Übergewicht und Adipositas gehören zu den bedeutendsten Gesundheitsstörungen in Deutschland. Die Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie der Adipositas sind unter anderem mit psychosozialen und Verhaltensdimensionen assoziiert. Die erste Neufassung der «Interdisziplinären Leitlinie der Qualität S3 zur Prävention und Therapie der Adipositas» wurde im April 2014 veröffentlicht. Diese aktualisierte Version enthält wesentliche Neuerungen insbesondere im Hinblick auf verhaltensmedizinische Aspekte der Entstehung der Adipositas und zur Behandlung von betroffenen Menschen. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Artikel die Neuerungen der Leitlinie hinsichtlich psychosozialer Aspekte erläutert und Implikationen für die klinische Praxis diskutiert. Außerdem werden Thesen für die Zukunft der klinischen Adipositasforschung hergeleitet.

Obesity · Overweight · Guideline · Behavioral therapy · Research strategy

The New German S3 Guideline and Its Implications for Clinical Practice and Future Research

Overweight and obesity count among the most significant disorders in Germany. The etiology, persistence, and therapy of obesity are associated with psychosocial and behavioral dimensions, among others. The first revised version of the German ‘Interdisciplinary Guideline of S3 Quality for the Prevention and Therapy of Obesity' was published in April 2014. This updated version contains important innovations especially with regard to aspects of behavioral intervention pertaining to the etiology of obesity and the treatment of the people affected. Against this background, this article explains the innovative issues of the guideline concerning the psychosocial aspects and discusses the implications for the clinical practice. In addition, a number of propositions are derived for the future clinical obesity research.

Übergewicht und Adipositas gehören zu den bedeutendsten Gesundheitsstörungen in Deutschland. Die Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie der Adipositas sind unter anderem mit psychosozialen und Verhaltensdimensionen assoziiert. Die Prävalenz der Adipositas liegt laut den aktuellen Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei 23,9% der Frauen und 23,3% der Männer. 53,0% der Frauen und 67,1% der männlichen Bundesbürger sind dabei insgesamt von Übergewicht betroffen. Adipositas ist definiert als ein Body Mass Index (BMI) von > 30 kg/m2. Die Frage, ob die Adipositas selbst - unabhängig von den assoziierten Folgestörungen - als Krankheit zu definieren sei, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits im Jahr 2000 bejaht. Für den deutschen Versorgungskontext hat z.B. das Bundessozialgericht in einem Entscheid im Jahre 2003 die Adipositas als eine «Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne» bezeichnet. Gleichzeitig sind z.B. die öffentliche Sichtweise auf das Problem, die Versorgungsstrukturen und die Therapieangebote vielfach noch nicht hinreichend differenziert bzw. für die Betroffenen teils nur unzureichend zugänglich. Vor diesem Hintergrund ist die Überarbeitung der deutschsprachigen S3-Leitlinie Adipositas auf Basis des neusten Stands der aktuell verfügbaren Evidenz von großer Bedeutung für alle beteiligten Disziplinen, insbesondere auch für das Fachgebiet der Verhaltenstherapie.

Die aktualisierte Fassung der «Interdisziplinären Leitlinie der Qualität S3 zur Prävention und Therapie der Adipositas» (Erstfassung aus dem Jahr 2007) wurde im April 2014 veröffentlicht [Hauner et al., 2014]. Herausgeber der Leitlinie sind weiterhin die Deutsche Adipositas Gesellschaft (DAG), die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM).

Explizite Ziele der Leitlinie sind: «… die Wahrnehmung des Gesundheitsproblems Adipositas zu verbessern, Therapeuten und Patienten eine orientierende Hilfe hinsichtlich der vielschichtigen Krankheit Adipositas zu geben und spezifische Informationen und Empfehlungen zu Prävention und Therapie der Adipositas für alle im Gesundheitswesen sowie in der Gesundheitspolitik tätigen Personen bereitzustellen».

Als eine der zentralen Empfehlungen enthält die Leitlinie weiterhin die Kombination von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie in der Behandlung von Menschen mit Adipositas.

