Die diabetische Retinopathie (DR) ist die häufigste Komplikation von Diabetes mellitus. Hauptrisikofaktoren sind die Krankheitsdauer, schlechte Blutzuckereinstellung und das Vorliegen einer Hypertonie. Allerdings fällt das Risiko sehr unterschiedlich aus, was dafür spricht, dass bei der Entwicklung einer DR andere Faktoren, wie beispielsweise die Erblichkeit oder die glykämische Variabilität eine wichtige Rolle spielen. Einem anderen wichtigen Konzept zufolge handelt es sich bei der DR um einen unabhängigen Prädiktor mikrovaskulärer und makrovaskulärer Komplikationen. Daher muss bei der Bewertung des kardiovaskulären Risikos eines diabetischen Patienten das Vorliegen einer DR berücksichtigt werden. Darüber hinaus kann die Beurteilung der retinalen Neurodegeneration helfen, Diabetiker zu identifizieren, bei denen das Risiko einer kognitiven Einschränkung besteht, einer Komplikation, die bei der Population der Typ-2-Diabetiker zunehmend auftritt. Das Bewusstsein für eine etwaige DR hat bei der Beurteilung diabetischer Patienten auch therapeutische Implikationen. So kann beispielsweise nach einer raschen Verbesserung der Blutzuckerwerte eine Verschlechterung der DR auftreten. Insgesamt enthält die vorliegende Arbeit eine kritische Übersicht über die Bedeutung der DR in der allgemeinen Versorgung von Patienten mit Diabetes.

Die diabetische Retinopathie (DR) ist die häufigste Komplikation von Diabetes mellitus und stellt in den Industrieländern weiterhin die Hauptursache von vermeidbarer Erblindung der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter dar [1,2,3]. Die DR wurde lange Zeit als mikrovaskuläre Komplikation von Diabetes angesehen; es liegen jedoch zunehmend Hinweise vor, nach denen es bereits frühzeitig während der Pathogenese zu einer Neurodegeneration kommt [4,5]. Tatsächlich lassen sich bei Patienten ohne Anhalt für mikrovaskuläre Veränderungen Anomalien der Netzhautfunktion feststellen, und die American Diabetes Association (ADA) hat die DR kürzlich als hoch spezifische neurovaskuläre Komplikation eingestuft [6].

Die DR und ihr Fortschreiten sind mit einem erheblichen Anstieg der Gesundheitskosten verbunden [7]. Da die DR die häufigste Komplikation von Diabetes ist und den Annahmen zufolge von 415 Millionen Fällen im Jahr 2015 auf 642 Millionen im Jahr 2040 zunehmen wird, wird die DR im Zukunft ein noch größeres Problem darstellen [8].

Die derzeitigen Therapien zielen auf die Spätstadien der DR ab, in denen die Sehkraft bereits erheblich beeinträchtigt ist. Ein besseres Verständnis der Pathogenese der DR würde die Entwicklung neuartiger und wirksamerer präventiver/interventioneller Strategien für die frühen Stadien der DR ermöglichen [9,10]. Der vorliegende Artikel liefert eine kritische Übersicht über den aktuellen Wissensstand zum bidirektionalen Einfluss der DR auf den Diabetes und die damit verbundenen Komplikationen.

Die Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung einer DR sind die Krankheitsdauer, eine schlechte Blutzuckereinstellung (hohe HbA1c-Werte) und das Vorliegen einer Hypertonie. Zu den weiteren Risikofaktoren gehören ein hoher Body-Mass-Index (BMI), Pubertät,Schwangerschaft sowie eine Kataraktoperation [3].

Es liegen solide Hinweise vor, die den Zusammenhang zwischen den Blutzuckerwerten und der Entwicklung und Progression einer DR belegen. In der UKPDS (UK Prospective Diabetes Study)-Population von Patienten mit Typ-2-Diabetes war die intensivierte Therapie im Vergleich zum konventionellen Blutzuckermanagement mit einer 39%igen Risikoreduktion für eine Laser-Photokoagulation verbunden [11]. In der DCCT (Diabetes Control and Complications Trial)-Population von Patienten mit Typ-1-Diabetes reduzierte die straffe Blutzuckerkontrolle gegenüber der weniger straffen Blutzuckerkontrolle das Risiko für eine neu auftretende Retinopathie um 76% und für die Progression einer bestehenden Retinopathie um 54% [12]. Kürzlich veröffentlichten Berichten zufolge scheint sich die proliferative DR bei Typ-1-Diabetikern für bis zu 20 Jahre verhindern zu lassen, wenn als Therapieziel HbA1c-Werte von weniger als 7,6% (60 mmol/mol) angestrebt werden [13]. Die Serum-Lipidwerte scheinen weniger Einfluss auf die Entwicklung einer proliferativen DR oder eines diabetischen Makulaödems (DMÖ) zu haben [14,15]. Es liegen jedoch zunehmend Belege dafür vor, dass die nicht-herkömmlichen Lipidmaße (beispielsweise Apolipoproteine A und B) stärkere Risikomarker für eine DR sind als die Gesamtcholesterin- und Triglyzeridwerte [16,17].

