Der Begriff Anthroposophie bildet sich aus den griechischen Begriffen anthropos (dt. Mensch) und sophie (dt. Weisheit). Als Begründer der Anthroposophie gilt Rudolf Steiner (*25./27. Februar 1861 - 30. März 1925). Seine geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse und Vorstellungen prägen sein Welt- und Menschenbild und stellen die anthroposophische Denkweise in einen direkten Zusammenhang zur Methodik und Forschung der Naturwissenschaften.
Nach Steiner ist es nicht möglich, den Menschen allein durch Sinneseindrücke, durch den Verstand und durch kausalwissenschaftliche Methoden wirklich zu erfassen. Die Ganzheit des Menschen, sein Geist, seine Seele, sein Ich, die ganze Individualität kann nur durch Geistesforschung erkannt werden [1].
Die Anthroposophie knüpft an die Theosophie an und ist von Paracelsischem Wissen ebenso geprägt wie von der Humoralmedizin, von Goethes Schriften und von Hahnemanns Erkenntnissen, die wir heute als Homöopathie kennen. Mit der östlichen Lebensphilosophie teilt Steiner den Grundsatz, dass jedes einzelne Element nur im Zusammenhang mit dem Ganzen verstanden und erkannt werden kann. Das alte Wissen, früher durch Intuition und spirituelle Erfahrungen erkannt, versteht Steiner aus einem modernen, naturwissenschaftlich geprägten Wissen und Bewusstsein heraus und vermag es ins 21. Jahrhundert zu tragen.
Es ist leicht erkennbar, dass eine solche Lebenshaltung das ganze Menschsein betrifft (nicht nur die Medizin) und den Alltag eines Anthroposophen massgeblich prägt. So gibt es Schriften und Vorträge Steiners zu Landbau, Pädagogik, Heilpädagogik, Medizin, Pharmazie, Architektur, Finanzwesen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Kunstmalerei sowie Theater- und Literaturwissenschaften [1]. Am bekanntesten sind heute die Anthroposophische Medizin, die Pädagogik (Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen) und der ökologische Landbau (biologisch-dynamischer Landbau, Demeter-Qualität).
Einige Aspekte aus dem Leben Rudolf Steiners
Aufgewachsen Ende des 19. Jahrhunderts, erkannte Steiner bereits als Kind, dass unsere Wahrnehmung nicht auf die menschlichen fünf Sinne und den Verstand reduziert werden kann. Als äusserst wissensdurstiger Mensch hat er sich zeit seines Lebens mittels Schulbildung (Studium der Naturwissenschaft, Mathematik und Philosophie), Eigenstudium und innerer Erkenntnisse (weiter-)gebildet.
Die Thematik der Wahrnehmung nimmt er in zahlreichen Schriften und Vorträgen auf und betont dabei, wie sich das alltägliche, menschliche Wahrnehmen durch eine systematische Schulung zu einem höheren, übersinnlichen Erkennen entwickeln kann [2]. Einfach ausgedrückt sieht Steiner den Menschen als Bürger zweier Welten: Auf der einen Seite die geistige Natur des Menschen, die vom Kosmos bestimmt wird, und auf der anderen Seite die materiell-kausale Natur, die den irdischen Gesetzmässigkeiten unterliegt.
Die Anthroposophische Medizin
Die Anthroposophische Medizin versteht sich als Erweiterung der konventionellen Medizin. Neben Rudolf Steiner ist als Mitbegründerin der Anthroposophischen Medizin die Ärztin Ita Wegmann (1876-1943) zu nennen [3]. Charakteristisch sind das Konzept der vier Wesensglieder (Abb. 1) und das Konzept der Dreigliedrigkeit (Abb. 2) [1]. Für das Verständnis der anthroposophischen Sicht sind sie wesentlich, weshalb sie nachfolgend kurz vorgestellt werden.
Weitere wichtige Aspekte der Anthroposophischen Medizin sind:
- Das Gesundheits- und Krankheitsverständnis.
- Das Erkennen der Organfunktionen und -zusammenhänge.
- Eine klare Betonung auf geistigseelische Lebensaspekte.
- Gesundheit und Krankheit werden als Wirkprozesse für die Identitätsbildung gesehen (auch in Bezug auf die altersabhängigen Organkräfte in der anthroposophischen Biographiearbeit).
