Einleitung
Unter physikalischer Komplextherapie wird die gleichzeitige Behandlung mit unterschiedlichen, synergistischen Mitteln der physikalischen Therapie verstanden. Zusätzlich können eine medikamentöse Schmerztherapie, eine medizinische Trainingstherapie oder eine Psychotherapie hinzukommen. Was genau zu einer Komplextherapie dazugehört, wird uneinheitlich definiert. Im Fallpauschalensystem der Krankenhausfinanzierung in Deutschland werden für eine Komplextherapie eine fachärztliche Anleitung für die Behandlung, die gleichzeitige Anwendung von fünf diagnostischen Verfahren, von mindestens drei Verfahren aus der Manuellen Medizin und von mindestens drei Verfahren aus der Krankengymnastik sowie eine Bewertung (Assessment) des Therapieerfolgs in einem interdisziplinären Team gefordert. Typischerweise wird eine Komplextherapie während der Behandlung dem Verlauf angepasst. In einem solchen Kontext nimmt die Planung der Therapie eine zentrale Stellung ein [1]. Nachfolgend werden typische Fallbeispiele vorgestellt und diskutiert.
Fallbeispiele
Eine 58-jährige Patientin mit diagnostiziertem Fibromyalgiesyndrom litt an massiven Schmerzen in den Hüftgelenken und im Schultergürtel, an von der Halswirbelsäule ausgehenden Kopfschmerzen, an Schlafstörungen, an einer depressiven Verstimmung und an einem Colon irritabile. Die klinische Untersuchung zeigte keine wesentlichen Störungen der Gelenk- und Muskelfunktionen, abgesehen von einer Verspannung der Nackenmuskulatur. Als Therapieziele wurden eine Schmerzlinderung, eine Normalisierung des Muskeltonus mit Dehnung verkürzter Muskeln, eine Verbesserung der Schlafqualität, eine Normalisierung der vegetativen Regulation und eine allgemeine Aktivierung der Patientin festgelegt. In einem ersten Schritt wurde die Patientin krankengymnastisch mit Wirbelsäulenaufrichtung, Muskeldehnung und leichtem Ausdauertraining behandelt. Zusätzlich erhielt sie Krankengymnastik im Bewegungsbad, detonisierende Massnahmen, Querfriktionen (Reiben der Muskeln quer zu ihrer Verlaufsrichtung), Moorpackungen im Bereich des Beckens und wechselwarme Kniegüsse. Zusätzlich bekam sie ein Antidepressivum, ein Muskelrelaxans und ein nichtsteroidales Antirheumatikum. Nach 3-4 Wochen wurde eine gewisse Verbesserung der Symptome erzielt und die Therapie modifiziert: Die Kniegüsse und die Querfriktionen wurden abgesetzt und eine medizinische Trainingstherapie wurde aufgenommen. Die Häufigkeit der Massagen wurde vermindert, und es wurden der Patientin Saunabäder empfohlen. Die Patientin führte die Übungen im Bewegungsbad, das Ausdauertraining und die Saunabäder selbstständig fort. Der weitere Verlauf ist unbekannt.
Ein 38-jähriger Kellner war wegen Rückenschmerzen mit diffuser Ausstrahlung in das rechte Gesäss und in das rechte Bein seit 3 Monaten arbeitsunfähig. Die klinische Untersuchung ergab eine Druckschmerzhaftigkeit verschiedener Lendenwirbelstrukturen und des linken Musculus piriformis sowie Blockierungen von Lendenwirbelgelenken und des Iliosakralgelenks. Eine entzündliche Krankheit sowie ein Tumor konnten ausgeschlossen werden. Als Ziele der Therapie wurden Schmerzlinderung, die Beseitigung der Blockierungen, eine Normalisierung des Muskeltonus, eine Verbesserung der Koordination der Rumpfbewegungen, die Instruktion von rückengerechten Verhaltensweisen und eine Intensivierung der allgemeinen Bewegungsaktivitäten festgelegt. Der erste Therapieplan umfasste eine Mobilisation der Blockierungen, manualmedizinische Manipulationen, die Verordnung eines nichtsteroidalen Antirheumatikums für 2 Wochen, Krankengymnastik, Fangopackungen, detonisierende Massagen der Rückenmuskulatur, die Teilnahme an einem Erziehungsprogramm in der Gruppe - unter anderem mit Erlernen von Übungen zum rückengerechten Verhalten - und eine einmalige Anleitung der Rückenschwimmtechnik. Nach ca. 4 Wochen wird die Krankengymnastik durch eine Medizinische Trainingstherapie ersetzt; die Wärmeanwendungen und die Massage werden beendet. Der Patient erhielt Anleitungen zur Mobilisation der Iliosakralgelenke und für Dehnungsübungen des Musculus piriformis. Er wurde mit einem Rezept für ein Analgetikum im Bedarfsfall arbeitsfähig aus der Behandlung entlassen.