Bedeutsame Neuerungen der aktualisierten Fassung aus verhaltenstherapeutischer Sicht sind insbesondere:

- die evidenzbasierte Beschreibung von psychischen Entstehungs- und Begleitfaktoren der Adipositas;

- die Weiterentwicklung und Differenzierung der relevanten verhaltenstherapeutischen Interventionen.

Im Folgenden sollen diese für Psycho- und Verhaltenstherapie bedeutsamen Aspekte der Leitlinie im Einzelnen dargestellt und die jeweiligen Implikationen für die klinische Praxis sowie für künftige Forschungsstrategien diskutiert werden. Der Artikel schließt mit sieben aus dieser Diskussion abgeleiteten Thesen zur Zukunft der Adipositasforschung hinsichtlich psychosozialer und verhaltenstherapeutischer Aspekte.

Eine der bedeutsamen Weiterentwicklungen der aktualisierten Leitlinie aus Sicht der Verhaltenstherapie stellt das neu verfasste Kapitel «Psychosoziale Aspekte der Adipositas» dar. Grundlegende psychosoziale Aspekte mit den Themenbereichen «Stigmatisierung und Adipositas», «Essstörung und Adipositas» sowie «Depression und Angst bei Adipositas» fanden Eingang in die Leitlinie, wenngleich konkrete Empfehlungen noch nicht daraus erwachsen konnten.

Hinsichtlich der grundlegenden psychosozialen Aspekte werden in der aktuellen Leitlinie die «Nahrungsaufnahme zur Affektregulation» und die «Spannungsabfuhr» bzw. der «temporäre Aufschub dysphorischer Gefühle» durch Nahrungsaufnahme als mögliche Entstehungsbedingungen der Adipositas diskutiert. Die Leitlinie geht dabei auf Basis der einbezogenen Evidenz davon aus, dass in einer Subgruppe der von Adipositas betroffenen Menschen «psychische Probleme und Störungen zu einer Veränderung des Ess- und Bewegungsverhaltens» geführt haben bzw. die Adipositas aufrechterhalten. Darüber hinaus stellt die Leitlinie fest, dass Menschen mit Adipositas eine um 1,4-2,0-fach (Odds Ratio) erhöhte Häufigkeit von psychischen Störungen aufweisen. Dabei stellen laut Leitlinie insbesondere die depressiven, die Angst- und die somatoformen Störungen die häufigsten Diagnosen dar.

Damit benennt die Leitlinie erstmals in dieser differenzierten Weise die Bedeutsamkeit psychischer Probleme und Störungen im Kontext von Entstehung und Verlauf der Adipositas. Die Relevanz für die Diagnostik hinsichtlich psychischer (Ko-)Faktoren im Diagnosealgorithmus der Adipositas sowie die Bedeutung einer indikationsabhängigen psychotherapeutischen (Mit-)Behandlung werden untermauert.

Das Thema Stigmatisierung und Adipositas ist von zentraler Bedeutung. Die gesellschaftlich weit verbreitete Annahme, dass Betroffene aufgrund von «Faulheit, Willensschwäche und Disziplinlosigkeit» mit den daraus auch empirisch belegten signifikanten sozialen Folgerungen benachteiligt sind, wird adressiert. Die Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas in den Medien (Film, Fernsehen, soziale Netzwerke), der Arbeitswelt - wo z.B. eine niedrigere Kompetenzerwartung von Personalverantwortlichen gegenüber (weiblichen) Adipositas-Betroffenen zur Barriere für die berufliche Entwicklung werden kann - und nicht zuletzt innerhalb des Gesundheitssystems stellt eine zentrale und aufrechterhaltende Bedingung bei Adipositas dar.

Als ursächlich wird dabei die häufig maladaptive Affektregulation durch Nahrungsaufnahme genannt, mit der z.B. die Frustration durch Stigmatisierungserfahrungen beantwortet wird, als ein sich selbst verstärkender Kreislauf.