Der Zusammenhang zwischen Hypertonie und DR ist ebenfalls bekannt. Die UKPDS zeigte, dass die Gruppe, die einer straffen Blutdruckkontrolle zugewiesen worden war, nach 9-jährigem Followup eine 34%ige Risikoreduktion im Anteil der Patienten, die eine Verschlechterung der Retinopathie um 2 Stufen zeigten (p = 0,0004), aufwies, und ein um 47% geringeres Risiko (p = 0,004) für eine Verschlechterung der Sehschärfe um 3 Linien der ETDRS-Tafel [11]. Eine kürzlich durchgeführte populationsbasierte Querschnittsstudie (13 473 Patienten) ergab, dass Hypertonie ein unabhängiger Risikofaktor sowohl für eine leichte bis mäßige DR als auch für die potenziell zum Verlust des Sehvermögens führende DR ist [18]. Die Leitlinien des Joint National Committee 8 empfehlen eine Blutdruckeinstellung auf Werte von <140/90 mmHg [19]. Nach den aussagekräftigsten aktuellen Belegen der ophthalmologischen Literatur ist eine Änderung dieser Empfehlung für Patienten mit bestätigter DR nicht mit einem Vorteil verbunden.

Zirkulierende Zytokine, die bei Typ-2-Diabetikern erhöht sind, können außerdem zu einer vermehrten Gefäßleckage führen, doch ist ihre Beteiligung an der Entwicklung einer DR und eines DMÖ noch unklar. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die lokale Synthese durch die Retina, hauptsächlich Netzhautpigmentepithel und Gliazellen, die Hauptquelle proinflammatorischer Zytokine ist. Daher sind intraokular applizierte entzündungshemmende Wirkstoffe, wie beispielsweise Kortikosteroide, wirksamer in der Behandlung eines DMÖ als systemische Wirkstoffe [9,20].

Zwar sind die oben beschriebenen Risikofaktoren an der Entwicklung und Progression der DR beteiligt, doch zeigen klinische Studien mit Diabetikern, dass erhebliche Unterschiede im Hinblick auf das Auftreten und den Schweregrad der DR bestehen. Diese sind durch die bekannten Risikofaktoren nicht vollständig zu erklären, und alle Kliniker sind sich bewusst, dass es eine Untergruppe von Patienten mit schlechter Blutzuckereinstellung und/oder unkontrolliertem Blutdruck gibt, die keine DR entwickelt. Demgegenüber gibt es Patienten mit sehr guter Blutzuckereinstellung, die keine Hypertonie haben, bei denen eine DR auftritt. Tatsächlich zeigte die DCCT/EDIC-Forschungsgruppe, dass die HbA1c-Werte 11% des DR-Risikos erklärten und dass die ungeklärten 89% der Risikoschwankung durch Faktoren des diabetischen Milieus bedingt sind, die vom mittleren HbA1c-Wert nicht erfasst werden [21].

Diese Daten sprechen dafür, dass andere Faktoren für die Neigung, diese Diabetes-Spätkomplikation zu entwickeln, eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang wurden Schätzwerte zur Erblichkeit der proliferativen DR zwischen 25% und 50% berichtet [22,23]. Die Studie mit eineiigen Zwillingen stellte eine Konkordanz für die DR fest (68% bei Typ-1- und 95% bei Typ-2-Diabetes) [24]. In der DCCT-Kohorte betrug die Odds Ratio für die Entwicklung einer schweren Retinopathie 3,1, wenn ein Angehöriger ebenfalls eine Retinopathie hatte [25]. Andere Studien zum familiären Risiko kamen zu ähnlichen Ergebnissen [26,27,28].

