Was wurde über die sogenannte gesunde Ernährung nicht schon alles gesagt - Dinge, denen man stillschweigend zustimmt, und Aussagen, bei denen man nur den Kopf schüttelt. Sicher ist, dass der gesunden Ernährung in der schulmedizinischen Praxis lange viel zu wenig Bedeutung beigemessen wurde. Wer nicht krank und nicht übergewichtig war, dem galt es keine weiteren Informationen zu seinem Ernährungsverhalten und zu möglichen Verbesserungen zu geben. Die traditionelle Naturheilkunde und die Ganzheitsmedizin sind jedoch seit jeher davon überzeugt, dass das Essen viel mehr ist als reine Energie-, Nährstoff- und Vitaminzufuhr. Das Wissen und die Überzeugung, dass Nahrung unsere Medizin sein soll, wie es bereits in den hippokratischen Schriften festgehalten wurde («Eure Nahrung soll Euer Heilmittel sein und Euer Heilmittel soll Eure Nahrung sein.» (Hippokrates)), hat sich bis heute nicht verändert.
Von der körperlichen Seite her betrachtet, stehen der Aufbau, die Regeneration der Körperzellen und ihre Versorgung mit Energie im Vordergrund. Dies fordert den Organismus auf, körperfremde Substanzen aufzunehmen sowie entsprechend ab- und umzubauen, damit der Körper sie verwerten kann. Das «Nicht-Körperselbst» zum «Körperselbst» zu machen, ist eine grosse Anfor derung an die körpereigenen Assi milationsmechanismen, die der menschliche Stoffwechsel täglich stillschweigend «erledigt». Erst wenn beispielsweise Nahrungsmittelunverträglichkeiten auftreten, ist die betroffene Person aufgefordert, sich ernsthaft mit diesen Prozessen auseinander zu setzen.
In der Naturheilkunde ist es selbstverständlich, dass nicht nur die Nahrungsmittel selber betrachtet werden, sondern dass ihre Wirkung auf den Körper entscheidend von der Konstitution und der individuellen Verwertung der einzelnen Nahrungsmittel abhängt. Das heisst konkret, dass es aus einer ganzheitlichen Sicht niemals eine Ideal-Ernährung für alle Menschen geben kann, sondern dass die Ernährung immer im Zusammenhang mit den assimilatorischen Fähigkeiten des einzelnen Menschen zu betrachten ist. Der Verdauung gilt es genügend Aufmerksamkeit zu widmen, da dem Körper nur zur Verfügung steht, was er aufgeschlüsselt und von «körperfremd» in «körpereigen» verarbeitet hat. Denn damit die einzelnen Zellen mit den benötigten Stoffen versorgt werden können, müssen diese Stoffe in ausreichender Menge, im richtigen Verhältnis zueinander und vor allem in der verwertbaren Form zur Verfügung stehen. Die Verdauungskräfte sind von Mensch zu Mensch verschieden - je nach konstitutioneller und aktueller Verfassung. Auch das ist nichts Neues, wird jedoch in der allgemeinen Praxis im Umgang mit den Patientinnen und Patienten viel zu wenig beachtet. So kann beispielsweise ein «vermeintlich» gesunder Apfel für einen Menschen, der ihn nicht verdauen kann, äusserst ungesund sein. «An apple a day keeps the doctor away» darf also niemals für alle Menschen und schon gar nicht wörtlich umgesetzt werden.
Steht der «apple» aus der eben genannten Aussage jedoch für eine gesunde, saisonale, individuell zubereitete, pflanzliche Kost aus der Region, ist eine solche Ernährung und Lebenshaltung äusserst begrüssenswert (was die Präventivmedizin mit Sicherheit bejaht).
Was eine gesunde Ernährung mit Sicherheit leisten soll:
- Der Körper soll mit ausreichender (und nicht etwa übermässiger) Energie sowie mit allen wichtigen Makro- und Mikronährstoffen versorgt werden. Der Tatsache, dass wir alle zum Supermarkt fahren und dort unsere Nahrung einkaufen, soll gerade auch in Hinsicht auf die Energiemenge Rechnung getragen werden. Der Energieverbrauch einer bewegungsintensiven Nahrungsmittelbeschaffung, die mit einem entsprechend höheren Energieverbrauch einhergeht (wie sie unsere Vorfahren zu leisten hatten), fällt bei unserer Lebensweise weg. Der hohe Anteil von Kohlenhydraten in unserer heutigen Ernährung soll zusätzlich kritisch betrachtet werden. In der Frühzeit der menschlichen Entwicklung bestand der Speiseplan nur zu einem Drittel aus Kohlenhydraten (Früchte, Wurzeln, Gemüse) mit einem tiefen glykämischen Index.
- Die Nahrungsmittel sollten naturbelassen, frisch, regional und saisonal sein, denn nur dann ist es möglich, dass sie reich an natürlichen Inhaltsstoffen sind. Man denke hier nur an die neuesten Erkenntnisse über den Wert der sekundären Pflanzenstoffe (noch vor 15 Jahren wurde der Autorin an der Universität vermittelt, sekundäre Pflanzenstoffe seien für den Menschen wertlos!). Darüber hinaus geben immer mehr auch ökologische und soziale Gesichtspunkte Hinweise auf die Nahrungsmittelauswahl.