Mit der Erläuterung der Evidenz zur Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas beschreibt die aktualisierte Fassung der Leitlinie erstmals diesen wesentlichen psychischen Belastungsfaktor für Betroffene. Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive sind diese Hinweise insbesondere für die Exploration individueller Stigmatisierungserfahrungen von Patienten und der Verarbeitungsmuster dieser Erfahrungen bzw. der Selbststigmatisierung bedeutsam. Das Adressieren von diesbezüglich relevanten Kognitionen und dysfunktionalen Verhaltensweisen sowie deren Reflexion bzw. Umstrukturierung hin zu funktionaleren Mustern können Therapieziele einer spezifischen verhaltenstherapeutischen Intervention sein.

Essstörungen und Adipositas, als der zweite explizite Themenbereich innerhalb des Kapitels zu den psychosozialen Aspekten, hat insbesondere die inzwischen im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) etablierte Diagnose der Binge-Eating-Störung (BES) als einen zentralen Inhalt. Die Relevanz der BES für die Therapie der Adipositas wird unter anderem durch die Prävalenz von bis zu 30% Betroffenen innerhalb von Patientenkohorten deutlich, die an Gewichtsreduktionsprogrammen teilnehmen. Betroffene, die an einer BES leiden, sind insgesamt von einer höheren allgemeinen und spezifischen psychischen Belastung betroffen. Genannt werden z.B. die Symptomatologien des Selbstwertdefizits, die «geringere psychosoziale Integration» und die in dieser Gruppe insgesamt gehäufte Komorbidität psychischer Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Der Zusammenhang der Ausprägung von psychischen Komorbiditäten mit der Ausprägung der BES ist dabei größer als die Assoziation der Psychopathologie mit dem BMI. Der Zusammenhang zwischen BES und Depressivität gilt laut Leitlinie dabei als gesichert.

Hinsichtlich der klinischen Implikationen wird dabei deutlich, dass unter anderem aus verhaltenstherapeutischer Sicht die (Ausschluss-)Diagnostik bezüglich der Symptomatik einer BES in jeder klinischen Abklärung bei Patienten mit Adipositas notwendig ist. Diese ist zum Verständnis der (komorbiden) Psychopathologie sowie der z.B. darin enthaltenen auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren der Adipositas vor dem Hintergrund der oben geschilderten Evidenz unerlässlich. Auch bei Patienten, die sich primär aufgrund z.B. einer depressiven Störung in ambulante oder stationäre verhaltenstherapeutische Behandlung begeben, darf die Abklärung der möglicherweise komplizierenden bzw. auslösenden BES bzw. einer Essstörungspathologie nicht fehlen. Da sich die Kriterien der BES ihrer Struktur nach gut operationalisieren lassen, besteht z.B. auch die Möglichkeit, diese im Rahmen von psychometrischen Eingangsuntersuchungen bei Patienten mit Adipositas mit zu erheben. Für die weiterführenden Diagnostik- und Therapieempfehlungen zur BES verweisen die Autoren hier explizit auch auf die S3-Leitlinie Essstörungen.

Neben der BES nennen die Autoren weitere Formen des pathologischen Essverhaltens, wie z.B. das Night-Eating-Syndrom (NES). Eingeschlossen wurden dazu auch die diagnostischen Kriterien nach Allison, die a) das abendliche und nächtliche Essen mit b) mehr als 25% der täglichen Kalorienzufuhr in c) mindestens drei Nächten/Woche als symptomatisch für das NES umfassen. Als assoziierte (konsekutive) Symptome werden die morgendliche Appetitlosigkeit, Schlafstörungen sowie depressive Stimmung und Stresserleben genannt. Über das NES hinaus wird zudem das «Grasen» (Grazing) als eine pathologische Verhaltensweise aufgeführt, wobei Patienten fortgesetzt und wiederholt kleinere Portionen Nahrung (z.B. Süßes) über einen längeren Zeitraum (mehrere Stunden) zu sich nehmen. Während das NES inzwischen in das DSM-5 Eingang gefunden hat, ist das Grazing-Verhalten weiterhin nicht im DSM operationalisiert. Auch bezüglich des NES und des Grazing wird in der neuen Leitlinie deutlich, dass diese Art des spezifisch gestörten Essverhaltens in einer gezielten verhaltenstherapeutischen Anamnese und Interventionsplanung enthalten sein muss, um die bestmögliche Analyse der Problemlage und deren Bearbeitung innerhalb eines verhaltenstherapeutischen Settings zu ermöglichen.

