Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Die Persistenzraten für das Erwachsenenalter liegen allerdings zwischen 20 bis über 80%. Demnach handelt es sich um eine chronische Störung, die über die Lebensspanne hinweg zu erheblichen Beeinträchtigungen führen kann. In diesem Übersichtsartikel werden zunächst die Symptomatik, Klassifikation, Komorbidität und Epidemiologie der Störung dargestellt, wobei auf Unterschiede in den verschiedenen Lebensphasen (Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter) eingegangen wird. Daran anschließend wird die ADHS als Entwicklungsstörung dargestellt und mögliche Entwicklungspfade und Risikofaktoren werden beschrieben. Abschließend werden diagnostische und therapeutische Ansätze in den unterschiedlichen Lebensphasen vorgestellt.

ADHD · Development · Childhood · Adolescence · Adulthood · Life span · Pathophysiology · Prevention · Therapy

The attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD) is subsumed under disorders beginning in childhood and adolescence. For adulthood, persistence rates of 20-80% have been reported. Thus, ADHD is a chronic disorder that might result in severe impairments over the life span. This review reports on the symptomatology, classification, co-morbidity, and the epidemiology of ADHD over the life span (from childhood to adulthood). Subsequently, ADHD is introduced as a developmental disorder, possible trajectories and risk factors are described. Diagnostic and therapeutic approaches are reported for the different age groups.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird in den beiden großen Klassifikationssystemen DSM-IV/5 (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders [American Psychiatric Association, 2000, 2013]) und ICD-10 (International Classification of Diseases [World Health Organization, 1992]) unter den Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend aufgeführt. Lange Zeit galt ADHS demnach ausschließlich als Störung des Kindes- und Jugendalters. Verschiedene Längsschnittstudien, die in den 1980er- und den frühen 1990er-Jahren durchgeführt wurden, zeigten jedoch, dass es sich bei der ADHS sehr oft um ein Störungsbild mit chronischem Verlauf handelt [Kessler et al., 2005]. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass bei ausgeprägter Heterogenität je nach Studie die Persistenzraten für das Erwachsenenalter zwischen 20 bis über 80% liegen [Fischer und Barkley, 2007; Steinhausen et al., 2003]. Betroffene Erwachsene weisen ein erhöhtes Risiko für niedrigere Bildungsniveaus, geringeren beruflichen Erfolg, stärkere berufliche Instabilität, mehr Substanzmissbrauch und antisoziales Verhalten sowie interpersonelle Probleme insbesondere auch in Partnerschaften auf [Barkley et al., 1996; Eakin et al., 2004; Mannuzza et al., 1993]. Insofern handelt es sich bei der ADHS um eine Störung mit Beginn in Kindheit und Jugend, die einen chronisch beeinträchtigenden Verlauf nehmen und auch im Erwachsenenalter noch einen hohen Behandlungsbedarf haben kann.

Im Folgenden werden kurz die Symptomatik, Klassifikation, Komorbidität und Epidemiologie der Störung dargestellt, um dann ausführlicher auf die ADHS als Entwicklungsstörung einzugehen und diagnostische und therapeutische Ansätze in den unterschiedlichen Lebensphasen vorzustellen.

Sowohl die ICD-10 als auch das DSM-IV/5 unterscheiden die 3 Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Diese müssen situationsübergreifend auftreten (z.B. zu Hause und in der Schule/im Kindergarten) und sich vor dem 7. (ICD-10/DSM-IV) bzw. aktuell 12. (DSM-5) [American Psychiatric Association, 2013] Lebensjahr manifestieren. Sind mindestens 6 Monate lang mindestens 6 Unaufmerksamkeitssymptome, 3 Überaktivitätssymptome und 1 Impulsivitätssymptom in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden, unangemessenen und klinisch beeinträchtigenden Ausmaß aufgetreten, wird nach dem ICD-10 die «Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung» (F90.0) klassifiziert. Bei Vorliegen komorbider Störungen des Sozialverhaltens wird die «Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens» klassifiziert (F90.1). Nach DSM-IV müssen analog insgesamt 6 von 9 Unaufmerksamkeits- (UA) bzw. Hyperaktivitäts-/Impulsivitätssymptome (HI) erfüllt sein; entsprechend können dann der «kombinierte Subtyp» (≥ 6 UA- + ≥ 6 HI-Symptome erfüllt), der «vorwiegend unaufmerksame Subtyp» (≥ 6 UA-, ≤ 5 HI-Symptome) bzw. der «vorwiegend hyperaktiv-impulsive Subtyp» (≥ 6 HI-, ≤ 5 UA-Symptome) klassifiziert werden. Nach ICD-10/DSM-IV sind Autismusspektrumstörungen ein Ausschlusskriterium, nach DSM-5 nicht mehr.

Die der ICD-10 bzw. dem DSM-IV zugrunde gelegten Kriterien sind für Jugendliche und Erwachsene oftmals unpassend (z.B. «fuchteln häufig mit Händen und Füßen» oder «winden sich auf den Sitzen») und resultieren aus Studien mit Kindern [Bell, 2011; Davidson, 2008; Faraone und Antshel, 2008]. Für die adulte ADHS ist festzustellen, dass die für das Kindesalter typische motorische Unruhe häufig einem Gefühl innerer Unruhe weicht; Symptome der Unaufmerksamkeit mit daraus folgenden Einschränkungen der exekutiven Funktionen und Desorganisation vor allem in Bezug auf Arbeitsanforderungen sind häufig, wie auch ein reduziertes Selbstbewusstsein/Selbstvertrauen und eine erhöhte emotionale Instabilität/reduzierte Affektkontrolle. Diese für das Erwachsenenalter typischen Symptome und Einschränkungen sind in den Wender-Utah-Kriterien zusammengefasst [Wender, 1995; Wender et al., 1981] (Tab. 1).