Die Schwankungen der Plasmaglukosewerte sind ein weiterer Grund dafür, dass der HbA1c-Wert ein schwacher Prädiktor für die Entwicklung oder Progression einer DR ist. Mit der Einführung der kontinuierlichen Glukosemessung (continuous glucose monitoring, CGM), die das Blutzuckerprofil über mehrere Tage erfasst, war es möglich, Parameter der Blutzuckermessung zu entwickeln, die wertvolle Informationen liefern, welche über die Informationen, die der HbA1c-Wert liefert, hinausgehen. Ein Parameter der CGM ist die «Zeit im Zielbereich» (time in range, TIR). Diese gibt an, über wie viel Zeit die gemessenen Blutzuckerwerte innerhalb des angestrebten Bereichs (üblicherweise 3,9-10,0 mmol/l) lagen und liefert wertvolle Informationen darüber, ob sich die Häufigkeit und Dauer von hypo- oder hyperglykämischen Episoden mit der Zeit verbessern. In einer kürzlich veröffentlichten Studie war die TIR nach Korrektur hinsichtlich Alter, Geschlecht, BMI, Dauer des Diabetes, Blutdruck, Lipidprofil und HbA1c-Wert mit allen Stadien der DR assoziiert [29]. Ferner haben eine systematische Übersichtsarbeit und eine Metaanalyse gezeigt, dass die Schwankungen der Nüchtern-Blutzuckerwerte eng mit dem Retinopathierisiko assoziiert waren [30].

Und schließlich könnten epigenetische Veränderungen ein Schlüsselmechanismus für das Phänomen des so genannten «metabolischen Gedächtnisses» sein, das die Langzeiteffekte des metabolischen Zustands, der über einen mehrere Jahre in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bestand, erklären könnte [31].

Das Vorliegen einer DR zeigt an, dass die Mikrozirkulation bereits durch das diabetische Milieu gestört ist, und kann daher als zuverlässiger Biomarker für die schädlichen Auswirkungen des Diabetes bei einem bestimmten Patienten angesehen werden. Tatsächlich handelt es sich um einen der wichtigsten Indikatoren für die Planung einer personalisierten Behandlung. Eine kürzlich durchgeführte systematische Analyse ergab klare Belege für die Zusammenhänge zwischen einer DR und den Komplikationen von Diabetes, einschließlich mikro- und makrovaskulärer Erkrankungen und Ereignisse [32]. Zwar wurden diese Zusammenhänge in vielen Fällen in Querschnittsstudien und retrospektiven Untersuchungen ermittelt, doch konnten etliche in prospektiven Untersuchungen auf Grundlage multivariater Analysen, die hinsichtlich des Einflusses der herkömmlichen oder anderen bekannten Risikofaktoren korrigiert waren, bestätigt werden.

Eine DR erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine Nephropathie [33,34,35] und stellt einen signifikanten und unabhängigen Prädiktor für die Progression einer Mikro- oder Makroalbuminurie dar [33]. Die DR ist mit einer Abnahme der glomerulären Filtrationsrate korreliert [36,37]. Daher kann eine engmaschige Überwachung von Patienten mit DR auf das Vorliegen einer Albuminurie und gestörten glomerulären Funktion helfen, die Progression zu einer schweren Nierenerkrankung zu verhindern.

Es wurde gezeigt, dass die DR mit 2 Arten von Neuropathie assoziiert ist: der peripheren diabetischen Neuropathie [38,39] und der kardialen autonomen Neuropathie (CAN) [40,41]. Derzeit ist nicht bekannt, ob ein Zusammenhang zwischen den neurodegenerativen Veränderungen der Retina und der peripheren Neuropathie besteht. Eine kürzlich durchgeführte Studie mit 27 Typ-1-Diabetikern ergab jedoch eine Korrelation zwischen dem Verlust der inneren Retina in der SD-OCT und einer verringerten autonomen Regulation [42].

Neben den mikrovaskulären Komplikationen ist die DR auch mit der Entwicklung von makrovaskulären Komplikationen bei Diabetes assoziiert, insbesondere zerebrovaskulären Komplikationen (Schlaganfall, Hirninfarkt/-blutung), kardiovaskulären Komplikationen (Atherosklerose, kardiovaskuläre Ereignisse und koronare Herzkrankheit) sowie peripheren Komplikationen (Fußulzera, Amputation der unteren Extremität und periphere arterielle Verschlusskrankheit) [32]. Wichtig ist zudem, dass die DR sowie die Mikroalbuminurie und die periphere Neuropathie sehr viel bessere Prädiktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen sind als die klassischen Risikofaktoren wie Cholesterin und Hypertonie [43].

