Der erste Tag der Internationalen Tagung «Phytotherapie 2014 - Klinik und Praxis» im Juni 2014 bewies, wie die Forschung mit pflanzlichen Arzneimitteln zum Thema «Phytotherapie in der Geriatrie und Gerontologie» viel Evidenz erzeugt hat, aber dass auch grosse Forschungslücken bleiben. Zudem wird das Potenzial der Phytotherapie in der modernen Medizin zu wenig genutzt, und der Stand der Forschung ist zu wenig bekannt. Welche Strategien sind in Zukunft zu verfolgen? Diesen Fragen wurde unter dem Motto «Wirksamkeitsnachweis in der Phytotherapie» am zweiten Tag der Veranstaltung nachgegangen (Abb. 1).
Die Initiatoren der Tagung: fünf nationale und internationale Fachgesellschaften für Phytotherapie und Arzneipflanzenforschung sowie drei Institute.
Die Initiatoren der Tagung: fünf nationale und internationale Fachgesellschaften für Phytotherapie und Arzneipflanzenforschung sowie drei Institute.
«Die Bedeutung der Metaanalyse in der Phytotherapie heute und morgen»
Die Übernahme der Methodik der Evidence-based Medicine (EbM) durch die Phytotherapie hat eine Fülle von Metaanalysen (MAs) ermöglicht und dafür gesorgt, dass der Anschluss an den methodischen Mainstream nicht verpasst wurde. Nach über 35 Jahren Erfahrung bedarf es jedoch einer kritischen Selbstref lexion, damit der Diskurs nicht in Paradigmen oder im gegenseitigen Ausspielen von Positionen erstarrt. Diese gedankliche Arbeit leistete Dr. med. Jörg Melzer (Abb. 2), Berlin und Zürich, in seinem Referat «Die Bedeutung der Metaanalyse in der Phytotherapie heute und morgen».
Dr. med. Jörg Melzer ging in seinem Referat auf die Bedeutung der Metaanalyse in der Phytotherapie heute und morgen ein.
Dr. med. Jörg Melzer ging in seinem Referat auf die Bedeutung der Metaanalyse in der Phytotherapie heute und morgen ein.
David Sackett, einer der Mitbegründer der EbM, nennt drei Kernaspekte: «Evidence-based Medicine is the integration of
a) best research evidence with
b) clinical expertise and
c) patient values».
Das Medizinsystem fokussiert primär auf Punkt a) «die beste Forschungsevidenz», jedoch zulasten von Punkt b) «klinische Erfahrung» und Punkt c) «Patientenwerte» (z.B. Präferenzen, Bedenken, Erwartungen). Melzer stellte drei provokante Hypothesen auf:
- MAs in der Phytotherapie weisen oft methodische Schwächen bei den Auswahlkriterien der Randomized Clinical Trials (RCTs) auf, da die Autoren nur über unzureichende Kenntnisse bezüglich der Eigenheiten pflanzlicher Arzneimittel verfügen.
- Oft sind Forschende beteiligt, die keine klinische Erfahrung mit pflanzlichen Arzneimitteln haben. Sie sind oft auch keine Fachärzte für die untersuchten Grundkrankheiten.
- An keiner der besprochenen MAs waren Vertreter von Patientengruppen beteiligt, die den Aspekt Patientenerwartung hätten einbringen können.
Zur ersten These zeigte sich eine mitunter beachtliche Heterogenität der in MAs ausgewählten Studien. Beispielsweise wurden in einer MA zu Johanniskraut Studien eingeschlossen, die betreffend Tagesdosis um den Faktor 7,5 und betreffend Behandlungsdauer um den Faktor 3 divergieren. Aus klinischer Sicht wäre eine Aufteilung des Poolings in Subgruppen nach Dosisbereichen und Behandlungsdauer nötig - ein Problem, das sich nicht nur bei Studien zur Phytotherapie zeigt. Zur zweiten These: Bei manchen Publikationen fiel auf, dass keine Fachärzte beteiligt waren, weshalb sich die Frage stellt, ob die Schlussfolgerungen aus klinischer Sicht jeweils präzise und detailliert genug formuliert wurden. Bei der Planung und Durchführung von RCTs und MAs ist die Mitarbeit von Fachärzten, zertifizierten Phytotherapeuten und auch von Patientenvertretern notwendig. Melzer wünscht sich, dass das QUORUM-Statement, das generelle Richtlinien für MAs gibt, für phytotherapeutische Interventionen weiterentwickelt werden sollte, so wie das für klinische Studien mit einer Ergänzung zum CONSORT-Statement bereits geschehen ist.
