Das 2. Symposium der Akademie Menschenmedizin mit dem Thema «Zeit - Mensch - Medizin» fand am 28. August 2014 im Kunsthaus Zürich statt. Strukturiert als gemeinnütziger Verein ist die Akademie Menschenmedizin finanziell, ideell, parteipolitisch und konfessionell unabhängig. In ihrem Portrait [1] ist zu lesen:
«Die Akademie Menschenmedizin setzt sich ein für inhaltliche Diskussionen und innovative Ansätze mit konsequenter Reintegration der Geisteswissenschaften und der Kunst für ein qualitativ hochstehendes, bezahlbares Gesundheitswesen. Dazu gehören Grundsatzdiskussionen über das Menschenbild in der Medizin, über die Folgen der Ökonomisierung am Krankenbett, über Grenzen und damit über die Rationierung genauso wie Haltungsfragen, Versorgungsansätze und neue Finanzierungsformen.»
Der Vorstand (Abb. 1) setzt sich zusammen aus:
Vorstand der Akademie Menschenmedizin (von links nach rechts: Annina Hess-Cabalzar, Stephan Bachmann, Maya Karin Arnold, Christian Hess).
Vorstand der Akademie Menschenmedizin (von links nach rechts: Annina Hess-Cabalzar, Stephan Bachmann, Maya Karin Arnold, Christian Hess).
Annina Hess-Cabalzar, Psychotherapeutin ASP, Präsidentin der Akademie Menschenmedizin, Moderation des Tages;
Stephan Bachmann, Direktor REHAB Basel, Zentrum für Querschnittgelähmte und Hirnverletzte, Vizepräsident Akademie Menschenmedizin;
Dr. med. Christian Hess, ehemaliger Chefarzt Innere Medizin Spital Affoltern, Aktuar Akademie Menschenmedizin;
und neu seit letztem Jahr Maya Karin Arnold, Pflegefachfrau HF und Shiatsu-Therapeutin HPS, Vorstandsmitglied der Akademie Menschenmedizin.
Nach dem Erfolg des letztjährigen Symposiums zum Thema «Markt - Mensch - Medizin» (siehe auch [2]) fand im August dieses Jahres nun das zweite Symposium mit dem Thema «Zeit - Mensch - Medizin» statt.
Referenten des Symposiums waren:
Prof. Dr. Peter Meier-Abt, Präsident der SAMW und der kantonalen Ethikkommission («Glaubwürdigkeit der Forschung - Zeit für Veränderung»);
Prof. Dr. Ernst Peter Fischer, Physiker und Wissenschaftshistoriker («Jenseits der Zeit - moderne Physik und das Gesundheitswesen»);
Dr. phil. Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist («Zusammenfassung und Zeit aus philosophischer Sicht»);
Prof. Dr. Ueli Mäder, Ordinarius für Soziologie, Universität Basel («Zeit im Wandel - sozio-kulturelle Sicht»);
Esther Frank, Psychologin, Leitung Mutter-Kind-Abteilung, Dr. med. Isis Amitirigala, Assistenzärztin, und Nadine Eimbeck, Pflegefachfrau, Stillberaterin und Laktationsberaterin («Zeit - interdisziplinäre Sicht der jungen Generation»);
Prof. Dr. Marcel Tanner, Direktor Swiss Tropical and Public Health Institute, Consultant WHO («Zeitumkehr! Was können wir von der Gesundheitsversorgung in der Dritten Welt lernen?»).
Der Musiker André Desponds und die Künstlerin Susanna Niederer (Abb. 2) reflektierten das Symposium mit «musikalischen Feedbacks» sowie den «Bildern des Tages» (Abb. 3).
Zeit und Gegenwart
Die Zeit ist ein vielschichtiges Thema unserer Gesellschaft - und im Gesundheitswesen sicherlich eines der schwierigsten. Das Phänomen Zeit bildet einen Spannungsbogen zwischen Geburt und Tod. Ist es wichtig, wie wir geboren werden? Ist es wichtig, wie wir sterben?