- Charakteristische Rezepturen der Heilmittel und Prozesse der Heilmittelherstellung. Interessant an dieser Stelle ist die Tatsache, dass anthroposophische Heilmittel bei Patienten (auch Over-The-Counter, OTC), Ärzten und Therapeuten sehr beliebt sind, die Zusammenhänge der Anthroposophischen Medizin, die hinter den Rezepturen und Herstellungsprozessen stehen, jedoch oft nicht bekannt sind.
- Die anthroposophische Ernährung (in Ausgabe 2/2013 der SCHWEIZERISCHEN ZEITSCHRIFT FÜR GANZHEITSMEDIZIN bereits kurz vorgestellt).
Die vier Wesensglieder des Menschen
Der physische Leib
Der physische Leib ist der sichtbare Körper und umfasst alles, was sich messen und chemisch-analytisch quantifizieren lässt. Er entsteht aus den chemisch-physikalischen Substanzen und Aspekten. Erst wenn Lebenskraft den physischen Leib durchdringt und zusammenhält, kann ein lebendiger Mensch entstehen. Die menschliche Gestalt zerfällt nach dem Tod durch den Verlust des Lebendigen.
Element: Erde.
Zuordnung: Mineral.
Der Ätherleib
Der Ätherleib belebt den physischen Leib und ist sichtbar in allen Lebensfunktionen wie Atmung, Wärme, Ernährung, Ausscheidungen, Regeneration, Wachstum und Fortpflanzung. Als Baumeister [1] des physischen Leibs steuert er die menschlichen Lebensäusserungen und hält sie aufrecht. Dies beinhaltet auch die Zeit als bestimmenden Faktor, da alle Lebensfunktionen an einen bestimmten Entwicklungsablauf, der sich in Zeitabschnitten manifestiert, gebunden sind. Daher kommen auch die Bezeichnungen Zeitenleib oder Bildkräfte-Leib für den Ätherleib vor.
Element: Wasser.
Zuordnung: Pflanze.
Der Astralleib
Im Astralleib finden sich Empfindung und Bewusstsein. Die bestimmende Kraft des Astralleibs ist die Dynamik der polaren Gefühlsebene im Inneren des Menschen (Schmerz, Freude und Lust, Antipathie und Sympathie, aber auch Ekel und Widerwillen sowie die Triebkräfte). Der Astralleib macht den Menschen zu einem empfindenden Wesen. Das zeigt sich im inneren, individuellen Erleben von allem, was im Äusseren geschieht und auf den Menschen einwirkt - in seiner persönlichen Selektion der Wahrnehmungen. Diese Kräfte ermöglichen und gestalten die Seelenorganisation nach den Gesetzmässigkeiten des Lebens. Der Astralleib wird auch als Architekt [1] des menschlichen Wesens bezeichnet.
Element: Luft.
Zuordnung: Tier.
Die Naturkräfte zeigen sich in diesen drei Ebenen im menschlichen Wesen: Aus den Stoffen der Natur, ähnlich dem Mineral, ist der menschliche Körper gebaut. Der Mensch wächst und gedeiht, vermehrt sich und vergeht wieder - wie eine Pflanze. Und er nimmt die Welt um sich herum wahr und gestaltet das Erlebte im Inneren, vergleichbar mit einem Tier.
Der Geistleib/Die Ich-Organisation
Das Ich des Menschen bezeichnet das typisch menschliche Selbstbewusstsein, das dem Menschen die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung, der Reflexion und des lebenslangen Lernens gibt. Im Vergleich zum Tier, das nach seiner ureigenen Veranlagung trieb- und instinktgebunden reagiert, lernt der Mensch im Laufe seines Lebens, Bestimmer seiner Reaktionen zu sein. Die Geistnatur, die über die bereits beschriebenen Wesensebenen hinausgeht, prägt den Menschen in seinem physischen Leib sowie seinem Äther- und Astralleib und formt das Individuum. Dieses geistige Reich geht über das räumlich-zeitliche Bewusstsein hinaus und ermöglicht dem Menschen Erkenntnisse ausserhalb der physikalischen Welt. Die Ich-Organisation gibt dem Menschen die Chance, die Welt zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und sein Leben schöpferisch zu gestalten. Der Geistleib wird darum auch als der Hausherr [1] im Körper bezeichnet.
