Abstract
Dieser Artikel soll dazu dienen, etwas Praktisches zum Thema Akupunktur und Tuinatherapie (ATT) beizutragen. Anhand der ATT wird veranschaulicht, wie sich eine Methode im Laufe der Jahre entwickelt hat.
Zuerst eine vermutlich gute Idee
Die Akupunktur und die chinesische Massage, nach zwei Grundgriffen «Tuina» (Tui = Schieben, Na = Greifen) bezeichnet, sind die ältesten Behandlungsformen von Krankheiten. Im ca. 230 v. Chr. entstandenen Lehrbuch der Inneren Medizin, Neijing, wird von Ärzten die Massage neben der Akupunktur praktiziert. Beide Methoden (ATT) zählen zu den äusseren Behandlungsformen (ähnlich der physikalischen Medizin = äussere Behandlung; medikamentöse Therapie = innere Behandlung). Obwohl die chinesische ATT schon so alt ist, wird sie in der westlichen Literatur kaum erwähnt. Nur Klassiker wie unter anderem Hippokrates und Avicenna werden genannt. In den letzten Jahren nimmt die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), insbesondere die Akupunktur, jedoch an Bedeutung zu. In Österreich fand die Akupunktur im Jahr 1986 die teilweise Anerkennung durch den Obersten Sanitätsrat. Seit 1972 bemüht sich der Autor um die Förderung der TCM - d.h. ATT sowie die Grundlagen der TCM - im Rahmen des Ludwig Boltzmann Instituts für Akupunktur (seit April 2005 als Johannes Bischko Institut für Akupunktur) in Wien.
ATT ist für Ärzte und alle Therapeuten als eine ganzheitliche, komplementäre Therapie konzipiert. Die TCM soll in die moderne Medizin integriert werden. Die Theorie, Indikation und Arbeitshypothese der Tuina und der Akupunktur sind in der TCM identisch. Alle funktionellen und reversiblen Erkrankungen und Störungen können wir mit Tuina oder Akupunktur behandeln. Therapeuten, die Tuina anwenden, müssen natürlich Kenntnisse über Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie besitzen und die Theorie der TCM (Meridianlehre, Organlehre, Modalitäten, Grundgriffe, Reizdosierung, Behandlungsplanung usw.) beherrschen.
Immer die Position dieser Idee im Westen hinterfragen
Westliche moderne Medizin
Örtlich-mechanische Wirkung am Gefässsystem: Vasodilatation, vermehrte Kapillarisation, Erschliessung ruhender Kapillarbezirke, verbesserter Rückstrom durch Strömungsbeschleunigung, Sog, Muskelpumpe, Permeabilitätssteigerung und verbesserte Rückresorption von Ödemen und Schlackenstoffen.
Wirkung an der quergestreiften Muskulatur: Tonusregulierung, biomechanischer Abbau des Gel-Zustands und Wiederherstellung des Sol-Zustands durch Regulierung des Stoffwechsels.
Fern- und allgemeine Wirkung: Verbessert die Blutzirkulation. Die myokardiale Leistung des suffizienten Herzens wird durch die Entleerung der Blutdepots gesteigert. Eine allgemeine Umstimmungsreaktion wird durch die Freisetzung von denaturiertem, artfremdem Eiweiss aus gelotischen Bezirken hervorgerufen. Der reflektorische, segmentale Effekt der ATT ist durch die Einwirkung auf Dermatome und Myotome zu erklären.
TCM
Die hypothetische Wirkungsweise der ATT aus der Sicht der TCM können wir in folgenden Punkten zusammenfassen:
- 1. Fehlstellungsbeseitigung: Die Tuina kann eine anatomische Fehlstellung von Gelenken sowie von Gelenken und Sehnen beseitigen. Wir können hier auch vom Lösen der Blockierungen sprechen - wie bei der Manualmedizin.