«Versorgungsforschung - ein wichtiges Instrument der Zukunft zum Beleg des Nutzens von (pflanzlichen) Arzneimitteln»
Parallel zur kontrollierten klinischen Studie gibt es eine für die Phytotherapie hoffentlich sehr nützliche Entwicklung zur Versorgungsforschung, die in Zukunft ein wichtiges Instrument zum Beleg des Nutzens von (pflanzlichen) Arzneimitteln sein wird. Dazu sprach Dr. med. Günter Meng (Abb. 3) aus Karlsruhe. Ein Patient erwartet von seinem Arzt oder Apotheker, dass die Therapie, die diese ihm empfehlen, ihm hilft. Und zwar genau ihm, in seinem Alltag, und zwar so, dass er oder sie eine relevante Erleichterung der wahrgenommenen Beschwerden erfährt. Dem Patienten ist es gleichgültig, welchen Erfolg seine Therapie im Vergleich mit einer anderen Therapie aufweist. Gleichwohl erwartet er, dass die ihm empfohlene Therapie auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.
«Versorgungsforschung - ein wichtiges Instrument der Zukunft zum Beleg des Nutzens von (pflanzlichen) Arzneimitteln» lautete das Thema von Dr. med. Günter Meng.
«Versorgungsforschung - ein wichtiges Instrument der Zukunft zum Beleg des Nutzens von (pflanzlichen) Arzneimitteln» lautete das Thema von Dr. med. Günter Meng.
Die Untersuchung der Wirksamkeit eines Medikaments mittels RCT ist zwar eine der Voraussetzungen für die Zulassung von Arzneimitteln, sie lässt aber nur sehr beschränkte Aussagen über den Nutzen, die der Patient in einer guten therapeutischen Versorgungssituation im Alltag erwarten kann, zu. Hier liegt das Feld der Versorgungsforschung. Ist ein Medikament zugelassen, gilt es, sein Potenzial für den Patienten praxisnah zu erfassen. Zum Potenzial gehören die erwünschten und die unerwünschten Wirkungen sowie die Fragen, welche Patienten von einer Behandlung mehr als andere profitieren können und wie sich eine konkrete Therapie in das Umfeld der insgesamt zur Verfügung stehenden Behandlungen einfügen lässt. Am besten eignen sich Studien, die nicht oder möglichst wenig in den Versorgungsalltag eingreifen, z.B. nichtinterventionelle Studien und Beobachtungsstudien. Die EU-Arzneimittelgesetzgebung definiert das Instrument der nichtinterventionellen Studie, was für pflanzliche Arzneimittel wichtig ist. Es braucht nicht besonders erwähnt zu werden, dass entsprechende Studien auf höchstmöglichem wissenschaftlichen Niveau durchgeführt werden müssen. Als essenziell bewertete der Referent für Produkte, die schon lange auf dem Markt sind, das Sammeln von Erkenntnissen über ihre Anwendung unter Alltagsbedingungen. Hierbei soll auch erfasst werden, wie sich solche Therapieverfahren jeweils vor dem Hintergrund der aktuellen medizinischen Methoden neu einordnen lassen. Mit dem Projekt PhytoVis konnte ein datenbankgesteuertes System zur Dokumentation pflanzlicher Arzneimittel in der Therapie etabliert werden. Die Kooperation Phytopharmaka mit Sitz in Bonn erhofft sich davon Aussagen zur Wirksamkeit und insbesondere Sicherheit von pflanzlichen Arzneimitteln, aber auch Aussagen zur Anwendung bei Kindern, im Alter und in der Schwangerschaft. Über grosse Datenmengen, deren Auswertung die heutigen Computersysteme in vielfältiger Art und Weise ermöglichen, könnten derzeit noch nicht gesicherte Aussagen gemacht werden.