Table 1

Wender-Utah-Kriterien

Wender-Utah-Kriterien
Wender-Utah-Kriterien

Wenngleich die Wender-Utah-Kriterien aufgrund einiger Einschränkungen kritisiert wurden [Conners et al., 1997], zeigt sich doch, dass die formulierten Symptome und Beeinträchtigungen in verschiedenen Studien nachgewiesen werden konnten [zusammenfassend siehe Kooij et al., 2010]. Die adulte Symptomatik hat demzufolge im DSM-5 Berücksichtigung hinsichtlich folgender Punkte erhalten:

- Für Jugendliche (ab 17 Jahren) und Erwachsene werden nur noch 5 statt 6 Unaufmerksamkeits- bzw. Hyperaktivitäts-/Impulsivitätssymptome gefordert;

- die Liste hyperaktiv-impulsiver Symptome wurde auf 13 erweitert, die die Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter angemessener erfassen;

- die Symptombeschreibungen sind spezifischere Verhaltensbeschreibungen, die zum Teil auch besser auf Erwachsene zutreffen;

- das Ersterkrankungsalter wurde dahingehend erweitert, dass Unaufmerksamkeits- oder Hyperaktivitäts-/Impulsivitätssymptome vor dem 12. Lebensjahr (statt vor dem 7.) erkennbar sein müssen;

- die Symptome müssen zu einer eindeutigen Beeinträchtigung führen, aber nicht mehr vor dem 12. Lebensjahr.

Insgesamt werden hohe Komorbiditätsraten berichtet. Bis zu 70% der Kinder und Jugendlichen weisen psychische Auffälligkeiten in behandlungsbedürftigem Ausmaß auf [Reviews: Davidson, 2008; Stein et al., 2011]:

∼60% oppositionelle Verhaltensstörungen;

∼35-50% sonstige Störungen des Sozialverhaltens;

∼10-40% affektive Störungen, besonders depressive;

∼20-25% Angststörungen.

Für Teilleistungsstörungen werden Komorbiditätsraten von 25-80% berichtet [Jakobson und Kikas, 2007], wobei Kinder mit ADHS und komorbiden Teilleistungsstörungen schwerer beeinträchtigt sind, oftmals niedrigere Intelligenzquotient-Werte erreichen, geringe Sprachfertigkeiten aufweisen und insgesamt schlechtere schulische Erfolge erzielen [Semrud-Clikeman und Bledsoe, 2011].

Im Erwachsenenalter zeigt sich eine ähnlich hohe Komorbiditätsrate von bis zu 75% [Kessler et al., 2006; Kooij et al., 2010; Sobanski und Alm, 2004], insbesondere an Achse-I- (affektive Störungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch, Essstörungen, somatoforme Störungen, Anpassungsstörungen [Cumyn et al., 2007]), aber auch Achse-II- (zwanghafte, antisoziale und Borderline-Persönlichkeitsstörungen [Cumyn et al., 2007; Edvinsson et al., 2013; Van Emmerik-van Oortmerssen et al., 2014]) und somatischen Störungen [Spencer et al., 2014].

Diese Komorbiditäten können die Diagnostik sowohl im Kindes- und Jugend- als auch im Erwachsenenalter zum Teil erheblich erschweren und sollten innerhalb des diagnostischen Prozesses Berücksichtigung finden.

Nach 3 systematischen Reviews [Polanczyk und Rohde, 2007; Polanczyk et al., 2014; Roman et al., 2003] und 1 Meta-Analyse [Willcutt, 2012] wird eine gepoolte weltweite Punktprävalenz von etwa 5% für die ADHS im Kindes- und Jugendalter angenommen, wobei es starke Schwankungen in den «Prävalenzschätzungen» gibt. Diese gehen vor allem auf die verwendeten diagnostischen «Kriterien» (z.B. sind die ICD-Kriterien strenger als die DSM-Kriterien, da die ICD nicht die Klassifikation der 3 unterschiedlichen Subtypen nach DSM vorsieht und so insgesamt mehr Symptome erfüllt sein müssen, s.o.), die «Informationsquelle» (z.B. sind zur situationsübergreifenden Diagnostik sowohl Eltern- als auch Lehrkraft-/Erzieherurteile notwendig, s.o.) und die Berücksichtigung des «Beeinträchtigungskriteriums» zurück [Polanczyk und Rohde, 2007; Polanczyk et al., 2014].

Zwischen Jungen und Mädchen zeigen sich in den bislang vorliegenden Studien Unterschiede dahingehend, dass die Prävalenzraten für Jungen insgesamt höher sind [Ford et al., 2003; Huss et al., 2008]. Es gibt allerdings Hinweise, dass Mütter Jungen als auffälliger beurteilen und sich diese Geschlechtsunterschiede reduzieren, wenn die Mädchen ab dem frühen Jugendalter (∼12 Jahre) ihre Symptomatik selber einschätzen [Kan et al., 2013].

Für das Erwachsenenalter werden Prävalenzraten von 2,5-5% berichtet [Übersicht in Bell, 2011; Davidson, 2008; Kessler et al., 2006; Polanczyk und Rohde, 2007; Simon et al., 2009], wobei das Geschlechterverhältnis insgesamt ausgeglichener ist als im Kindes- und Jugendalter. Dies wird unter anderem mit der Selbstzuweisung von Erwachsenen und der Selbsteinschätzung der Symptome in Verbindung gebracht [Simon et al., 2009] und bestätigt damit die Hinweise auf eine mögliche Verzerrung durch die elterliche Einschätzung (s.o.). Diese internationalen Befunde werden auch in einer großen repräsentativen deutschen Prävalenzstudie bestätigt [De Zwaan et al., 2012]. Frauen weisen zudem mehr komorbide internalisierende Störungen auf, die ebenfalls mit einer höheren Selbstzuweisungsrate und damit ausbalancierteren Geschlechterverhältnissen im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht werden [Simon et al., 2009].