- 2. Wiederherstellung des inneren Regulationsvermögens: Die Tuinatherapie kann das verloren gegangene innere Regulationsvermögen des betreffenden Systems wiederherstellen. Durch die Anwendung der Tuina erreicht man eine Korrektur der anatomischen Fehlstellung jedweder Ursache im Skelett und in den Weichteilen, die eine Verminderung der Fähigkeit der Autoregulation des Systems bedeutet. Eine solche Störung der Autoregulation bewirkt ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung. So ist z.B. bei der Behandlung von Schultersteife erforderlich, die Schulter zu mobilisieren, die Kontrakturen zu lösen, aber auch die heftigen Schmerzen und die Verspannung der Muskulatur, welche die Bewegungseinschränkung bedingen und den Patienten daran hindern, die Schulter zu bewegen, zu beeinflussen. Somit ist es wichtig, durch die Tuinatherapie auch die Autoregulation dieses Systems zu aktivieren, sodass die Reparatur der Läsion rascher vorangeht und die Traumen, die bei der Schultermobilisation zwangsläufig entstehen, rascher heilen.
- 3. Normalisierung von Organstörungen.
Anwendungsbereiche
Durch die ATT wird der körpereigene Informationsfluss (Qi-Fluss) korrigiert. Jede Störung in einem Organ bewirkt eine Änderung seiner bioelektrischen Eigenschaft und seiner Eigenschwingung. Solche Informationen der Eingeweide werden im Körper durch das Nervensystem, das endokrine System usw. koordiniert. Die durch die ATT von «körperaussen» kommenden Impulse werden im Körper in biologische Impulse umgewandelt und lösen im gestörten Organ eine Normalisierung aus.
Indikationen: Günstig beeinflussbare Krankheitsbilder sind Zervikalsyndrom, Schulter-Arm-Syndrom, Tennisarm, Karpaltunnelsyndrom, Lumbago, Lumboischialgie, pseudoradikuläres Syndrom, Koxarthrose, Gonarthrose, Zerrung des Sprunggelenks und Hemiparese nach zerebralem Insult. ATT ist besonders geeignet zur Prävention und Behandlung von vegetativen und psychosomatischen Störungen, z.B. Magen-Darm-Dysfunktion, Diarrhö, Obstipation, postoperativer Ileus, Singultus, Gallenkolik, Asthma bronchiale, Cephalaea (Kopfschmerz), Schlafstörung, essenzielle Hypertonie, Potenzstörung, Menstruationsstörung, Uterussenkung, Rhinitis vasomotorica, Burn-out-Syndrom.
Kontraindikationen: Es gelten alle Kontraindikationen wie in der Standardmedizin.
Gemeinsamkeiten der ATT mit ähnlichen Methoden der Standardmedizin
Beide Medizinbereiche haben die gleichen Indikationen und verwenden in erster Linie Nadeln (Infiltration),die blossen Hände (Massage) bzw.physikalische Reize (physikalische Therapie). Wenn die Therapie zur Verbesserung des Befindens führt, wird der Wirkungsmechanismus vermutlich der gleiche gewesen sein. Die Durchführung der ATT wird in erster Linie von «Behandlern» (Ärzten, Physiotherapeuten und Masseuren) ausgeübt.
Unterschiedliche theoretische Grundlagen in der Differenzialdiagnose und Therapie
Die theoretische Grundlage der ATT ist die TCM bzw. für die Therapien der Standardmedizin die moderne westliche Medizin. Die TCM ist eine ganzheitliche, funktionell orientierte Regulationstherapie. Die Standardmedizin ist in erster Linie eine lokal morphologisch orientierte Therapie, die auch eine Allgemeinwirkung auf den Gesamtorganismus auslöst.
Die Definition der ATT nach Alexander Meng lautet: Tuina ist eine mit der Hand bzw. den Nadeln ausgeführte, individuell dem aktuellen Zustand des Krankheitsbildes angepasste Reiztherapie. Die Griffe (Art, Intensität, Dauer usw.), das Behandlungskonzept (mehr Fernpunkte oder eher lokal-segmental behandeln) und die Zonen der ATT werden im Sinne der Meridian-Regeln dem Krankheitsbild, der Konstitution und der Reaktionsfähigkeit des jeweiligen Patienten angepasst. Viele uns heute auch in der modernen Medizin bekannte und selbstverständliche Spezialpunkte sind in der ATT schon seit vielen Hunderten von Jahren bekannt. Diese werden in der TCM als Meridianpunkte bezeichnet. Solche uns in der modernen Medizin bekannten Spezialpunkte sind: Triggerpunkte, segmentale Maximalpunkte, Periostpunkte, Valleix-Druckpunkte, Head-Zonen usw.
