognitiver Ebene (Korrektur von Schädlichkeitserwartungen) als auch die konkrete Veränderung von Verhalten angesprochen. Diese Veränderungen führen langfristig zu einer Reduktion des Beeinträchtigungserlebens und einem selbstbestimmteren Leben, indem Betroffene wieder nach ihren persönlichen Zielen handeln können.
Praxistipp
Patienten profitieren von einer Konfrontation mit gefürchteten bisher vermiedenen Bewegungen, diese sollten von persönlicher Bedeutung sein (z.B. Fahrradfahren als Hobby zurückgewinnen). Vor der Exposition sollten konkrete Erwartungen erfragt werden, welche in Form von Wenn-Dann-Sätzen ausformuliert werden. Während der Exposition werden diese Befürchtungen mit der gegenwärtigen Erfahrung abgeglichen. Typischerweise werden an dieser Stelle von den Patientinnen und Patienten Erwartungen über die Zunahme ihrer Schmerzen formuliert. Prinzipiell lässt sich eine solche Erwartung natürlich ebenfalls im Rahmen eines Verhaltensexperiments testen (“Ich werde die Schmerzen nicht aushalten können”). Bestenfalls kann es hierbei bereits zu einer Entkopplung des vermeintlichen Zusammenhangs zwischen der Durchführung bestimmter Bewegungen und einer Zunahme des Schmerzerlebens kommen. Für das praktische Vorgehen hat es sich allerdings bewährt, die Bedeutung einer möglichen Schmerzzunahme weiter zu konkretisieren. Dadurch können Schmerz und Schädlichkeitsannahmen häufig eindeutiger getrennt werden. Das Hinterfragen von Schmerzen ist hierbei in vielen Fällen trotzdem eine schwierige Angelegenheit. Der Schmerz stellt für die Betroffenen verständlicherweise zunächst eine Grenze dar, die nicht überwunden werden kann. Auf die Frage, warum diese Bewegung nicht ausgeführt werden kann, folgt häufig die Antwort “Weil es weh tut.” Teil der kognitiven Arbeit ist es, den Schmerz gemeinsam zu hinterfragen. Als hilfreich haben sich folgende Fragen ergeben: “Was heißt das? Was bedeutet der Schmerz für Sie? Welche Konsequenz erwarten Sie? Was folgt auf den Schmerz?”
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