«Bryophyllum pinnatum: Klinische Anwendung bei hyperaktiven Zuständen unterschiedlicher Genese»
Innovation wäre in der Phytotherapie gefragt. Es erscheinen Tausende von Publikationen über neue Inhaltsstoffe und pharmakologische Aktivitäten von Arzneipflanzen in der internationalen Literatur. Zu einer Gesamtschau und zu Zubereitungen, die therapeutisch genutzt werden, führen diese Arbeiten selten, denn die meisten bleiben Stückwerk. Am Beispiel von «Bryophyllum pinnatum: Klinische Anwendung bei hyperaktiven Zuständen unterschiedlicher Genese» belegten Prof. Dr. Ursula von Mandach (Abb. 4) und Karin Fürer vom Universitätsspital Zürich im Namen einer interdisziplinären Studiengruppe, dass auch eine zielführende Strategie möglich ist. Die aus Madagaskar stammende Pflanze wurde in der Anthroposophischen Medizin entdeckt. Sie wurde bereits 1921 zur Behandlung von als «Hysterie» bezeichneten Unruhezuständen empfohlen. Aus der damaligen Bezeichnung lassen sich folgende Zustände als mögliche Indikationen ableiten: Einschlafstörungen, Reduktion vorzeitiger Wehentätigkeit und die hyperaktive Blase. In verschiedenen Modellen konnte die spasmolytische Aktivität der Zubereitungen belegt werden, auch auf molekularer Ebene. In kleineren, aber zielgerichteten klinischen Studien konnte bei schwangeren Patientinnen die Verbesserung der Schlafqualität (weniger Aufwachphasen) nachgewiesen werden. Vorzeitige Wehen konnten vergleichbar mit einem synthetischen Tokolytikum reduziert werden, und bei hyperaktiver Blase wurde eine Reduktion der Miktionen erreicht. Für die Zukunft erhoffen sich die Tagungsteilnehmer wieder vermehrt solche breiten Forschungstätigkeiten - vor allem auch von den etablierten Firmen, die pflanzliche Arzneimittel herstellen.
Frau Prof. Dr. Ursula von Mandach erläuterte gemeinsam mit Karin Fürer eine zielführende Strategie bei der klinischen Anwendung von Bryophyllum pinnatum.
Frau Prof. Dr. Ursula von Mandach erläuterte gemeinsam mit Karin Fürer eine zielführende Strategie bei der klinischen Anwendung von Bryophyllum pinnatum.
«Pleiotrope Signaturen - ein Konzept zum Wirksamkeitsnachweis von pflanzlichen Arzneimitteln»
Eine erweiterte Betrachtungsweise der Wirksamkeit pflanzlicher Arzneimittel in der Zukunft forderte Dr. techn. Herbert Schwabl (Abb. 5), Hinwil, unter dem Titel «Pleiotrope Signaturen - ein Konzept zum Wirksamkeitsnachweis von pflanzlichen Arzneimitteln». Die moderne klinische Forschung konzentriert sich auf kausale Interventionen und auf klar definierte Beschwerden. Es werden lediglich einzelne Liganden eines Moleküls betrachtet und ein kausaler Mechanismus für seine Wirkung gesucht. Die Wirkung einer pflanzlichen Zubereitung lässt sich nur ausnahmsweise auf dieser Ebene beschreiben. Die heutzutage geltenden Anforderungen an die Durchführung einer klinischen Studie können traditionell angewendete pflanzliche Wirkstoffe und Pflanzenmischungen mangels ökonomischer Ressourcen meistens nicht erfüllen. Für Arzneipflanzen sind zwei pharmakologische Ansätze kennzeichnend:
Dr. techn. Herbert Schwabl referierte über die pleiotropen Signaturen als Konzept für den Wirksamkeitsnachweis von pflanzlichen Arzneimitteln.
Dr. techn. Herbert Schwabl referierte über die pleiotropen Signaturen als Konzept für den Wirksamkeitsnachweis von pflanzlichen Arzneimitteln.
Chemisch gesehen sind pflanzliche Wirkstoffe Vielstoffgemische; die einzelnen wirksamen Substanzen liegen meistens in niedriger Konzentration vor. In der Folge wirken sie auf eine Vielzahl von pharmakologischen Zielen (Targets), binden sich aber nur schwach und üben entsprechend nur partielle hemmende oder stimulierende Wirkungen aus. Oft ist die Summe der Wirkungen der Teileffekte grösser als z.B. die vollständige Hemmung eines einzelnen Targets. Da die einzelnen Komponenten nur in einer niedrigen Konzentration vorhanden sind, ist auch die Verträglichkeit viel besser.