Aus der Verwendung von Fernpunkten geht hervor, dass die ATT eine individuelle Beurteilung der Befindlichkeit des Patienten verlangt. In der ATT wird ein Behandlungsplan immer individuell erstellt.
Genaue Dosierung der individuellen Reizqualität und -quantität: Die genaue Dosierung der Reizstärke und der Reiztechnik spielt in der TCM eine wichtige Rolle - ähnlich der Dosierung eines Medikaments. Die TCM strebt mittels der Behandlung eine Wiederherstellung des Körpergleichgewichts (Yin-Yang, etwa wie Sympathikus-Parasympathikus) an. Daher kennt die TCM auch Techniken - insbesondere die Reizstärke -, die eine Tonisierung (Dazugeben) und Sedierung (Wegnehmen) der physiologischen Funktion bedeuten. ATT mit einer Stärke, bei welcher der Patient eine intensive, subjektive Empfindung (Deqi-Gefühl) hat, werden als sedierende Reize verstanden. Diese Reizstärke findet ihre Anwendung meist in Akutfällen und im Bereich der Fernpunkte. Bei chronischen Leiden wird häufig mit lokalen segmentalen Punkten mit milder Reizstärke behandelt. Dies bedeutet eine Tonisierung (Aufbau, Kräftigung). Die ATT besteht immer aus mehreren Teilen: lokale Stimulation sowie Stimulation an erkrankungsfernen Zonen (Reflexzonen, Meridianpunkte) und passive Mobilisierung der entsprechenden Gelenke.
Einen Blick in die Zukunft wagen: Wie sieht die Zukunft der TCM im Westen aus?
Die Akupunktur (Tuina, Kräuter) nimmt in der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur eine stabile, kontinuierliche Entwicklung. Die ersten Indikationen waren vegetative Dysfunktion und Schmerzen. Inzwischen wurden diese auch auf die Psychosomatik erweitert.
Die Erfahrungen der Akupunktur und der TCM sind ein fester Bestandteil unserer Praxis geworden. Mehr als 100 Indikationen für die Akupunktur bestehen für die Bereiche der Neurologie, der Rehabilitation, der Orthopädie, der Inneren Medizin, der Gynäkologie, der Pädiatrie, der Augenheilkunde usw. Wissenschaftliche Arbeiten zum Wirksamkeitsnachweis waren die Wegbereiter dieser Erfolge. Ein Therapieeffekt muss mittels evidenzbasierter Medizin belegt werden. Nach der modernmedizinischen Diagnose muss auch die TCM-Diagnose standardisiert werden. Der Wirkmechanismus muss mit modernen Methoden der Wissenschaft erarbeitet werden. Schmerzen und Psychosomatik haben morphologische und neurophysiologische Substrate für die Diagnose und die Therapie.
Auch das Interesse an psychischen und psychosomatischen Erkrankungen nimmt zu. Aspekte der Neuroanatomie und Neurophysiologie bieten uns Erklärungsmodelle für die Akupunktur an. Vor 50 Jahren stellte die Schmerztherapie die erste Brücke zwischen östlicher und westlicher Medizin dar. Heute bilden die Schlafmedizin, die Psychosomatik und die Erforschung des chronischen Erschöpfungssyndroms die zweite Brücke zwischen der westlichen und der chinesischen Medizin.
References
Dieser Artikel soll dazu dienen, etwas Praktisches zum Thema Akupunktur und Tuinatherapie (ATT) beizutragen. Anhand der ATT wird veranschaulicht, wie sich eine Methode im Laufe der Jahre entwickelt hat.