Aktuell wird angenommen, dass der ADHS multiple Entwicklungsprozesse zugrunde liegen und es sich bei der Erkrankung nicht um eine fixe/statische Störung handelt [Sonuga-Barke und Halperin, 2010]. Beispielsweise lassen sich Kinder mit frühem versus spätem Krankheitsbeginn unterscheiden. So konnten Längsschnittstudien zeigen, dass nur ein kleiner Anteil der Kinder mit frühem Erkrankungsbeginn noch im Schulalter Auffälligkeiten zeigt [Lavigne et al., 1998a, 1998b; Mathiesen und Sanson, 2000], aber die große Mehrheit der Fälle im Schulalter diagnostiziert wird [Sonuga-Barke und Halperin, 2010]. Ferner kann die Persistenz versus Fluktuation von Symptomen unterschieden werden. Als Erwachsene zeigten beispielsweise 20% der als Kinder mit ADHS diagnostizierten Patienten persistierende Symptome, 20% eine stabile Verbesserung und 60% mittelmäßige Verbesserungen in der emotionalen, schulisch/beruflichen und sozialen Anpassung [Spencer et al., 2007]. Diese Befunde bestätigend konnten Lahey und Willcutt [2010] in ihrer über 9 Jahre angelegten Längsschnittstudie zeigen, dass es über die Zeit hinweg starke Schwankungen in den 3 Symptombereichen gibt, die zum Teil dazu führten, dass Kinder im Verlauf nicht mehr die diagnostischen Kriterien einer ADHS erfüllten, aber dennoch weiterhin bedeutsame klinische Beeinträchtigungen aufwiesen. Diese Befunde könnten eine Erklärung für die starken Schwankungen in den Persistenzraten sein (s.o.).

Für diese Unterschiede im Entwicklungsverlauf werden 4 theoretische Phänotypen einer Entwicklungstaxonomie vorgestellt [Sonuga-Barke und Halperin, 2010]:

- Typ I (emergent oppositionality): Frühe subklinische ADHS-Symptome sind ein Risikofaktor für die Entwicklung oppositioneller Störungen, und ein strenger/negativer elterlicher Erziehungsstil wirkt moderierend auf die Entwicklung der Störung.

- Typ II (late-onset ADHD): Frühe subklinische ADHS-Symptome wirken sich langfristig klinisch bedeutsam aus, entweder durch den Einfluss von genetischen oder Umweltfaktoren oder aufgrund von Veränderungen des Kontexts, z.B. wenn das Kind in die Schule kommt.

- Typ III (preschool-limited ADHD): Frühe bedeutsame klinische Symptome wirken sich aufgrund protektiver Faktoren, wie z.B. strukturiertes Elternhaus/strukturierte Schule, klare Regeln und Grenzen, nicht weiter negativ aus, sodass es zu einer Unterbrechung der Störungsentwicklung kommt.

- Typ IV (early-onset chronic ADHD): Frühe, chronische Symptome bestehen bereits seit dem Kindergartenalter und gehen mit temperamentsbasierten Schwierigkeiten der Emotionsregulation einher, was in der Folge negatives elterliches Erziehungsverhalten verstärkt und darüber zu einer weiteren Verschlechterung der Symptomatik führt.

Eine Aufgabe für zukünftige Forschungen ist es, diese 4 möglichen Phänotypen zu überprüfen, im Längsschnitt zu beobachten und nach Möglichkeit frühzeitig bedarfsgerechte Interventionen zu entwickeln, die pathologische Entwicklungsverläufe verhindern können. Dafür sind Moderatoren und Mediatoren zu berücksichtigen, die den Entwicklungsverlauf der Störung beeinflussen. Diskutiert werden prä- und perinatale Risikofaktoren, Genetik, Gen-Umwelt-Interaktionen sowie biologische, neuropsychologische und Umweltmoderatoren. Zu diesen liegt eine Vielzahl an Einzelstudien und Reviews vor, mit zum Teil gut replizierten Befunden, zum Teil aber auch sehr heterogenen Ergebnissen. Ein Beispiel: Als gut gesichert gilt der Befund, dass ADHS erblich bedingt ist und verschiedene Gene mit insgesamt kleinen Effekten zu einer Erblichkeit von ∼76% beitragen [Review: Faraone et al., 2005]. Gleichzeitig sind die Befunde dazu, welche Gene das Auftreten und die Erblichkeit der ADHS tatsächlich beeinflussen, extrem heterogen [Review: Li et al., 2014]. Befunde aus der epigenetischen Forschung zeigen darüber hinaus, dass Umwelteinflüsse wie z.B. elterliche Feindseligkeit und Kritik den genetischen Effekt auf den ADHS-Schweregrad und komorbide Störungen des Sozialverhaltens moderieren [Sonuga-Barke et al., 2008a], wenngleich die Forschungslage zur Epigenetik der ADHS insgesamt noch dünn ist [Review: Elia et al., 2012]. Daraus folgt zweierlei: Zum einen müssen solche moderierenden und mediierenden Faktoren in der Entwicklungsforschung der ADHS berücksichtigt werden; zum anderen muss die jeweils entwicklungstypische Symptomatik sehr genau beschrieben werden, damit Entwicklungstypen korrekt identifiziert werden können. Dafür ist eine sehr genaue Diagnostik notwendig.

