Abstract
Dr. phil. Marko Nedeljković arbeitet heute als diplomierter Taiji-Lehrer (gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Qigong und Taijiquan), hat die Taiji-Schule «Space 2 be» gegründet und bildet sich bezüglich Taiji auch selbst regelmässig fort. Ausserdem hat er ein Studium der Klinischen Psychologie an der Universität Zürich absolviert und sein Doktorat zum Thema «Taiji und Stressprotektion» am Psychologischen Institut und am Institut für Komplementärmedizin (IKOM) an der Universität Bern verfasst. Hinzu kommt ein Studium der Sinologie an der Universität Zürich mit Studienaufenthalten in China (Peking und Qingdao).
Sehr geehrter Herr Dr. Nedeljković, bitte geben Sie uns doch als Einstieg einen kleinen Einblick in die Bereiche Taiji und Yoga sowie deren Wurzeln.
Taiji und Yoga können als zwei Methoden zur Schulung von Körper und Geist betrachtet werden. Während Yoga seine Wurzeln in Indien hat und vornehmlich im Hinduismus verankert ist, bildet für Taiji der Daoismus die philosophische Grundlage. Ursprünglich wurde Taiji als Kampfkunst praktiziert. Heute stehen bei dieser aus China stammenden Bewegungskunst - ähnlich wie beim Yoga - mehrheitlich die gesundheitsfördernden und meditativen Aspekte im Vordergrund. Während der letzten zwei Jahrzehnte wurde zu Taiji und Yoga eine stetig zunehmende Anzahl an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten publiziert. Die Ergebnisse sprechen deutlich für die positive Wirkung beider Praktiken auf das körperliche und geistige Wohlbefinden. Im Gegensatz zu den Übungsformen im Yoga, bei welchen in einzelnen Körperstellungen achtsam verweilt wird, steht im Taiji die Ruhe in der Bewegung im Vordergrund. Die Bewegungen im Taiji sind geschmeidig und fliessend. Der Körper ist aufrecht und erdverbunden. Er bewegt sich entspannt als Ganzes von der eigenen Mitte aus geführt. In den Klassikern heisst es dazu: «Sei still wie ein Berg, bewege dich kraftvoll wie ein grosser Fluss.»
Sie haben Ihre Doktorarbeit zum Thema «Taiji und Stressprotektion» am Psychologischen Institut und am Institut für Komplementärmedizin (IKOM) der Universität Bern verfasst. Welche Kernaussagen waren darin enthalten, und wie sah Ihr Fazit aus?
Nun, die Studienteilnehmenden, die einen dreimonatigen Taiji-Anfängerkurs zweimal die Woche besucht hatten, wiesen bei einem standardisierten psychosozialen Stresstest signifikant niedrigere körperliche (Herzrate, Cortisol, Alpha-Amylase) und psychische Stressreaktionen auf als jene ohne Taiji-Training. Darüber hinaus wurde in der Taiji-Gruppe unmittelbar nach Kursende sowie auch 2 Monate danach ein stark vermindertes Stresserleben und eine überzufällig erhöhte allgemeine Selbstwirksamkeit, Achtsamkeit und «Self-Compassion» (wohlwollender Umgang mit sich selbst in belastenden Situationen) beobachtet. Fazit: Regelmässiges Taiji-Training kann vor Stress schützen und stärkt die gesundheitsfördernden Anteile in uns.
Wie lassen sich Ihre Erfahrungen durch Ihr Studium der klinischen Psychologie verbunden mit Entspannungs- und Bewegungstechniken auf z.B. die muskuloskelettale Rehabilitation anwenden?
Meiner Erfahrung nach kann Taiji sehr gut in die muskuloskelettale Rehabilitation integriert werden. Taiji zeichnet sich ja gerade durch sanfte und fliessende Bewegungsabläufe aus, die eine dynamische Balance und ein Sich-bewegen-Lassen durch Entspannung schulen. Die leichte bis moderate körperliche Beanspruchung während dem Üben von Taiji ist für die muskuloskelettale Rehabilitation ideal. Relativ hoch sind jedoch die Anforderungen für Koordination und Körperselbstwahrnehmung. Daher müssen der Schwierigkeitsgrad der Taiji-Übungen und die Art der Vermittlung gut an die Möglichkeiten der Patienten angepasst sein, damit die grundlegenden Bewegungsprinzipen schnell erlebbar werden und erste erfolgreiche Umsetzungsversuche nicht lange auf sich warten lassen. Solche Erfolgserlebnisse sind wichtig. Sie schenken Freude, vermitteln ein starkes Gefühl von Selbstwirksamkeit und machen Lust auf mehr. Das ist ein möglicher Weg vom Defizit hin zur Ressource.
Welche Unterschiede, z.B. in der Umsetzung, Erlernung oder auch bezüglich von Kursangeboten, lassen sich nach Ihren Aufenthalten in Asien im Vergleich zu Europa feststellen?