- Die Zusammensetzung der Nahrung im Sinne einer abwechslungsreichen Mischkost ist ebenso zu beachten. Denn der Körper braucht das harmonische Zusammenspiel von Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen, von Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen, sekundären Pflanzen- sowie Faserstoffen. So wichtig beispielsweise einzelne Vitamine sind, ohne Mineralstoffe stehen sie dem Organismus nicht zur Verfügung, da sie nicht resorbiert werden können. Bei der Resorption, beim Transport ins Interstitium, bei der Funktion in der Zelle sowie im Gewebsstoffwechsel stehen die Makround Mikronährstoffe in ständiger Wechselwirkung. Eine abwechslungsreiche Ernährung ist darum von besonderer Bedeutung. Die Gabe einzelner hochdosierter Vitalstoffe muss somit mit Bedacht verordnet werden. Wird beispielsweise Zink für das Immunsystem oder bei Hautproblemen verabreicht, darf der Eisenstoffwechsel, der direkt mit dem Zink verknüpft ist, nicht ausser Acht gelassen werden.
- Die Nahrungsmittel sollten möglichst wenig industrieller Verarbeitung unterliegen. Der moderne Mensch deckt jedoch einen grossen Teil seiner Energie mit stark verarbeiteten Getreideprodukten, raffiniertem Zucker, industriell veränderten Milchprodukten sowie Fleisch- und Wurstwaren. Diese hyperkalorische Nahrung bringt einerseits eine enorme Energiedichte mit sich, was sich in einer steigenden Zahl an Übergewichtigen zeigt. Andererseits werden bei jedem Verarbeitungsschritt wertvolle Inhaltsstoffe der ursprünglichen Inhaltsstoffe zerstört. Zusätzlich findet eine grosse Anreicherung mit chemischen Hilfs- und Zusatz- sowie mit Schadstoffen statt; dies erfolgt oft mit dem Etikett «Veredelung» zur Verbesserung des Geschmacks und des Aussehens und zur längeren Haltbarkeit. Gesunde Ernährung lässt sich mit Fertigprodukten und Industrienahrung nicht vereinbaren. An dieser Stelle müssen wir uns bewusst werden, dass der Endverbraucher diese Entwicklung entscheidend mitprägt, da er immer weniger Geld für Nahrungsmittel ausgeben will (und nur noch makellos geformte Früchte und Gemüse einkaufen will), was eine industrielle und normierte Massenproduktion fördert. Wer also gesund, vital und leistungsfähig sein will, tut gut daran, sich ernsthaft solche Gedanken zu machen.
- In der heutigen westlichen Ernährungslehre ist es üblich, alleine über die stofflichen Aspekte der einzelnen Nahrungsmittel zu forschen und zu lehren. In einem naturheilkundlichen und ganzheitlichen Denken ist es jedoch selbstverständlich, dass alle Lebensprozesse sowohl auf einem stofflichen wie auch auf einem energetischen Prinzip beruhen. Die energetische Qualität, repräsentiert durch das Wärmeprinzip, kann als Mass für die Vitalität gesehen werden. Somit ist der stoffliche Anteil eines Nahrungsmittels «nur» potenzielle Voraussetzung für den Gewebsaufbau und das Mass an Energie. Die Initialisierung, die Aufrechterhaltung sowie die Modifizierung und Regulation der Vitalfunktionen ist die Leistung des Wärmeprinzips. Im traditionellen naturheilkundlichen Denken hat jedes Lebensmittel betreffend des Wärme- und Feuchtigkeitsprinzips andere Qualitäten. Dass eine rohe Gurke feuchter und kälter ist (und somit im Körper feuchter und kälter wirkt) als ein Stück Lammfleisch, ist leicht nachvollziehbar. Ebenso wird niemand bestreiten, dass ein Rohkost-Gericht eine kühlende Wirkung auf den Organismus hat oder dass ein Gewürztee mit Zimt, Koriander, Nelken und Kardamom wärmend wirkt. In der Traditio nellen Europäischen Naturheilkunde (TEN), in der Ayurvedischen Medizin oder in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) sind solche Aspekte ebenso wichtig wie Kalorienangabe oder Vitamingehalt.
- Genussmittel sollen massvoll verwendet werden, eben weil sie Genussmittel und keine Grundnahrungsmittel sind. Mit Genussmitteln sind Alkohol, Kaffee, aber auch Süssigkeiten usw. gemeint.
Die Aufnahme von Nahrung und Wasser ist nicht nur eine Grundvoraussetzung für die Gesundheit, sondern ist darüber hinaus im Alltag, in Ritualen, für private Festaktivitäten und religiöse Feiertage wichtig. Menschen kommen zusammen, trinken und essen gemeinsam und gehen wieder auseinander.
So gilt es, - neben allen Ernährungstipps - die Achtsamkeit für die eigene Nahrung an erste Stelle zu setzen. Gesunde Ernährung (mit Bauch und Herz und Lebensfreude) bedeutet auch, eine kopfgesteuerte Ernährung aufzugeben und vermehrt achtsam und mit Freude zu essen. Überdenken wir unsere Vorstellungen von gesunder Ernährung, stellt sich schnell die Frage, welche Bilder und Glaubenssätze von Verzichten oder Müssen in unseren Köpfen herumgeistern. Der Körperkult der Industriestaaten trägt sein Bestes dazu bei. Statt Nahrungsmittel in gut oder schlecht einzuteilen, sollten wir uns heute mehr denn je von den aktuellen Bedürfnissen unseres Körpers, unserem Bauchgefühl und einem gesunden Menschenverstand leiten lassen. Die bekannte Redewendung «Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen» beschreibt gut, was Essen im Leben eines Menschen bedeutet. Gesunde Ernährung ist somit im Idealfall ein Gespür für die eigenen Bedürfnisse (die sich tagtäglich und zeitlebens verändern) und ebenso ein Wissen und ein bewusster und aktiver Umgang mit dem Thema. Wir «essen» eben auch Atmosphäre, Gefühle, Gedanken, Liebe und Lebensfreude.