Für die Diagnostik der ADHS wurden verschiedene Leitlinien veröffentlicht [American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 2007; Taylor et al., 2004; Village, 2011]. Allen ist die Verwendung unterschiedlicher Methoden und Informationsquellen gemeinsam, die Verhaltensbeobachtungen, Eltern- und Lehrerfragebogen, standardisierte Interviews sowie eine somatische Befunderhebung empfehlen - sowohl für Kinder als auch für Jugendliche und Erwachsene. Nach den Leitlinien des National Institute for Health and Care Excellence (NICE; www.nice.org.uk/guidance/cg72) [Zusammenfassung: Atkinson und Hollis, 2010] sind die folgenden Empfehlungen bei der Diagnostik relevant:

- Die Diagnose sollte nur von einem Psychiater, Pädiater oder Spezialisten mit Ausbildung und Expertise im Bereich der ADHS vorgenommen werden;

- ADHS kann in allen Altersgruppen vorkommen und die Symptomkriterien sind altersangepasst auf das Verhalten anzuwenden;

- Fragebögen allein sind für eine Diagnose nicht ausreichend; eine Diagnose sollte auf einer klinisch-psychologischen Einschätzung basieren, eine vollständige Anamnese, Selbst- und Fremdurteile (von Eltern und Lehrkräften/Erziehern), komorbide Störungen, mögliche elterliche Erkrankungen sowie die Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten umfassen;

- Eine Diagnose sollte nur gestellt werden, wenn die Diagnosekriterien nach DSM oder ICD erfüllt sind, mit mindestens moderaten anhaltenden Beeinträchtigungen verbunden sind und in verschiedenen Lebensbereichen durchgängig beobachtet werden können.

Kritisiert wird an diesen Empfehlungen, dass Selbst- und Fremdbeurteilungen, aber auch klinische Interviews aufgrund der zugrunde liegenden subjektiven Einschätzungen anfällig für Verzerrungen sind [Edwards et al., 2007]. In einer Studie von Bruchmüller et al. wurden 1000 zufällig ausgewählten niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/-psychiatern 4 Fallvignetten zu einem Jungen bzw. Mädchen zugeschickt [Bruchmüller et al. 2012; Bruchmüller und Schneider, 2012]. In der 1. Fallvignette waren alle ADHS-Kriterien erfüllt; in Vignette 2 waren die Kriterien des situationsübergreifenden Auftretens und des Ersterkrankungsalters vor dem 7. Lebensjahr nicht erfüllt; in Vignette 3 fehlten zusätzlich weitere ADHS-Symptome und Vignette 4 enthielt die Kriterien einer Generalisierten Angststörung (GAS). In Fallvignette 1 wurden insgesamt 80% der Mädchen und 77% der Jungen richtig klassifiziert; das heißt aber auch, dass 20% der Mädchen und 23% der Jungen nicht korrekt als krank erkannt wurden und damit auch keine weitere Hilfe erhalten hätten. Falsch positiv klassifiziert wurden 11% der Mädchen und 20% der Jungen in Vignette 2; 9% der Mädchen und 20% der Jungen in Vignette 3; in Vignette 4 (GAS) noch 13% der Mädchen und 18% der Jungen. Insgesamt überstieg die Falsch-positiv-Rate für die Jungen die Falsch-negativ-Rate signifikant, was ein Hinweis auf die Überdiagnostizierung der Jungen ist.

Eine weitere Quelle der Überdiagnostizierung kann das Alter der Kinder sein. So konnte in den Studien von Elder [2010], Evans et al. [2010] und Morrow et al. [2012] gezeigt werden, dass verglichen mit den ältesten Kindern eines Jahrgangs die jüngsten Kinder in einer Schulklasse (z.B. ist der Stichtag der 1. September; d.h. alle Kinder, die bis zum 31. August geboren wurden, müssen in dem Schuljahr eingeschult werden, wohingegen die Kinder, die ab dem 1. September geboren wurden, erst 1 Jahr später eingeschult werden) bis zu 3-mal so hohe Raten an ADHS-Diagnosen und Methylphenidat(MPH)-Verschreibungen aufwiesen [Elder, 2010; Evans et al., 2010; Morrow et al., 2012]. Dieser Befund hängt wahrscheinlich mit einer normalen und insgesamt hohen Varianz in der Entwicklung von Vorschulkindern zusammen. Gleichzeitig ist die frühzeitige, korrekte Identifikation von Verhaltensproblemen eine der besten Möglichkeiten, pathologische Entwicklungen aufzuhalten. Insofern sollten diagnostische Verfahren beides erfassen: Entwicklungsmeilensteine und mögliche Verhaltensauffälligkeiten, um Letztere dann vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung einschätzen zu können.

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Die Conners Early Childhood Scales (Conners-EC) wurden für Kinder zwischen 2 und 6 Jahren mit dieser Zielsetzung entwickelt [Conners, 2009]; die deutsche Adaptation der Conners-EC wird aktuell von H. Christiansen, S. Harbarth, E. Neidhard und R. Steinmayr vorgenommen und wird voraussichtlich im Herbst 2016 im Hogrefe-Verlag erscheinen. Über die Beurteilung durch Eltern (190 Items) und Erzieher (186 Items) erfassen sie zum einen soziale Beeinträchtigungen, Verhaltens- und emotionale Probleme, zum anderen Entwicklungsmeilensteine. Es zeigt sich, dass die verschiedenen Entwicklungsbereiche (adaptive, motorische und präakademische/kognitive Fähigkeiten, Kommunikation, Spielverhalten) untereinander hoch korrelieren (0,70-0,89; p < 0,05). Verzögerungen in einem Bereich gehen also mit Verzögerungen in weiteren Bereichen hoch wahrscheinlich einher. Zudem bestehen kleine bis moderate, wenngleich signifikante Korrelationen zwischen den verschiedenen Entwicklungsmeilensteinen und der Skala «Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität» (0,25-0,33; p < 0,05), ein Hinweis darauf, dass Verzögerungen in der Entwicklung mit ADHS-typischen Verhaltensauffälligkeiten zusammenhängen können [Harbarth und Christiansen, 2015]. In einer Studie mit 100 deutschen Kindern zeigte sich ebenfalls ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Entwicklungsmeilensteinen und der Skala «Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität» im Erzieherurteil (0,33; p < 0,001), aber nicht im Elternurteil [Feurer, 2014]. Insgesamt fehlen vor allem prospektive Längsschnittstudien, die Verhaltensauffälligkeiten unter Berücksichtigung der Entwicklungsmeilensteine über die Zeit untersuchen und damit Aufschluss über mögliche Zusammenhänge geben können.