Wie oben angeführt, stellt der Abschnitt Depression und Angst bei Adipositas einen weiteren Teil des neuen Kapitels zu den psychosozialen Aspekten der Adipositas dar. Hier wird in der Leitlinie festgestellt, dass Adipositas einen Risikofaktor für leicht bis mittelgradige depressive Symptomlagen sowie für die Dysthymie darstellt. Hinsichtlich der umgekehrten Beziehung - Depression als ein Risikofaktor für Adipositas - bestehen in der Literatur ebenfalls klare Hinweise für einen positiven Zusammenhang. Hingewiesen wird aber erstmals auf den Zusammenhang der Einnahme bestimmter Psychopharmaka mit Appetitsteigerung und konsekutiver Gewichtszunahme, insbesondere bei manchen Antidepressiva sowie bei den Neuroleptika. Hinsichtlich der Angststörungen werden ebenfalls deutliche Hinweise auf eine Assoziation mit der Adipositas berichtet; die Richtung der Bedingung sowie die differenzierte Ausprägung unterschiedlicher Angststörungen bleiben zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der noch unzureichenden Datenlage offen.

Für die klinische Praxis bedeuten diese Ausführungen z.B. den Imperativ zur umsichtigen Auswahl von geeigneten Pharmaka bei Menschen mit Übergewicht und Adipositas, insbesondere bei der antidepressiven pharmakologischen Behandlung. Hier sind Präparate, die nachweislich appetitsteigernd wirken, entsprechend zu vermeiden. Der Hinweis auf die Angststörungen stellt neben den oben aufgeführten Essstörungen und dem klaren Zusammenhang der Adipositas mit den depressiven Störungen einmal mehr die Bedeutung einer qualifizierten (z.B. verhaltenstherapeutischen) Psychodiagnostik und Betreuung von Betroffenen heraus, speziell bei Patienten die Hinweise auf diese Arten des Essverhaltens oder eine psychische Begleitsymptomatik zeigen.

Die konsequente Weiterentwicklung und Differenzierung der zur Verfügung stehenden verhaltenstherapeutischen Interventionen stellt einen weiteren wichtigen Bereich innerhalb der Neuerungen der S3-Leitlinie Adipositas dar. Die Verhaltenstherapie erhält eine vergleichbare Wichtigkeit wie die beiden anderen Säulen, Ernährungstherapie und Bewegungstherapie. Eine häufig diskutierte Schwierigkeit beim Erarbeiten der Leitlinie und im alltäglichen Nachkommen der Leitlinie stellen teilweise synonym, teilweise widersprüchlich verwendete Begrifflichkeiten dar, die eine klare Definition der «Verhaltenstherapie» verkomplizieren. So bleiben Unterschiede und Spezifika von Verhaltenstherapie, Verhaltensmodifikation, Verhaltensänderung, Lebensstiländerung, Verhaltensmaßnahmen, Lifestyle-Interventionen usw. kaum greifbar. Zumeist ist in Studien auch nur unzureichend beschrieben, was genau die Intervention umfasste. In den hier vorgestellten aktualisierten deutschen Leitlinien wird durchgängig der Begriff Verhaltenstherapie gewählt, da so der therapeutische Ansatz am deutlichsten wird. Dabei soll das Ziel sein, dass ein Betroffener individualisiert die Intensität an verhaltenstherapeutischen Interventionen erhält, die zielführend ist. Das kann von alleiniger Selbstbeobachtungsstrategie bis hin zur intensiven Psychotherapie reichen (z.B. bei komorbider Depression und Essstörung). Ab wann ein ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut unabdingbar ist, muss im Einzelfall entschieden werden. Dieser sollte aber zumindest in Gruppenprogrammen involviert sein.

Im Folgenden werden die einzelnen Empfehlungen aus dem Kapitel «Verhaltenstherapie» wiedergegeben und mit Blick auf die jeweiligen Implikationen beleuchtet.