Ein 58-jähriger Hafenarbeiter suchte nach einer erfolglosen Behandlung einer stumpfen Verletzung des Handgelenks die Spezialsprechstunde wegen folgender Beschwerden auf: Belastungsschmerzen im rechten Handgelenk, stumpfe Schmerzen in der ganzen Hand nach Gebrauch von 10 min Dauer sowie regelmässige Schwellung des rechten Handgelenks, zum Teil auch der Finger, namentlich des vierten Fingers rechts. Die Befunde der klinischen Untersuchung waren eine maximale Einschränkung der Beweglichkeit des Handgelenks und der Fingergrundgelenke, ein maximaler Berührungsschmerz am Handrücken und eine Rötung der gesamten rechten Hand. Als therapeutische Massnahmen wurden ergriffen: Krankengymnastik (Bewegungsübungen im schmerzfreien Bereich), CO2-Handbäder, manuelle Lymphdrainage, Elektrostimulation, Ergotherapie zur Desensibilisierung bzw. mit Bewegungsübungen (im schmerzfreien Bereich) sowie die Verordnung eines Antidepressivums, eines Antiepileptikums und eines Analgetikums bei Bedarf, wovon der Patient lediglich zweimal Gebrauch machte. Nach 14 Tagen war die Desensibilisierung erfolgreich; die Häufigkeit der CO2-Handbäder wurde reduziert und die Krankengymnastik wurde angepasst. Die Mobilisation der Gelenke erfolgte als Manuelle Therapie. Nach weiteren 8 Wochen konnte der Patient mit einem Selbstübungsprogramm aus der Therapie entlassen werden.
Diskussion
Die drei geschilderten Fälle einer Komplextherapie sind typische Beispiele für die Anwendung der physikalischen Therapie, die regelmässig Bestandteil einer komplexen, multimodalen Therapie ist (Abb. 1, 2, 3). Das einzelne physikalische Therapiemittel ist per se plurimodal. Untereinander kombiniert und mit anderen Methoden ergänzt, ermöglicht eine Komplextherapie eine sehr weitgehende Anpassung an die zu behandelnde Person. Auch wenn schulmedizinische Methoden zum Zuge kommen, ist eine Komplextherapie eine ganzheitliche Behandlung. Mit Therapiemassnahmen in der Gruppe, die aus der Isolation helfen, und mit Anleitungen zur Selbsttherapie in Form von Übungen, Haltungsverbesserung und Ähnlichem kann eine gewisse Nachhaltigkeit erlangt werden. Die Fallbeispiele zeigen auch deutlich einen Zusammenhang zwischen Schmerzen und Depression, wobei auf der Ebene der Einzelfälle offen bleibt, ob die Schmerzen die Depression verursachen oder die Depression für (mindestens einen Teil) der Schmerzen verantwortlich ist. Im Fall des 58-jährigen Arbeiters hat das Antidepressivum z.B. zur Linderung der Schmerzen beigetragen [1].
Der Zusammenhang zwischen Schmerzen und Depression wurde lange Zeit namentlich in den Lehrbüchern nicht thematisiert. Lyndsay und Wyckoff [2] untersuchten diesen Zusammenhang systematisch. Sie beobachteten, dass 261 von 300 Patienten, die ein Schmerzzentrum aufsuchten, auch an einer Depression litten. Umgekehrt litten 116 von 197 depressiven Patienten an rezidivierenden Schmerzen. Ähnliche Verhältnisse beobachteten Bair et al. [3] in ihrer Literaturarbeit: 65% der Patienten, die an einer Depression litten, klagten auch über einen oder mehrere Schmerzzustände. An einer Depression litten 5-85% der Patienten mit einem oder mehreren Schmerzzuständen. Schmerzzustände sind häufiger mit einer Depression vergesellschaftet, als es die spontane Häufigkeit der Depression erwarten lässt. Depressionen ihrerseits sind häufiger mit Schmerzzuständen vergesellschaftet, als es der spontanen Häufigkeit von Schmerzen entspricht. Die Diagnosestellung der Depression kann durch die Schmerzzustände verschleiert sein [2], [3].
Es konnte die Existenz eines zentralen Schmerzsteuerungssystems, das periphere nozizeptive Reize dämpft oder verstärkt, nachgewiesen werden. Die beiden Neurotransmitter Serotonin und Norepinephrin vermitteln eine dämpfende Wirkung. Die Verminderung der Konzentration dieser Transmitter im Zusammenhang mit einer Depression erklärt die Schmerzsymptome im Rahmen einer Depression, aber auch warum Schmerzen mit Antidepressiva vermindert werden können [3].
Schlussbemerkungen
Die physikalische Komplextherapie ist eine adäquate Behandlungsstrategie bei chronischen Schmerzen und Depression, welche häufig miteinander vergesellschaftet sind. Die Multimodalität ermöglicht neben einer feinsten individuellen Anpassung an den Patienten auch die Berücksichtigung psychologischer und sozialer Aspekte, wendet sich doch der Therapeut bei einer Massage, in einer Physiotherapie oder während einer Manuellen Therapie dem Patienten zu. In der Antike war zu Recht von Heilkunst und nicht von Heiltechnik die Rede. Weber et al. [4] beurteilten in einer Metaanalyse den Nachweis der Wirksamkeit von physikalischen Komplextherapien als sehr schwierig, unter anderem weil nichttherapiespezifische Effekte (d.h. letztendlich nicht messbare Effekte) wesentlich zum Behandlungserfolg beitrugen. Solche Effekte aber, z.B. die Erwartungen des Patienten und psychosoziale Faktoren, sind einer ganzheitlichen Behandlung immanent. Hier stellt sich die Frage, wie in einem hochkomplexen Gesundheitssystem ein adäquater Nachweis der Wirksamkeit von multimodalen, hochindividuellen Behandlungsstrategien auszusehen hat. Es gibt allerdings schon Lösungsansätze, z.B. das Erarbeiten von qualitätsbasierten Prüfplänen (Verminderung der krankheitsbedingten Abwesenheit von der Arbeit, Senkung der Unfallkosten, Verminderung der Notwendigkeit einer Operation, besserer Erfolg einer Operation) [5] oder das Aufstellen von Prüfplänen, die übergeordnete Effekte wie die Verbesserung der Lebensqualität stark gewichten [6].