Wie schon erwähnt, berichten Mädchen ab dem 12. Lebensjahr über höhere Problemwerte, und Mütter scheinen Jungen unter 12 Jahren als auffälliger wahrzunehmen [Kan et al., 2013]. Zudem gibt es starke Schwankungen in den Symptomen über die Zeit [Lahey und Willcutt, 2010; Rabiner et al., 2010], und Geschlecht, Ethnizität sowie der sozioökonomische Status beeinflussen die Symptombeurteilungen ebenfalls [Huss et al., 2008]. Zur Ergänzung der Diagnostik wird deshalb die Verwendung von objektiven, reliablen Laborparametern empfohlen, wie sie z.B. neuropsychologische Testverfahren (siehe «Exkurs: Neuropsychologie der ADHS» in diesem Beitrag) ermöglichen [Hasson und Fine, 2012].

Analoge diagnostische Empfehlungen gelten für das Erwachsenenalter [Review: Haavik et al., 2010]. Nach dem European Consensus Statement zur Diagnostik und Therapie adulter ADHS [Kooij et al., 2010] gilt folgender Goldstandard:

1) Durchführung eines spezifischen klinischen Interviews sowie klinischer Interviews zur Erfassung komorbider Achse-I- und -II-Störungen;

2) die Verwendung standardisierter Fragebögen zur Erfassung adulter ADHS-Symptome;

3) nach Möglichkeit die Begutachtung von Schul- und Arbeitszeugnissen;

4) neuropsychologische Diagnostik (s.o.).

In einer Studie zur Diagnostik der adulten ADHS konnten wir zeigen, dass 27.6% der Patienten unter dem Cut-off-Wert des Amsterdamer Kurzzeitgedächtnistests (AKGT) lagen. Der AKGT wird verwendet, um das Vortäuschen von Symptomen zu überprüfen [Schmand und Lindeboom, 2005]. Allerdings korrelierte der AKGT in dieser Studie nicht mit den Validitätsskalen der verwendeten Conners Adult ADHD Rating Scales, sondern es zeigten sich signifikante Zusammenhänge mit den neuropsychologischen Markern «Daueraufmerksamkeit» und «geteilte Aufmerksamkeit» [Hirsch und Christiansen, 2015]. Es scheint demnach eine Subgruppe adulter ADHS-Patienten zu geben, die unter extremen Aufmerksamkeitsstörungen leidet. Diese Gruppe hat einen besonders hohen Unterstützungsbedarf und sollte folglich diagnostisch gut erkannt werden.

Die geschätzten jährlichen Kosten, die durch ADHS entstehen, betragen für die USA zwischen 36 und 52,4 Milliarden USD [Pelham et al., 2007]. Diese Kosten setzen sich zusammen aus direkten Behandlungskosten, aber auch aus indirekten Kosten, wie sie z.B. durch Produktionsausfälle im Erwachsenenalter, Kriminalität oder durch eine verkürzte Lebenserwartung entstehen (Abb. 1).

Fig. 1

Risikomodell langfristiger sozioökonomischer Konsequenzen [Schmidt und Petermann, 2011, p 234].

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Risikomodell langfristiger sozioökonomischer Konsequenzen [Schmidt und Petermann, 2011, p 234].

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Für Europa belaufen sich die Kosten für das Gesundheitssystem auf 84-377 Millionen EUR, wobei Produktivitätsverluste in Höhe von 143-339 Millionen EUR von Familienmitgliedern noch hinzukommen [Le et al., 2014]. Bei Betrachtung von ADHS mit der häufigsten komorbiden Störung, den Störungen des Sozialverhaltens, sind diese für 5,75 Millionen Years Lived with Disability (YLDs) / Disability Adjusted Life Years (DALYs) verantwortlich ([Erskine et al., 2014]; da sich in der Studie keine verlorenen Lebensjahre (YLLs) zeigten, entspricht die Zahl der DALYs denen der YLDs).

Aufgrund dieser hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Belastung durch ADHS sollten effektive Behandlungen möglichst früh ansetzen, um negative Erkrankungsverläufe zu minimieren und langfristig zu einer Reduktion gesellschaftlicher Kosten beizutragen. Im Idealfall kann es dabei gelingen, bereits so frühzeitig effektive Interventionen einzusetzen, dass im Erwachsenenalter keine Belastungen durch die Erkrankung mehr bestehen [Halperin et al., 2012]. Anknüpfend an die Forschung zu frühen Entwicklungspfaden folgt daraus die Forderung nach frühen, präventiven Interventionen.

Primäre/universelle Ansätze

Primär präventive Ansätze richten sich an gesunde Individuen; die Gesundheit soll durch die Reduktion von Risikofaktoren und die Förderung von Schutzfaktoren und Ressourcen gefördert werden. Universelle Maßnahmen richten sich darüber hinaus an die gesamte Bevölkerung [Röhrle et al., 2012]. Ein Beispiel wäre die Förderung der Gesundheit von Müttern z.B. über die Reduktion von Tabak-, Alkohol- und anderem Substanzkonsum sowie von Kontakt mit Umweltgiften wie z.B. Blei/Quecksilber während der Schwangerschaft, da diese mit einem erhöhten ADHS-Risiko der Kinder in Verbindung gebracht wurden [Nigg, 2012; Halperin et al., 2012].

Da erste ADHS-Symptome zudem häufig bereits sehr früh auffallen (s.o.) und Interventionen bei nicht voll ausgeprägter Psychopathologie wirksamer sind, bieten sich präventive Programme an [Daley et al., 2009; Halperin et al., 2012; Sonuga-Barke und Halperin, 2010]. Kindergärten und Schulen sind ideal für universelle Präventionsprogramme, da sie prinzipiell alle Kinder niedrigschwellig und nichtstigmatisierend erreichen können [Fowler et al., 2014; Röhrle et al., 2012].