Da sowohl die kardiale autonome Neuropathie als auch die DR in verschiedenen prospektiven Studien mit Diabetikern als Prädiktoren der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität ermittelt wurden, könnte es interessant sein zu untersuchen, ob das gemeinsame Auftreten beider Erkrankungen mit einem höheren Risiko kardiovaskulärer Komplikationen verbunden ist als das Vorliegen der jeweiligen Komplikation allein. In diesem Fall könnte eine Screeninguntersuchung von Diabetikern mit DR auf CAN helfen, Hochrisikogruppen zu identifizieren, bei denen eine Überwachung und Früherkennung der klinischen Progression zu einer Herzkreislauferkrankung erfolgen sollte.

Nachdem Rosiglitazon 2008 wegen des offensichtlichen Zusammenhangs mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko vom Markt genommen worden war, gab es so etwas wie einen Wendepunkt. Im Rahmen des regulatorischen Prozesses veröffentlichte die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) eine Richtlinie für Sponsoren darüber, wie nachzuweisen ist, dass eine neue antidiabetische Therapie zur Behandlung von Typ-2-Diabetikern nicht mit einer inakzeptablen Erhöhung des kardiovaskulären Risikos verbunden ist [44]. Diese FDA-Empfehlung führte dazu, dass die pharmazeutischen Unternehmen Studien konzipierten, die auf die Untersuchung der kardiovaskulären Sicherheit neuer Antidiabetika ausgerichtet waren.

Seither wurden mehrere multizentrische prospektive randomisierte kontrollierte Studien zur Beurteilung der kardiovaskulären Sicherheit von Arzneimitteln zur Behandlung von Typ-2-Diabetes veröffentlicht. Diese hatten einen signifikanten Einfluss auf die neueste Stellungnahme der ADA und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) über die Behandlung von Typ-2-Diabetes [45]. Seitdem nachgewiesen wurde, dass SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1R-Agonisten bei der Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität im Vergleich zu Placebo überlegen sind, spielen diese Arzneimittel in den Therapieleitlinien eine zentrale Rolle. In keiner dieser Studien wurden Vorliegen und Ausmaß der DR bei der Randomisierung einbezogen. Dies stellt ein schwerwiegendes wissenschaftliches Manko dar, das es bei zukünftigen klinischen Studien zu diesem Thema zu berücksichtigen gilt.

Die Ergebnisse von Längsschnittstudien zeigen, dass der kognitive Abbau bei Typ-2-Diabetikern bis zu doppelt so schnell verläuft wie die normale Alterung, und Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für eine leichte kognitive Störung (mild cognitive impairment, MCI) [46], die eine kognitive Beeinträchtigung gemäß den Standardtests beinhaltet, jedoch keine Auswirkungen auf die Alltagsaktivitäten hat und die einen Übergangszustand zwischen normaler kognitiver Funktion und Demenz darstellt. Darüber hinaus hatten Typ-2-Diabetiker ein fast doppelt so hohes Risiko, eine Alzheimer-Krankheit zu entwickeln wie nach dem Alter vergleichbare Nicht-Diabetiker [47]. Das erhöhte Risiko blieb auch nach Anpassung hinsichtlich vaskulärer Risikofaktoren bestehen. Die jährliche Konversionsrate von MCI zu Demenz liegt in der Allgemeinbevölkerung zwischen 10% und 30%, ist jedoch in der Population von Patienten mit Typ-2-Diabetes noch höher [48]. Wegen der Diabetes-Pandemie und dem gleichzeitig zunehmenden Alter der Bevölkerungen weltweit wird zudem die Zahl der Typ-2-Diabetiker mit kognitiven Einschränkungen oder Demenz den Erwartungen zufolge ansteigen. In diesem Zusammenhang ist damit zu rechnen, dass die schwere kognitive Beeinträchtigung zu einer «neuen» Langzeitkomplikation von Diabetes wird, mit dramatischen Folgen für die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen und mit erheblichen Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme [49]. Daher sind dringend Strategien zur Identifizierung von Diabetikern mit Demenzrisiko erforderlich. Tatsächlich empfiehlt die ADA eine Individualisierung der Diabetes-Therapie, die die kognitiven Fähigkeiten der Patienten berücksichtigt [50]. In der klinischen Praxis existieren jedoch keine bekannten phänotypischen Indikatoren oder zuverlässigen Untersuchungen zur Identifizierung von Typ-2-Diabetikern mit MCI.