Element: Feuer.
Zuordnung: Mensch/Selbstbewusstsein.
Die Dynamik der vier Wesensglieder ist im Schlaf- und Wachrhythmus gut erkennbar. Im Wachzustand des Menschen sind sie eine Einheit. Im Schlaf lösen sich Geistleib und Astralleib zum grossen Teil aus dem Verbund, sodass nur noch der physische und der Ätherleib wirken.
Die Dreigliedrigkeit
Die funktionelle Dreigliedrigkeit unterscheidet das Nerven-Sinnes-System, das rhythmische System und das Stoffwechsel-Gliedmassen-System. Damit kann die Wechselwirkung zwischen Anatomie und Physiologie des Menschen sowie seinen Seelentätigkeiten «Denken - Fühlen - Wollen» aufgezeigt werden. Die drei Systeme sind im Menschen in unterschiedlicher Ausprägung sichtbar.
Das Nerven-Sinnes-System
Das Nerven-Sinnes-System ist vor allem in der Kopfregion lokalisiert und äussert sich im Denken. Die meisten Sinnesorgane finden sich im Kopfbereich - es ist der Kopf, der uns die Eindrücke vom Äusseren ins Innere vermittelt.
In der Mineralisation des Kopfes ist Ruhe und Kälte erkennbar, sodass dem Menschen die Grundlage für geistige Tätigkeiten gegeben ist. Dem Nerven-Sinnes-System werden demnach die Sal-Kräfte zugeordnet. Auch wirken hier die abbauenden Kräfte. Denn um sich Gedanken machen zu können, braucht der Mensch einen kühlen und klaren Kopf. Man denke nur an die Redewendungen «einen kühlen Kopf bewahren» oder «Du bist ein Hitzkopf».
Das Stoffwechsel-Gliedmassen-System
Alle primären Impulse der inneren Organe unterhalb des Zwerchfells sowie der Extremitäten unterliegen dem Stoffwechsel-Gliedmassen-System. Hier finden Stoffaufnahme, -verarbeitung und -umwandlung, die Ausscheidungen, der Aufbau des Körpers aus von aussen zugeführten Stoffen sowie die Zellteilung statt. Alles ist in Bewegung und wird den aufbauenden, umwandelnden und auflösenden Kräften, den Sulfur-Kräften, zugeordnet. Die sulfurischen Umsetzungs- und Aufbauprozesse des Stoffwechsels ermöglichen den menschlichen Willen.
Das rhythmische System
Das rhythmische System befindet sich im Brustbereich und ist die Basis für das menschliche Gefühlsleben. Hier finden sich die Merkur-Prozesse, beispielsweise Verbindung, Kommunikation, Ausgleich, Umwandlung und Harmonisierung. Das rhythmische System, erkennbar in Atmung und Kreislauf, vermittelt zwischen oben und unten, zwischen dem Nerven-Sinnes-System und dem Stoffwechsel-Gliedmassen-System, wobei die Atmung mehr mit dem Bewusstsein und der Kreislauf mehr mit dem Metabolismus verbunden ist.
Interessant ist hier der Zusammenhang des dreigliedrigen Menschen und der dreigliedrigen Pflanze. In der Oben-Unten-Ausrichtung verhält sich die Pflanze umgekehrt wie der Mensch [1]. Der Kopfbereich entspricht der pflanzlichen Wurzel (Nerven-Sinnes-System), der Brustbereich dem Blatt (rhythmisches System) und der Bauch, der Unterleib und die Beine der Blüte und der Frucht (Stoffwechsel-Gliedmassen-System). In der Therapie heisst das nun, dass Heilmittel aus Wurzeln auf das Nerven-Sinnes-System, diejenigen aus Blättern auf das rhythmische System und Zubereitungen aus Blüten und Früchten auf das Stoffwechsel-Gliedmassen-System wirken (Abb. 3).
Aus der Praxis: Entzündung und Sklerose aus anthroposophischer Sicht
Krankheiten verlaufen zwischen den Dimensionen von Entzündung und Sklerose und äussern sich oft sowohl als entzündliche wie auch als sklerotische Prozesse [1,3,4]. Bei der Diagnose und Therapiewahl ist es entscheidend, welche Prozesse als ursächlich und welche als Folge beurteilt werden, wie in Tabelle 1 dargestellt wird.