Vorschulprogramme, die Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und Selbstregulation trainieren, haben sich in den wenigen bislang vorliegenden Studien als wirksam erwiesen [Daley et al., 2009; Fábián, 2004; Fowler et al., 2014; Jones et al., 2007, 2008; Plueck et al., 2015; Sonuga-Barke und Halperin, 2010; Thompson et al., 2009]. So wurden beispielsweise die folgenden Programme mit positiven Effekten in Zusammenhang gebracht [Halperin et al., 2012]:

- The Incredible Years Program: ein evidenzbasiertes Programm für Eltern, Kinder und Lehrkräfte; Ziel ist die Prävention von kindlichen Verhaltensproblemen und die Förderung ihrer sozialen, emotionalen und akademischen Fertigkeiten. Das Programm ist weltweit im Einsatz und Effekte konnten über Kulturen und verschiedene soziale Schichten hinweg nachgewiesen werden (http://incredibleyears.com/).

- Triple P (Positive Parenting Program): Die Entwicklung, Gesundheit und soziale Kompetenz von Kindern soll gefördert werden; Problemen in emotionalen, verhaltens- und entwicklungsbezogenen Bereichen wird vorbeugt; es soll eine gewaltfreie, schützende und fördernde Umgebung für Kinder geschaffen werden; ungünstige Erziehungspraktiken werden verändert und die Erziehungskompetenz erweitert; Stress in der Familie wird verringert und Bewältigungskompetenzen erhöht (www.triplep.de/pages/startseite/willkommen.htm).

- Revised New Forest Parenting Programme (RNFP): Nach Psychoedukation zu ADHS werden die Eltern angeleitet, ihr Kind so zu strukturieren, dass es ruhiger und aufnahmefähiger wird. Dazu werden verhaltenstherapeutische Techniken wie Lob, Punktepläne, aber auch Auszeiten zum Umgang mit Problemverhalten angewendet (www.jfhc.co.uk/paying_attention_to_adhd_80355.aspx).

- Training Executive, Attention & Motor Skills (TEMS): Forschungsprogramm für Vorschulkinder mit ADHS, das über spielerische Aktivitäten und physische Aktivität neuronale Prozesse fördert, die den Kernsymptomen der ADHS sowie assoziierten Problembereichen zugrunde liegen. Das Programm wird in Verbindung mit elterlicher Psychoedukation zu ADHS zu Hause und in supervidierten Spielgruppen durchgeführt (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01073176).

- Enhancing Neurocognitive Growth with the Aid of Games & Exercise (ENGAGE): Soll die Selbstregulation von Vorschulkindern fördern und setzt an Verhaltens-, emotionalen und neurokognitiven Fertigkeiten an, die über Aufmerksamkeits-, Verhaltens-, Inhibitions- und emotionale Kontrolle geübt werden [Healey und Halperin, 2014].

- Executive Training of Attention & Metacognition (ETAM): Training zur Förderung exekutiver Funktionen wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Selbstregulation für Vorschüler mit erhöhtem Risiko für ADHS (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01675869).

In einer eigenen Studie [Christiansen et al., 2015] haben wir ein universelles pädagogisches Verhaltenstraining mit einer Gruppe verglichen, die zusätzlich ein Aufmerksamkeitstraining erhielt [Fábián, 2004]. Dabei zeigte sich, dass Vorschulkinder insbesondere von den pädagogischen Verhaltensmodifikationen profitierten, wohingegen das spezifische Aufmerksamkeitstraining nicht mit einer Reduktion der ADHS-Symptome zusammenhing. Ein Vergleich von Kindern mit hohem versus niedrigem Risiko zeigte, dass insbesondere Kinder mit höherer Symptombelastung von dem Training profitierten, den anderen Kindern aber kein Schaden durch das Training zugefügt wurde - ebenfalls ein zentraler Faktor für die Durchführung von präventiven Programmen.

Therapieleitlinien

Nach den NICE- und Europäischen Leitlinien zur Behandlung der ADHS gilt Folgendes [Atkinson und Hollis, 2010; Graham et al., 2011]:

- Im Vorschulalter wird eine medikamentöse Behandlung nicht empfohlen, sondern Eltern- und Erziehertrainingsprogramme (s.o.).

- Im Kindesalter ist eine medikamentöse Behandlung bei moderater ADHS-Symptomatik ebenfalls nicht die erste Wahl, sondern auch hier werden verhaltenstherapeutische Programme für Eltern, Kinder und Erzieher/Lehrkräfte empfohlen.

- Bei ausgeprägter Symptomatik im Kindesalter wird eine medikamentöse Behandlung empfohlen.

- Im Erwachsenenalter ist eine medikamentöse Behandlung die erste Wahl, die durch kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ergänzt werden kann, wenn die medikamentöse Behandlung nicht die gewünschten Erfolge zeigt oder die Patienten eine psychotherapeutische Behandlung wünschen.