Die Diagnose einer MCI basiert auf komplexen neuropsychologischen Tests, die für eine Integration in die derzeitigen Standardbehandlungen für Typ-2-Diabetes ungeeignet sind. Kürzlich wurde berichtet, dass die Netzhautsensitivität [51] und die Blickfixierung [52] gemäß Mikroperimetrie hilfreiche Biomarker zur Identifizierung von Typ-2-Diabetikern mit Alzheimer-Risiko sind. Diese Ergebnisse eröffnen die Möglichkeit für neue Prozeduren in der klinischen Versorgung, die auf die Überprüfung des kognitiven Status ausgerichtet sind und die sich leicht in die augenärztlichen Routineuntersuchungen zum Screening auf DR integrieren lassen.

Zwar besteht kein Zweifel, dass es zwischen der Blutzuckereinstellung und der langfristigen Entwicklung und Progression einer DR einen Zusammenhang gibt, doch kommt es Berichten zufolge bei rascher Verbesserung einer Hyperglykämie zu einer initialen Verschlechterung der DR. In der DCCT (Diabetes Control and Complications Trial)-Studie wurde bei 13,1% von 711 Typ-1-Diabetikern unter intensivierter Therapie eine frühe Verschlechterung nach 6 und/oder 12 Monaten beobachtet, gegenüber 7,6% von 728 Patienten, die die konventionelle Therapie erhielten (Odds Ratio: 2,06; p < 0,001) [53]. Die Hauptrisikofaktoren für eine frühe Verschlechterung waren ein hoher HbA1c-Wert, eine starke (> 2%) und rasche Senkung des HbA1c-Werts und der Schweregrad der DR bei Studienbeginn [53,54,55]. Ein ähnliches Phänomen wurde für Typ-2-Diabetiker nach einer raschen Verbesserung der Blutzuckerwerte berichtet, wenn die Patienten von oralen Wirkstoffen oder einer alleinigen Ernährungstherapie auf eine Behandlung mit Insulin umgestellt wurden [56,57], sowie laut veröffentlichten Berichten nach einer bariatrischen Operation [58].

Interessanterweise manifestiert sich die initiale Verschlechterung der DR, wie sie in der Frühphase einer intensivierten Therapie zur Blutzuckereinstellung zu beobachten ist, durch vermehrte weiche Exsudate, einem typischen Merkmal der ischämischen Retina. Die Hypoglykämie verschlimmert die ischämische Netzhautschädigung [59] und Antidiabetika, bei denen, wenn überhaupt, nur ein sehr geringes Hypoglykämierisiko besteht, wie beispielsweise GLP-1RA oder SGLT-2-Inhibitoren, könnten theoretisch für die Einleitung einer intensivierten Therapie bei Patienten mit DR besser geeignet sein.

Der enge Zusammenhang zwischen der Senkung der HbA1c-Werte und den günstigen Effekten auf die DR hat überdeckt, dass klinische Studien erforderlich sind, um den spezifischen Effekt von Antidiabetika auf die DR per se unabhängig von ihrer blutzuckersenkenden Wirksamkeit zu untersuchen. Aufgrund der berichteten pleiotropen Aktivität von GLP-1RA in experimentellen DR-Modellen verfügen diese Arzneimittel - neben ihrer Fähigkeit, den Blutzucker zu senken - über einen potenziellen zusätzlichen Nutzen, indem sie die Entwicklung einer DR verhindern oder das Fortschreiten einer DR stoppen [60]. Die Ergebnisse der SUSTAIN-6-Studie bilden diesbezüglich eine Ausnahme. In dieser Studie zeigte Semaglutid (ein langwirksamer GLP-1-Rezeptoragonist) unerwartet eine höhere Rate schwerer DR-Komplikationen (d.h. Glaskörperblutungen, Erblindung oder Erkrankungen, die eine Behandlung mit einem intravitrealen Wirkstoff oder eine Photokoagulation erforderten) [61]. Obwohl dies bei einem sehr geringen Prozentsatz von Patienten beobachtet wurde, handelte es sich dabei um ein überraschendes Ergebnis, da in den präklinischen Studien zu GLP-1RA - wie oben erwähnt - eher günstige Effekte als schädliche Effekte auf die Entwicklung einer DR berichtet wurden [60]. Hauptgründe für die schädliche Wirkung waren der rasche Abfall der HbA1c-Werte und die fehlende Einstufung der DR bei Studieneintritt [60,62]. Eine spezielle klinische Studie (die FOCUS-Studie), die darauf ausgerichtet ist, Klarheit in Bezug auf dieses Problem zu schaffen, wird jedoch in Kürze gestartet.