Verhaltenstherapeutische Interventionen im Einzel- oder Gruppensetting sollen Bestandteil eines Programms zur Gewichtsreduktion sein (Empfehlungsgrad A, Evidenzgrad 1++ bis 1+; starker Konsens der Leitliniengruppe)

Diese Empfehlung fußt auf der Evidenz, die Effekte sowohl der Verhaltenstherapie allein (im Einzel- oder Gruppensetting) wie auch in Kombination mit Ernährungs- und Bewegungselementen belegt. Die Leitlinie stellt dabei explizit fest, dass die «Verhaltensmodifikation» ein «wesentliches Element der Adipositastherapie» darstellt. Die Leitlinie greift bezüglich der ersten Empfehlung auch Hinweise auf, die einen Trend zur Dosis-Wirkungsbeziehung zeigen, d.h. dass intensivere «Verhaltensprogramme» zu mehr Gewichtsverlust führen. Hinsichtlich der Differenzialindikation Einzel- versus Gruppensetting empfiehlt die Leitlinie, «individuelle Gesichtspunkte» zugrunde zu legen, da keine ausreichende Evidenz für die merkmalsbasierte Entscheidung gegeben ist.

Die Leitlinie stellt hinsichtlich der klinischen Implikationen klar die Rolle der Verhaltenstherapie in der Behandlung der Adipositas heraus. Dabei müssen wesentliche Therapieentscheidungen (z.B. Einzel- oder Gruppentherapie) aber weiterhin ohne kriterienbasierte Leitliniengrundlage getroffen werden, da die notwendige Evidenz hierzu bislang fehlt.

Verhaltenstherapeutische Interventionen sollen an die Betroffenen und ihre Situation angepasst werden (Empfehlungsgrad A, Evidenzgrad 4, starker Konsens der Leitliniengruppe)

Diese Empfehlung unterstreicht den Anspruch eines Individualansatzes in der Diagnostik und insbesondere in der Therapie von Menschen mit Adipositas im Sinne einer «Tailored Intervention»-Strategie. Auf der anderen Seite wird hier aber auch das Fehlen der entsprechenden empirischen Basis für differenzierte kriterien- bzw. merkmalsgeleitete Behandlungspfade explizit herausgestellt. Damit muss zum jetzigen Zeitpunkt die Indikationsstellung für die an das Individuum angepassten Interventionen, wie z.B. die Wahl des Settings, der Techniken oder der Therapiedosis, der Einschätzung des einzelnen Therapeuten überlassen werden.

Die Neufassung der Leitlinie benennt dabei die möglichen Perspektiven bzw. Einflussgrößen für die Ausgestaltung eines Behandlungsplans für Menschen mit Adipositas. Darunter fallen nach dem Konsens der beteiligten Experten: 1) die Vorgeschichte bezüglich Gewichtsentwicklung, Erfahrungen mit früheren Abnehmversuchen, Stigmatisierungserfahrungen und Selbstwertempfinden, 2) die Motivationslage zur Veränderung, 3) die sozialen Bedingungen wie z.B. Partnerschaft, Familie, Freunde, Arbeitsplatz und Freizeitgestaltung und 4) die Rolle und die Funktion der Nahrungsaufnahme hinsichtlich z.B. des «sozialen Geschehens», Entspannung, Belohnung, Frustessen. Diese sowie die oben benannten psychosozialen Faktoren, die Essstörungspathologie bzw. andere psychische Komorbiditäten stellen damit die wesentlichen diagnostischen Kategorien dar, die Psychotherapeuten in der Therapie von Menschen mit Adipositas berücksichtigen sollten (Tab. 1).