Für die Therapie der ADHS im «Kindesalter» entsprechen diese Leitlinien einem multimodalen Vorgehen und Medikamente sollten nur bei krisenhafter Zuspitzung oder dann zum Einsatz kommen, wenn verhaltenstherapeutische Ansätze nicht ausreichen. Wenngleich diese Empfehlung besteht, scheint diese nicht immer der Realität zu entsprechen. Die Behandlung von Kindern mit ADHS erfolgt primär pharmakologisch und die Verschreibungsraten für Psychostimulanzien steigen kontinuierlich [Dalsgaard et al., 2014; Steinhausen und Bisgaard, 2014]. Obschon eine Behandlung mit Psychostimulanzien kurzfristig sehr effektiv sein kann [Van der Oord et al., 2008], ist sie nicht immer die angemessenste Behandlungsform, da die Non-Responder-Raten bei ∼30% liegen [Lofthouse et al., 2012] und aversive Nebenwirkungen wie Schlafstörungen und Appetitverlust häufig berichtet werden [Graham et al., 2011; United States, 1999]. Zudem sind die langfristigen medikamentösen Effekte bislang nicht ausreichend gesichert und Verbesserungen nach Absetzen der Psychostimulanzien sind häufig nicht anhaltend [Molina et al., 2009]. Langfristig scheinen 44-75% der mit Psychostimulanzien behandelten Kinder nicht zufriedenstellend von der Behandlung zu profitieren [Molina et al., 2009]. Protektive langfristige Effekte z.B. auf einen späteren Substanzkonsum [Molina et al., 2009, 2013] oder auf akademische Erfolge, soziale und interpersonelle Fertigkeiten konnten ebenfalls bislang nicht konsistent bestätigt werden [Molina et al., 2009; Mrug et al., 2012; Van de Loo-Neus et al., 2011].

In einer eigenen Meta-Meta-Analyse, die die bestehenden Meta-Analysen und Reviews zu Interventionen bei ADHS untersuchte, konnten wir insgesamt 44 Meta-Analysen identifizieren [Christiansen et al., 2014a]. Davon wurden 34 Meta-Analysen zur ADHS-Behandlung bei Kindern/Jugendlichen durchgeführt; davon 6 zu Psychostimulanzien, 1 zu alternativen medikamentösen Behandlungsansätzen, 3 zu Omega-3-Fettsäuren, 2 zur Kombination von Psychostimulanzien und Verhaltenstherapie (VT), 7 zu VT und 4 zu Neurofeedback. Die Ergebnisse der Meta-Meta-Analyse zeigen, dass eine alleinige Psychostimulanzienbehandlung zu einem kleinen, homogenen, relativ stabilen Effekt führt (standardisierte mittlere Differenz (SMD) 0,36, fail-safe n = 37). VT allein führt ebenfalls zu einem kleinen, homogenen, allerdings sehr stabilen Effekt (SMD 0,35, fail-safe n = 284), der im alleinigen Elternurteil etwas höher ausfällt (SMD 0,44, fail-safe n = 370), im alleinigen Lehrerurteil unbefriedigend klein (SMD -0,04), dort allerdings auch instabil ist (fail-safe n = 0). Alleinige VT zeigt mittlere, homogene und relativ stabile Effekte für oppositionelle Störungen und Störungen des Sozialverhaltens (SMD 0,72, fail-safe n = 21) - die häufigsten komorbiden Störungen bei ADHS, die auch nach den angenommenen Entwicklungstypen (s.o.) mit einem ungünstigen Verlauf in Zusammenhang gebracht wurden. Die Kombinationsbehandlung (Psychostimulanzien + VT) führte zu einem großen, homogenen Effekt (SMD 1,12), aber die Zahl der Studien (k = 2) ist zu gering, um sichere Schlüsse daraus zu ziehen. Da aber auch die Behandlungsleitlinien «stepped care» empfehlen, liegt es nahe, bei unzureichendem Behandlungserfolg die Kombinationsbehandlung durchzuführen. Neurofeedback resultiert in einem mittleren, homogenen und relativ stabilen Effekt (SMD 0,52, fail-safe n = 32), der über die alleinige Stimulanzien- oder VT-Behandlung hinausgeht. Die Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren resultiert in kleinen, allerdings homogenen und sehr stabilen Effekten (SMD 0,21, fail-safe n = 900). Die in der Praxis häufig anzutreffende Position der Überlegenheit der MPH-Behandlung gegenüber anderen Therapieverfahren scheint nach diesen Ergebnissen nicht ganz zutreffend zu sein. VT resultiert in vergleichbaren Effekten, allerdings spiegeln sich diese nicht im Lehrerurteil wider. Aber aus verschiedenen Studien gibt es Hinweise darauf, dass Lehrerurteile z.B. durch geringes Störungswissen verzerrt sein können [Alkahtani, 2013; Anderson et al., 2012; Bekle, 2004; Ruhmland, 2013; Sciutto et al., 2000] bzw. sich Halo-Effekte zeigen können [Sayal et al., 2010]. Neurofeedback scheint eine mögliche Behandlungsalternative zu sein, wie auch Omega-3-Fettsäuren, z.B. bei möglichen Vorbehalten gegenüber Psychostimulanzien.

In einer eigenen Studie, die Neurofeedback mit einem Selbstmanagementtraining vergleicht, können wir bislang zeigen, dass beide Therapien zu einer bedeutsamen Symptomreduktion beitragen [Christiansen et al., 2014b]. Wir nehmen an, dass unter anderem das hochfrequente Behandlungssetting (3 × wöchentlich) zu diesen Effekten beiträgt, da sich Kinder mit ADHS häufig durch eine reduzierte Frustrationstoleranz auszeichnen und schnelle Erfolge bevorzugen (s.o., neuropsychologische Forschungen). Insofern sollten Therapieforschungsstudien nicht nur verschiedene Therapieansätze, sondern auch Behandlungsmodalitäten (z.B. Anzahl Termine pro Woche, Einsatz von Token-Ökonomien, begleitende Elterntrainings, Einbeziehung der Lehrer, Behandlung komorbider Störungen, Medikation usw.) mit untersuchen.