Ich kann mich da nur auf meine Eindrücke aus meiner Zeit in China beziehen. Wie es in anderen asiatischen Ländern aussieht, dazu kann ich nicht viel sagen. Sowohl in China als auch in Europa gibt es eine Vielzahl verschiedener Taiji-Stilrichtungen, und die Art des Unterrichtens kann sich von Lehrperson zu Lehrperson stark unterscheiden. Der für mich grösste und offensichtlichste Unterschied zu Europa ist, dass in China Taiji-Praktizierende das ganze Jahr hindurch in jedem öffentlichen Park anzutreffen sind. Dort ist Taiji kulturell so stark verankert, dass es zum Bild eines chinesischen Parks einfach dazugehört. Bei uns hingegen wird Taiji überwiegend in geschlossenen Kursräumen unterrichtet. Möglicherweise kann das Ausüben einer kulturfremden Bewegungsform in einem öffentlichen Park mit Hemmungen verbunden sein. Da die Parkanlagen bei uns leider nur selten mit überdachten Pavillons ausgestattet sind, ist das vermutlich ein weiterer Grund, warum das Üben von Taiji im Freien hierzulande noch relativ selten zu sehen ist. Schade, denn es ist wirklich etwas Wunderbares, den Tagesanbruch auf diese harmonisch-bewegte Art und Weise so naturverbunden zu erleben.
Sie sind Leiter der Taiji-Schule «Space 2 be» in Bern und Zürich. Bitte berichten Sie uns doch ein wenig mehr zu den Hintergründen sowie zu der Idee, eine solche Schule ins Leben zu rufen.
Nach Abschluss meiner Taiji-Forschungsarbeiten wollten einige Studienteilnehmende mit Taiji weitermachen und haben mich um einen Folgekurs gebeten. So kam ich dazu, Taiji-Kurse am Inselspital anzubieten. Später kamen noch weitere Kursorte wie das Universitätsspital Zürich dazu. «Space 2 be» kann mit «Raum zum Sein» übersetzt werden. Damit ist in erster Linie der eigene innere Seinsraum gemeint, in dem man ankommen, loslassen und eben … einfach sein kann. Aus diesem heraus kann sich natürliches, entspanntes Bewegen ruhig und kraftvoll entfalten. Taiji dient dabei als Methode zur Vermittlung eines solchen Körpergefühls und -bewusstseins. Die durch das Üben von Taiji gewonnenen Kompetenzen und Erkenntnisse können sich dann zunehmend auch ausserhalb der Kursstunden individuell im Alltag bemerkbar machen. Mir ist es ein Anliegen, mit «Space 2 be» ein Taiji zu vermitteln, das erlebt und über die vorgegebenen Bewegungsabläufe hinaus gelebt werden kann.
Wie sind Sie mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) bzw. mit Taiji in Berührung gekommen? Was fasziniert Sie daran am meisten? Und welche Querverbindungen zu anderen komplementärmedizinischen Bereichen und Verfahren sehen/nutzen Sie?
Ich war da erst gerade zur Schule gekommen, als ich ein kleines, sehr schwer zu öffnendes Blechdöschen Tigerbalsam in die Finger bekam. Ganz verzaubert war ich von den rätselhaften Schriftzeichen und der schönen Tempelabbildung auf dem roten Dosendeckel. Und als ich es endlich aufgekriegt hatte, kam mir der brennend-frische Geruch dieser wundersamen Salbe entgegen! Dies war wohl eines meiner ersten Erlebnisse, das meine Sinne für alles Fernöstliche geöffnet hatte. Später hatte ich asiatische Kampfkünste trainiert, eine Maturaarbeit über Qigong verfasst, nebst klinischer Psychologie auch Sinologie studiert, bin nach China gereist und hatte dort erste Erfahrungen mit der TCM machen dürfen. Taiji hatte mich mit seiner Facettenvielfalt mit Abstand am meisten fasziniert - und tut es immer noch. Während der letzten 15 Jahre habe ich Taiji als entspannende Bewegungsform, als unterstützende Therapiemethode, als Bewegungsmeditation zur Schulung der Achtsamkeit, als komplexen Gegenstand geistes- und naturwissenschaftlicher Forschungsarbeiten, als innere Kampfkunst und schliesslich auch als einen einzigartigen Weg, um sich mit dem Natürlichen in und um uns zu verbinden, sehr hoch zu schätzen gelernt.
Querverbindungen zu anderen komplementärmedizinischen Bereichen und Verfahren, insbesondere im Rahmen der TCM, gibt es viele. Taiji kann sehr gut als eine Komponente in ein multimodales therapeutisches Setting integriert werden. Ein besonders grosses Wirkpotenzial dieser vielseitig ressourcenweckenden Bewegungsform sehe ich im Bereich der Prävention von psychischen Störungen und körperlichen Erkrankungen. Im antiken China - so steht es im Huangdi Neijing, dem inneren Klassiker des Gelben Kaisers, geschrieben - wurde von einem guten Therapeuten erwartet, dass er die Leute erfolgreich behandelt, bevor ihre Krankheiten ausbrechen. Dabei hatten neben Anweisungen zu einer gesunden Lebensführung gerade gesundheitskräftigende Leibesübungen einen besonders hohen Stellenwert. Darauf dürfen wir uns zurückbesinnen.
Lieber Herr Dr. Nedeljković, ganz herzlichen Dank für das Interview!
Interview: Alexander Eitner