Table 1

Spezifische diagnostische Aspekte bei Adipositas aus Sicht der Verhaltenstherapie

Spezifische diagnostische Aspekte bei Adipositas aus Sicht der Verhaltenstherapie
Spezifische diagnostische Aspekte bei Adipositas aus Sicht der Verhaltenstherapie

Verhaltenstherapeutische Interventionen und Strategien zum Einsatz bei Übergewicht oder Adipositas sollen verschiedene Elemente enthalten (Empfehlungsgrad A, Evidenzgrad 4, starker Konsens der beteiligten Experten)

Neben dem Individualansatz fordert die Leitlinie hier - ebenfalls mit dem höchsten Empfehlungsgrad - den Einbezug verschiedener Instrumente bzw. Techniken in die Therapie von Menschen mit Adipositas oder Übergewicht. Die daran anschließende Empfehlung nennt explizit die möglichen psychotherapeutischen Techniken, die aus Sicht der Leitlinie zur Verfügung stehen. In dieser anschließenden Empfehlung wird dabei die allgemeinere Begrifflichkeit der «psychotherapeutischen» Elemente gebraucht. Diese Begrifflichkeit wird der Komplexität der geschichtlichen Hintergründe in der Entwicklung der Instrumente und Techniken gerecht, die teils nicht sicher einem bestimmten psychotherapeutischen Theoriengebäude zugeordnet werden können und teils auf gemeinsame bzw. allgemeine Wirkfaktoren zurückgreifen. Darüber hinaus wird mit dieser Terminologie aber auch eine Eindeutigkeit bezüglich der Art der Expertise und der Berufsgruppe, die an dieser Stelle in die Behandlung von Menschen mit Adipositas einzubeziehen ist, hergestellt.

Das Spektrum der geeigneten Interventionen und Strategien kann folgende psychotherapeutische Elemente beinhalten:

Selbstbeobachtung von Verhalten und Fortschritt (Körpergewicht, Essmenge, Bewegung); Einübung eines flexibel kontrollierten Ess- und Bewegungsverhaltens (im Gegensatz zur rigiden Verhaltenskontrolle); Stimuluskontrolle, kognitive Umstrukturierung (Modifizierung des dysfunktionalen Gedankenmusters); Zielvereinbarungen; Problemlösetraining/Konfliktlösetraining; soziales Kompetenztraining/Selbstbehauptungstraining; Verstärkerstrategien (z.B. Belohnung von Veränderung); Rückfallprävention; Strategien im Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht; soziale Unterstützung (Empfehlungsgrad 0, Evidenzgrad 1++ bis 2-, Konsens der Experten).

Diese überwiegend in der Verhaltenstherapie verankerten Strategien und Techniken wurden in der aktuellen Fassung der Leitlinie ergänzt und erstmals näher beschrieben bzw. definiert. Tabelle 2 fasst diesen neuen Bereich der Leitlinie in einer Übersicht zusammen. Die Leitlinie betont in den Erläuterungen zu dieser Empfehlung die Evidenz, die die Wirksamkeit der Gesamtheit dieser Techniken im Rahmen einer Verhaltenstherapie belegt, wenngleich hier auch auf die Grenzen aller konservativen Therapien, also auch der Verhaltenstherapie, bezüglich signifikanter und langfristiger Erfolge in der Gewichtskontrolle hingewiesen werden muss und die Effizienzsteigerung dieser Ansätze ein wichtiges Ziel der Weiterentwicklung bleibt.

Table 2

Verhaltenstherapeutische Instrumente, Strategien und Ziele in der Adipositasbehandlung

Verhaltenstherapeutische Instrumente, Strategien und Ziele in der Adipositasbehandlung
Verhaltenstherapeutische Instrumente, Strategien und Ziele in der Adipositasbehandlung