Die Behandlungsraten bei «Jugendlichen» sinken dramatisch und in der Literatur zur Therapie der adoleszenten ADHS überwiegen pharmakologische Studien, die häufig mit Compliance-Problemen konfrontiert sind [Review: Robb und Findling, 2013; McClain und Burks, 2015]. Eine Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen ist die Abgrenzung von Elternhaus und Erwachsenen sowie die Entwicklung von Autonomie. Diese Entwicklungsaufgabe kann gegebenenfalls die Bedingungen für einen therapeutischen Prozess erschweren. Die motivierende Gesprächsführung [Miller und Rose, 2009] hat sich dabei bei Jugendlichen als hilfreich erwiesen. Bei der motivierenden Gesprächsführung werden Gründe für und gegen eine Veränderung erwogen und die Patienten sollen zum Fürsprecher der eigenen Veränderung gemacht werden. Widerstandsphänomene sollten dabei als Informationsquelle genutzt werden, um die Problem- und Zieldefinition zu verbessern. Zu den Grundregeln der motivierenden Gesprächsführung gehören: Beobachtungen offen ansprechen; genau nachfragen, um genau zu verstehen; Tempo runter und Fokus auf Details und die emotionale Bedeutung; nicht argumentieren und überzeugen, sondern zuhören; Fragen und Zweifel besprechen; Verantwortung und Entscheidung für Veränderungen beim Patienten lassen; Erarbeitung konkreter Veränderungsziele (positiv, realistisch, attraktiv), bei Globalzielen konkrete Teilziele erarbeiten [Bolten, 2011]. Eine randomisierte kontrollierte Studie hat Neurofeedback mit Treatment as Usual (TAU; KVT, systemische Therapie, Beratung, Medikation) versus TAU allein bei Jugendlichen verglichen [Bink et al., 2014]. Nach der Therapie zeigten sich signifikante Verbesserungen in beiden Gruppen, allerdings kein zusätzlicher Effekt für die Neurofeedback-Behandlung. Insgesamt besteht für das Jugendalter weiterer Forschungsbedarf und die psychosozialen Belastungsfaktoren sollten stärker in den Blick genommen werden [Serrano-Troncoso et al., 2013].

Nach dem European Consensus Statement [Kooij et al., 2010] sollte die «Therapie der adulten ADHS» auf den 3 Bausteinen Psychoedukation, medikamentöse Therapie und Psychotherapie basieren. Nach unserer Meta-Meta-Analyse resultiert eine medikamentöse Behandlung (sowohl Psychostimulanzien als auch andere Präparate wie z.B. Atomoxetin) im Erwachsenenalter in mittleren, homogenen und stabilen Effekten (SMD 0,43, fail-safe n = 280), wobei dieser einer alleinigen MPH-Behandlung entspricht (SMD 0,49, fail-safe n = 56) [Christiansen et al., 2014a]. Nach dem lerntheoretischen Modell adulter ADHS zeichnen sich die Patienten durch negative Bewertungsstile aus, die in dysfunktionalen kognitiven Überzeugungen und Schemata resultieren und in der Folge einen Kreislauf aus dysfunktionalen Verhaltensweisen verstärken [Newark et al., 2012; Newark und Stieglitz, 2010]. Basierend auf diesem Modell wird den Leitlinien entsprechend empfohlen (s.o.), analog zu den Methoden der VT Ressourcen und positive Bewältigungsstrategien zu fördern und kognitive Dysfunktionen zu bearbeiten - klassische Ansätze der KVT, die hier als allgemein bekannt vorausgesetzt und entsprechend nicht weiter ausgeführt werden.

In ihrem Expert-Review zur Therapie der adulten ADHS konnte Philipsen [2012] feststellen, dass Psychoedukation, VT, aber auch dialektisch-behaviorale sowie achtsamkeitsbasierte Therapieansätze insgesamt mit guten Behandlungserfolgen (Effektstärken > 0,80) assoziiert sind, was die Empfehlungen des Consensus Statements (s.o.) bestätigt [Philipsen, 2012]. Aktuell läuft an der Universität Tübingen eine groß angelegte, randomisiert kontrollierte Studie zur Prüfung der Effektivität von Neurofeedback im Erwachsenenalter, in der ein Training langsamer kortikaler Potenziale mit Nahinfrarotspektroskopie (eine neue Form des Neurofeedbacks) und Elektromyogramm-Feedback sowie einer gesunden Kontrollgruppe verglichen wird [Mayer et al., 2015]. Die Studie läuft aktuell noch, doch sollte sich eine der beiden Neurofeedback-Behandlungen als wirksam erweisen, würde eine weitere Behandlungsalternative für die adulte ADHS zur Verfügung stehen.

Die ADHS ist eine häufig chronisch verlaufende Störung mit heterogener und fluktuierender Symptomatik, die hohe gesellschaftliche Kosten verursacht. Je früher effektive Interventionen einsetzen, desto größer sind die anzunehmenden langfristigen Effekte. Dafür sind gute Screeningverfahren zur korrekten Früherkennung zentral, die insbesondere den Entwicklungsstand des Kindes mit berücksichtigen sollten. Es gibt bereits einige Programme für das frühe Kindesalter mit vielversprechenden Effekten, allerdings ist die überwiegende Mehrzahl indiziert oder selektiv. Universelle Programme in Kindergärten/Schulen bieten die Möglichkeit, niedrigschwellig fast alle Kinder nichtstigmatisierend zu erreichen, und scheinen für Kinder ohne Verhaltensauffälligkeiten nicht schädlich zu sein - hier besteht weiterer Forschungsbedarf.

Den verschiedenen möglichen Entwicklungstypen der ADHS liegen wahrscheinlich auch heterogene ätiologische Entwicklungspfade zugrunde, die die Therapieergebnisse mit beeinflussen - hier besteht dringend weiterer Forschungsbedarf.

Insbesondere für das Jugendalter fehlen spezifische Programme und bislang ist für das Jugendalter ein Mangel an guten Therapiestudien festzustellen.

Für das Erwachsenenalter gibt es mittlerweile einen guten internationalen Standard hinsichtlich Diagnostik und Therapie, der mit guten Erfolgen verbunden ist. Um die Erkrankungsrate im Erwachsenenalter zu verringern, brauchen wir weiterhin gute Forschung zu effektiven Früherkennungs- und Interventionsmethoden.

Die Autorin erklärt hiermit, dass keine Interessenkonflikte im Bezug auf die vorliegende Arbeit bestehen.

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