Die heutige Diskussion um geplante Kaiserschnitte und Sterbehilfe schliesst das Phänomen Zeit mit ein. Zeit beinhaltet die ganze Spannweite zwischen dem quälenden Zeitüberfluss des Einsamen und dem Stress des von Termin zu Termin hetzenden, jederzeit erreichbaren Menschen des 21. Jahrhunderts. Kaum ein Mensch in unserer Zeit ist davon nicht betroffen. Frau Hess-Cabalzar meinte dazu: «Es ist Zeit, dem Zeitgeist zur Reifung zu verhelfen.»
Zeit und Beziehung
Wie wichtig der Beziehungsprozess bei einer Genesung ist, steht ausser Frage. Die immer wiederkehrende Aufgabe der Beziehungskunst braucht Zeit. Beziehungskunst meint hier die Beziehungsbildung zu sich selber, zum einzelnen Patienten oder zum Team und beinhaltet Wertschätzung, Mitgefühl, Vertrauen, Respekt, Achtsamkeit, Empathie und menschlichen Beistand. Im Alltag müssen Behandlungsabläufe beschleunigt und ökonomisch optimiert werden. Administrative Arbeiten werden immer aufwendiger. Die unmittelbare Begegnung von Mensch zu Mensch wird unbezahlbar. Die soziale Aufgabe geht verloren, die Arbeit verkommt zur Fliessbandarbeit. Wo genau ist die Grenze zwischen Heilen und Reparieren?
Wird die Wettbewerbsfähigkeit der menschlichen Beziehungskunst gegenübergestellt, wird klar, dass es kein «entweder oder», sondern nur ein «sowohl als auch» geben darf.
Der richtige Zeitpunkt
Vom Kairos der guten Stunde wussten schon die alten Griechen, die den günstigen Zeitpunkt als Gottheit personifizierten - im Sinne eines von Gott gegebenen Zeitpunkts, einer besonderen Chance oder Gelegenheit, des entscheidenden Augenblicks, um einen Auftrag zu erfüllen oder eine Frage zu klären. Heilung und Heilkunst fordern den richtigen Zeitpunkt - und Kairos lässt sich nicht hetzen.
Frau Hess-Cabalzar erinnerte an das Märchen «Dornröschen». Über lange Zeit kommt kein Prinz durch die Hecke, da der Zeitpunkt nicht passt, da die vielen Jahre der Verwünschung noch nicht vergangen sind. Dann endlich schafft es einer. Gelingt es ihm, weil er zum richtigen Zeitpunkt kommt? Oder weil er die Fähigkeit hat, den richtigen Zeitpunkt zu erahnen? Fällt uns der richtige Zeitpunkt zu? Oder gestalten wir ihn selber?
Zeit und Inspiration
In der Kunst wird oft gesagt, dass es drei Aspekte braucht, die erfüllt sein müssen, um ein Kunstwerk zu erschaffen.
Der Künstler oder die Künstlerin muss sein/ihr Handwerk beherrschen.
Der Künstler und die Künstlerin sind aufgefordert, Räume von Zeit und Ruhe zu schaffen, damit Inspiration, Intuition und sein/ihr offenes Herz sich in diesen Zeit-Raum hinein entfalten können.
Das Handwerk bzw. das künstlerische Können und die Inspiration müssen zusammenfallen, sich finden, sich ergänzen und potenzieren. Dieses Zusammenfinden ist nicht machbar und nicht planbar. Der Mensch kann einen solchen Zeitpunkt zwar mit seiner inneren Haltung begünstigen, erschaffen hingegen kann er ihn nicht. Dafür ist alleine Kairos zuständig.
Betrachtet man die Medizin als Heilkunst, lässt sich dieses Modell gut auf das Gesundheitswesen übertragen, und es zeigt die tiefe Bedeutung der Zeit.