Eine zentrale Problematik der Bearbeitung von Fragestellungen aus dem Bereich der Verhaltensforschung bei Adipositas, die auch in der Leitlinie ihre Erwähnung findet, ist die oben schon erwähnte uneinheitliche bzw. unklare Begriffsbestimmung. So wird die Terminologie nicht trennscharf bzw. häufig überlappend verwendet. Die in der Leitlinie erwähnten «Lebensstiländerungen» sind in der Literatur, wie oben bereits diskutiert, teils synonym mit «verhaltenstherapeutischen Interventionen» verwendet, teils beschreiben sie aber auch kategorial unterschiedliche Perspektiven. Dabei kann im Wortsinne die «Lebensstiländerung» als ein Inhalt bzw. als eines der möglichen Ziele von verhaltenstherapeutischen Interventionen betrachtet werden. Verhaltenstherapie bzw. ihre Techniken und Verfahren können zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden. Eine synonyme Verwendung bedeutet dabei eine ungenügende Differenzierung der Begriffe, die in der zukünftigen wissenschaftlichen Bearbeitung des Themenfeldes vermieden werden sollte. Es ist aus Sicht der Autoren auch vor diesem Hintergrund zwingend erforderlich, dass in die Beforschung von Bereichen der Adipositastherapie, in denen verhaltenstherapeutische Verfahren oder Techniken (mit) zur Anwendung kommen, ausgewiesene Experten wie psychologische oder ärztliche Psychotherapeuten mit in die Konzeption und Durchführung eingebunden werden.

Ein Fragenkomplex, der die Aufmerksamkeit der wissenschaftlich tätigen Verhaltensmedizin verdient, sind die weitgehend offenen Fragen nach differenziellen Indikationsstellungen für z.B. Gruppen- oder Einzeltherapie, die optimale Therapiedosis sowie die effizienteste Kombination von Methoden und Techniken bei dem jeweiligen Patienten. Insbesondere die Identifikation von Ein- und Ausschlusskriterien für z.B. definierte Patientenpfade und Programme fehlt bisher in der Literatur und wird für die weitere Entwicklung von Programmen und Ansätzen dringend benötigt. Die oben angeführten in der Leitlinie qua Expertenkonsens empfohlenen Faktoren können dabei eine erste Grundlage für die Operationalisierung dieser Fragestellung sein. Ein Beispiel hierfür ist das motivationale Stadium eines Patienten, das durch strukturierte Fragebogendiagnostik ermittelt und anschließend in die Therapie mit eingebracht werden kann.

Forschungsbedarf besteht darüber hinaus auch im Bereich der Wirkfaktoren verhaltenstherapeutischer Interventionen. Der Hinweis der Leitlinie, dass laut Studienlage z.B. Interventionen, die von gleichbleibenden Therapeuten durchgeführt werden, wirksamer sind als solche mit wechselnden Bezugspersonen, deutet klar auf die Beziehungsdimension/Bindungsdimension der therapeutischen Beziehung hin, die auch in diesem Rahmen dringend weiterer Aufklärung der zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und Spezifika bedarf.

Die steigenden Zahlen an bariatrisch chirurgisch behandelten Betroffenen bedeuten auch den zunehmenden Bedarf an psychosozialer Diagnostik und Begleitung. Hier sind etwa Prädiktoren von psychogenetischen Komplikationen im Verlauf nach einer Operation nicht ausreichend vorhanden, um eine gezielte Ausschlussdiagnostik bzw. die Indikation für zielführende, z.B. verhaltenstherapeutische Vorbereitungs- oder Begleit- und Nachsorgemaßnahmen durchführen zu können. Speziell bezüglich der Nachsorge nach bariatrischer Chirurgie gibt es kaum Evidenz hinsichtlich Empfehlungen zur Zusammensetzung von Maßnahmen und zur Dosis und Dauer von psychoedukativen oder psychotherapeutischen Interventionen. Dies gilt leider auch noch für den gesamten Bereich der «Nachsorge» im Bereich konservativer Gewichtsreduktionsmaßnahmen. Welche Patienten hier in welcher Frequenz und Dauer welcher überwachungs- und intervalltherapeutischen Maßnahmen bedürfen, um dauerhaft den Gewichtsverlust aufrechterhalten zu können, ist noch nicht hinreichend untersucht. Die Leitlinie benennt zwar kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen als wirksame Faktoren im Rahmen einer «Extended Care», Empfehlungen höheren Evidenzgrades können aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gegeben werden. Welche Rolle für welche Patienten hier z.B. auch Online-Verfahren einnehmen können, ist ebenfalls ein Bereich, in dem es weitere wissenschaftliche Anstrengungen braucht (Tab. 3).