Pflanzliche Wirkstoffe sind pleiotrop, d.h., sie üben gleichzeitig mehrere voneinander unabhängige Wirkungen auf mehreren Ebenen aus. Werden die verschiedenen bekannten Wirkungsmechanismen und -orte einer Pflanze auf den einzelnen Ebenen eines Organismus dargestellt, d.h. Organsystem, Einzelorgan, Metabolismus, Proteinfunktion, Genexpression und Molekül, erhält man ein komplexes Wirkungsmuster. Betrachtet man den Organismus als ein hierarchisch geschichtetes Netzwerk, beeinflusst ein Multi-Target-Arzneimittel mehrere Hierarchiestufen. Die Abbildung der Wirkungen auf die einzelnen Ebenen ergibt die Signatur des Pharmakons (Abb. 6).
Pleiotrope Wirksignatur eines Phytoarzneimittels in der Netzwerkhierarchie im menschlichen Organismus. Die Punkte symbolisieren die empirischen und experimentellen Daten der jeweiligen Hier-archiestufe. Blau eingezeichnet ist die Gesamtheit der möglichen Interaktionen. Rot hervorgehoben sind durch eine Interaktion mit dem System tatsächlich angesprochene Signalwege; die Dicke der Linie kennzeichnet die Verbindungsstärke. Im Fall von pflanzlichen Arzneimitteln weiten sich die Signalwege durch den Multi-Target-Charakter aus (angedeutet durch die Schattierung auf den unteren Netzwerkstufen) - ein Charakteristikum der pleiotropen Signatur.
Pleiotrope Wirksignatur eines Phytoarzneimittels in der Netzwerkhierarchie im menschlichen Organismus. Die Punkte symbolisieren die empirischen und experimentellen Daten der jeweiligen Hier-archiestufe. Blau eingezeichnet ist die Gesamtheit der möglichen Interaktionen. Rot hervorgehoben sind durch eine Interaktion mit dem System tatsächlich angesprochene Signalwege; die Dicke der Linie kennzeichnet die Verbindungsstärke. Im Fall von pflanzlichen Arzneimitteln weiten sich die Signalwege durch den Multi-Target-Charakter aus (angedeutet durch die Schattierung auf den unteren Netzwerkstufen) - ein Charakteristikum der pleiotropen Signatur.
Eine solche Gesamtbetrachtung ermöglicht, die traditionelle Empirie mit Methoden der Systembiologie zu kombinieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das Einbeziehen neuer Forschungsergebnisse stärkt den traditionellen Erfahrungsschatz. Die Beschränkung auf bestimmte einzelne Indikationen entfällt; stattdessen betrachtet man ein Systemmittel, das auch in komplexen Therapiesituationen angewendet werden kann, z.B. bei komplexen Krankheitsbildern und Therapiesituationen wie Multimorbidität. Hieraus lässt sich die Möglichkeit eines Wechsels zu pflanzlichen Arzneimitteln mit polypharmakologischen Eigenschaften anstelle der heutigen Polypharmakotherapie mit einer Vielzahl an einzelnen Wirkstoffen ableiten.
Bilanz
Die moderne Forschung eröffnet der Phytotherapie ein grosses Feld, um sich zu etablieren. Neue Systeme zur Auswertung der riesigen Datenmengen erfordern ein neues Denken, von dem die Phytotherapie dank ihrer Vernetzung profitieren könnte. Es bleibt die Hoffnung, dass genügend Mittel gefunden und investiert werden können, um die vorhandenen Daten und die zukünftigen Resultate besser publik zu machen, als dies heute der Fall ist.
Eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema «Wirksamkeitsnachweis in der Phytotherapie» ist auch nach der Tagung möglich, da die Veranstaltung im Supplementheft 1/2014 der Zeitschrift FORSCHENDE KOMPLEMENTÄRMEDIZIN vollumfänglich dokumentiert und frei zugänglich ist unter: www.karger.com/Journal/Issue/261752. Der hier vorliegende Bericht wurde auf der Basis des gesprochenen Wortes und mithilfe der schriftlichen Fassungen der Referierenden in dieser Ausgabe zusammengestellt. Weitere Informationen finden sich auf der Website der Tagung (http://phytotherapie2014.smgp.ch). Hier können unter anderem auch viele der präsentierten Poster eingesehen werden.