Zeit und Forschung
Erfolge von Wissenschaften und Innovationen haben die Welt hauptsächlich zum Besseren verändert. Prof. Meier-Abt forderte die Zuhörenden in seinem Referat auf, dies bei aller (teils berechtigten) Kritik am heutigen Gesundheitssystem nicht zu vergessen.
Trotzdem sind sich heute viele Akteure im Gesundheitswesen einig, dass in der wissenschaftlichen Forschung einiges falsch läuft. Der Zeitdruck wie auch der Druck nach möglichst spektakulären Erfolgen ist enorm gross. Eine Entschleunigung ist dringend nötig, denn Wissenschaft braucht Zeit zum Denken sowie Zeit für Qualität, Transparenz und Wahrhaftigkeit. Herr Meier-Abt folgerte daraus: «Unsere Zeit braucht eine neue Wissenschaftskultur!»
Zeit und Endlichkeit
Die Vorstellung von Zeit ist konzeptuell geprägt - die Zeit lebt davon, wie der Mensch sie sieht. Wer dank der Notfallmedizin das Leben geschenkt bekommt, kennt den Aspekt, «jenseits der Zeit» zu leben. Die Begrenztheit der (Lebens-)Zeit ist eine Bedingung der Evolution.
Menschen sind Lebewesen, die ihre Grenzen erkennen und überwinden wollen. Dies ermöglicht es dem Menschen, sein Leben zu gestalten. Ohne Endlichkeit verliert jeder Moment seine Bedeutung. Erst Endlichkeit macht die menschliche Existenz lebenswert. «Alle Menschen sind sterblich», wie der Titel des bekannten Romans von Simone de Beauvoir besagt (frz. «Tous les hommes sont mortels», 1946). Die Geschichte erzählt von Raimondo Fosca, der einen Zaubertrank erhält und unsterblich wird. Er erreicht in seinem Leben zwar vieles, wird aber (tod-)unglücklich und empfindet seine Unsterblichkeit mehr und mehr als Fluch. Der Unsterbliche wird zum «Quasi-Toten» unter den Sterblichen, da angesichts der Unendlichkeit seiner Lebenszeit nichts mehr Bedeutung hat.
Zeit und Zeitnot
Es ist Mode, über die Zeitnot zu klagen, meinte Ludwig Hasler und sprach der Schnelligkeit ein Lob aus. Wer kennt nicht die Lust, Gas zu geben! Technik macht Tempo, das liegt in ihrem Wesen. Einerseits beschleunigt jede neue Errungenschaft (Feuer, Rad, Waschmaschine, Handy usw.) den vorhergegangenen Rhythmus. Ohne Beschleunigung gibt es keinen Wohlstand. Es soll nicht vergessen werden, dass wir im Vergleich zu unseren Vorfahren im Zeitwohlstand leben.
Andererseits kennen wir alle die menschliche Urangst, unter die Räder zu kommen und nicht mehr als ein «moderner Flipperautomat» zu sein (wie Charlie Chaplin in seinem berühmten Film «Modern Times» aufzeigte).
Zeit und Zukunft
Es lohnt sich, die Arbeit der Akademie Menschenmedizin weiter zu verfolgen. Ende November erschien der Tagungsband zum diesjährigen Symposium, und am 12. Juni 2015 soll das dritte Symposium der Akademie Menschenmedizin zum Thema «Technik - Mensch - Heilkunst» stattfinden.
Und wie sieht nun das Gesundheitssystem in 20 Jahren aus, damit der Auftrag von Gesundsein, Gesundbleiben und Heilung vortrefflich erfüllt ist?
Da ist noch vieles zu tun! Wegweisend soll dabei nachfolgendes Motto aus Afrika sein:
Wenn du rasch gehen willst, geh alleine.
Wenn du weit gehen willst, geh gemeinsam.