Table 3

Verhaltenstherapie in der Adipositas-Leitline: Historie, Gegenwart und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten

Verhaltenstherapie in der Adipositas-Leitline: Historie, Gegenwart und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten
Verhaltenstherapie in der Adipositas-Leitline: Historie, Gegenwart und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten

Forschungsverbünden wie z.B. dem Kompetenznetz Adipositas ist es unter anderem zu verdanken, dass die Beforschung solcher und ähnlicher Fragestellungen im Feld der Adipositastherapie in den letzten Jahren ein deutliches Stück vorangekommen ist. Derartige Verbünde und gemeinsame Anstrengungen von spezialisierten Zentren und den einzelnen Experten z.B. für Verhaltenstherapie sind auch in Zukunft dringend notwendig, um den betroffenen Patienten in naher Zukunft z.B. evidenzbasierte Patientenpfade etwa in Stufenplänen zur Verfügung zu stellen, die merkmalsgeleitet jeweils die bestmögliche Option für den Betroffenen darstellen, und um aus gesundheitssystemischer Perspektive die langfristig effiziente, d.h. auch kosteneffiziente Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Zur Erreichung dieses Ziels erscheinen die folgenden Leithypothesen als wichtige Grundlage für künftige Forschungsstrategien im Feld der Adipositastherapie.

- Differenzierte evidenzbasierte Patientenpfade bzw. Stufenpläne («Stepped Care»-Modelle) in Abhängigkeit von bio-psychosozialen (Ko-)Faktoren der Erkrankung - von der Diagnostik bis zur Nachsorge - sind das Ziel in der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Adipositastherapie.

- Die Multidisziplinarität der klinischen Adipositasforschung verlangt besondere wissenschaftliche Stringenz hinsichtlich der Operationalisierung von Programmen und der forschungsmethodischen Konzeption der zumeist komplexen Interventionen.

- Die Beforschung von Themenbereichen mit psychotherapeutischer (z.B. verhaltenstherapeutischer) Dimension verlangt entsprechend die Einbindung der jeweiligen Experten, um das entsprechende Fachgebiet adäquat hinsichtlich etwa Begriffsbestimmungen (Definitionen), der Qualität der Interventionen und der Abgrenzung zu anderen Therapieverfahren abzubilden.

- Langzeitkatamnesen sind bislang (auch) im Bereich der (Psychotherapie-)Forschung bei Adipositas ungenügend repräsentiert - hier bedarf es intensivierter wissenschaftlicher Anstrengungen.

- Die Evidenzbasis bezüglich der Gewichtsstabilisierungsphase im Anschluss an konservative Gewichtsreduktionsprogramme ist weiterhin unzureichend und verlangt intensivierte wissenschaftliche Aktivitäten.

- Differenzielle Indikationen für spezifische Konzepte und Module (z.B. Einzel- vs. Gruppentherapieverfahren, Präsenz- oder Online-Therapie) anhand von Patientenmerkmalen werden in der Adipositastherapie benötigt und sollen verstärkt beforscht werden.

- Die Nachsorge nach konservativen Gewichtsreduktionsprogrammen sowie nach bariatrischer Chirurgie benötigt dringend eine Evidenzbasierung hinsichtlich z.B. der Frequenz und der Inhalte der vorgehaltenen Angebote.

Die Autoren dieses Artikels geben den Inhalt der Leitlinie fokussiert auf Psyche und verhaltenstherapeutische Interventionen wieder. An dieser Stelle können nicht alle Quellenangaben der Leitlinie wiederholt werden. Es wird auf den entsprechenden Quellenteil verwiesen, wo sich die verwendete Literatur findet.

Die Autoren erklären hiermit, dass keine Interessenskonflikte in Bezug auf das vorliegende Manuskript bestehen.

1.
Hauner H, Berg A, Bischoff SC, Colombo-Benkmann M, Ellrott T, Heintze C, Kanthak U, Kunze D, Stephan N, Teufel M, Wabitsch M, Wirth A: Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur «Prävention und Therapie der Adipositas». Version 2.0, 2014 (1. Aktualisierung, 2011-2013). <i>www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/050-001. html</i> (Zugriff 25.06.15).