Trotz der Verbesserungen beim Diabetes-Management ist die DR in den Industrieländern weiterhin eine der Hauptursachen für eine Minderung der Sehkraft und Erblindung der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Erblindung und Verlust der Sehkraft, die größten Ängste der meisten Diabetiker, führen zu emotionaler Belastung und verringerter Funktionsfähigkeit im Alltag [63]. Darüber hinaus kommt es Berichten zufolge in sehr frühen Stadien der DR, in denen lediglich eine Neurodegeneration vorliegt, zu Veränderungen der Lebensqualität [64]. Daher sollten die jahrzehntealten Systeme zur Einstufung der DR, die allein auf einer nicht quantitativen Einschätzung der mikrovaskulären Anomalien basieren, durch robuste quantitative Messungen ersetzt werden, welche die fortschreitende Funktionsstörung der retinalen neurovaskulären Einheit widerspiegeln. Ferner sind stärker interventionell ausgerichtete Studien erforderlich, in denen die pathogenetischen Mechanismen untersucht werden, welche die retinale neurovaskuläre Einheit beeinflussen und sowohl eine Vaso- als auch Neuroprotektion bewirken. Dies wird nicht nur für ein besseres Verständnis der DR von entscheidender Bedeutung sein, sondern auch für die Umsetzung eines Ansatzes zur frühzeitigen und effizienten personalisierten Therapie in der Behandlung dieser Erkrankung.

Einem wichtigen Konzept zufolge ist die DR nicht nur mit anderen diabetischen mikroangiopathischen Erkrankungen wie Nephropathie oder Neuropathie assoziiert, sondern auch mit kardiovaskulären Erkrankungen. Dieses etablierte Konzept sollte nicht nur in der klinischen Praxis berücksichtigt werden, sondern auch bei der Konzeption von Studien, die auf eine Beurteilung des kardiovaskulären Outcomes in der Diabetiker-Population ausgerichtet sind.

Die DR ist zudem mit Demenz assoziiert [49]; noch interessanter ist jedoch der seit kurzem vorliegende Nachweis, dass die Untersuchung der retinalen neuronalen Funktionsstörung helfen kann, Typ-2-Diabetiker zu identifizieren, die sich in einem Prodromalstadium der Demenz (d.h. MCI) befinden. Dies ist klinisch relevant, da bei einer frühzeitigen Erkennung einer kognitiven Einschränkung die Therapieziele und die Behandlung der Patienten angepasst werden sollten, um Hypoglykämien, Hospitalisierungen und eine Akzeleration der Demenz zu vermeiden. Ferner ist zu beachten, dass Interventionen, welche die klinische Manifestation der Demenz um ein Jahr verzögern, die Prävalenz um 9 Millionen Fälle im Jahr 2050 verringern würden [65].

Insgesamt bedeutet das Vorliegen einer DR bei einem Diabetiker nicht nur, dass ein «Problem mit dem Sehen» besteht, sondern auch, dass dieser Patient ein hohes Risiko hat, andere mikro- und makrovaskläre Erkrankungen sowie eine Demenz zu entwickeln. Insofern ist die DR ein häufig vernachlässigter kennzeichnender Faktor bei der Umsetzung einer personalisierten Therapie bei Diabetikern. Darüber hinaus könnte die Retina ein hilfreiches Fenster für die indirekte Untersuchung des Gehirns darstellen, wodurch es möglich wäre, Patienten mit kognitiven Einschränkungen und dadurch bedingtem Demenzrisiko zu identifizieren. Koordinierte Aktivitäten von Diabetologen, Ophthalmologen, Grundlagenforschern, pharmazeutischen Unternehmen und Ärzten sind entscheidend für eine Linderung der verheerenden Auswirkungen dieser immer noch hochprävalenten Komplikation von Diabetes mellitus.

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte offenzulegen.

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