Zusammenfassung
Ziel: Vor dem Hintergrund der herrschenden Zeitknappheit sollten vielbeschäftigte Retinaspezialisten sich bewusst machen, wie ihre Patienten die gemeinsame Zeit bevorzugt nutzen möchten und ob sie sich mehr Gesprächszeit wünschen, auch auf Kosten anderer medizinischer Maßnahmen. Methoden: 810 Personen mit Diabetes mellitus wurden gebe- ten, sich einen typischen Arzttermin wegen diabetischer Retinopathie vorzustellen und einen Zeitraum von 10 min auf Untersuchung, Beratungsgespräch und Behandlung aufzuteilen (NCT02311504). Ergebnisse: Mit zunehmender Krankheitsdauer des Diabetes wünschten sich die Patienten signifikant mehr Zeit für Diagnostik (p = 0,028), wohingegen das Lebensalter mit kürzer angesetzter Behandlungszeit assoziiert war (p = 0,009). Bei weiblichen Patienten bestand die Tendenz zu geringfügig mehr Gesprächszeit (p = 0,051) im Vergleich zu Männern, die eine geringfügig höhere Präferenz für Behandlungsmaßnahmen zeigten (p = 0,025). Schlussfolgerungen: Die große Mehrheit erkannte bei ihrer Einteilung den Zeitbedarf für die Diagnostik an. Wenn den Patienten im Einzelnen die im Gesundheitssektor herrschende Zeitknappheit vergegenwärtigt wird, könnte dies das Verständ- nis für Prioritätensetzung fördern.
Transfer in die Praxis von Prof. Dr. Nicolas Feltgen (Göttingen)
Hintergrund
Mitarbeiter im deutschen Gesundheitswesen sind häufig in Zeitnot und leiden unter dem Gefühl, den Anliegen und Fragen der Patienten nicht mehr gerecht werden zu können. Umfangreiche Daten sowie vielfältige diagnostische und therapeutische Möglichkeiten verstärken dieses Gefühl, denn Ärzte sind bestrebt, ihr Fachwissen an die Patienten weiterzugeben. Diese Informationsflut führt zu einer Asymmetrie im Patientengespräch, bei der der Arzt mehr redet als zuhört. In einer Analyse von Patientengesprächen mit Glaukomspezialisten betrug der Sprechanteil der Ärzte 70%, Patientenfragen wurden kaum beantwortet [1]. Die ernüchternden Real-life-Daten der Studien zur Behandlung des Makulaödems nach retinalen Erkrankungen, die nahezu lückenlos eine Unterversorgung der Betroffenen belegen, könnten zum Teil auch durch ein fehlendes Krankheitsverständnis der Patienten erklärt werden. Wir stellen uns viel zu selten die Frage, was sich die Patienten eigentlich von ihrem Augenarzt und der Behandlung wünschen.
Studienergebnisse
Dieser wirklich lohnenswerten Frage sind die Kollegen aus Tübingen und Dresden in einer umfangreichen Befragung nachgegangen.
Untersuchung hat für Patienten Priorität
810 Diabetiker wurden gebeten, eine Zeitspanne von fiktiven 10 min Arztkontakt in Beratung, Diagnostik und Behandlung einzuteilen. Im Mittel wünschten sich Patienten am meisten Zeit für die Untersuchung (4,1 min), gefolgt von Beratung (3,4 min) und Behandlung (2,4 min). Diabetiker mit längerer Krankheitsdauer wünschten sich mehr Zeit für Diagnostik. Mit zunehmendem Patientenalter wurde die Behandlung weniger attraktiv. Es gab zudem einen leichten Geschlechterunterschied, denn Frauen wünschten sich geringfügig mehr Zeit für das Gespräch, während Männer eher zur Therapie tendierten.
Mehr Beratungsbedarf zu Beginn einer Behandlung
Diese wichtigen Daten zeugen von einer Professionalisierung der Patienten, die sich mit zunehmender Krankheitsdauer besser auskennen und somit weniger Informationsbedarf haben. Das kann man in der Behandlung berücksichtigen und nutzen, denn gerade im Rahmen einer langwierigen Injektionsbehandlung bei diabetischem Makulaödem kann das Gespräch nach einer Behandlungsserie auch kürzer gehalten werden, wenn ersichtlich wird, dass sich seitens der Patienten keine Änderungen ergeben haben. Anders herum können diese Daten aber auch als Motivation gesehen werden, gerade zu Beginn einer behandlungsbedürftigen Erkrankung ein eingehendes Beratungsgespräch zu führen.
Die Rolle des Patientenalters beim Therapiewunsch
Die Zurückhaltung älterer Patienten gegenüber einer Behandlung konnte in dieser Umfrage bestätigt werden. Auch dieser Punkt sollte bei einer Beratung angesprochen und gewürdigt werden. Im Verlauf einer Injektionstherapie sollte immer wieder gefragt werden, ob die Patienten das Gefühl haben, dass sich die Behandlung lohnt. Falls das verneint wird, kann man auch über ein Therapieende diskutieren.
Fazit für die Praxis
Patienten haben im Verlauf einer langwierigen Behandlung unterschiedliche Bedürfnisse, die angesprochen und in den Behandlungsplan mit einbezogen werden sollten. Vermutlich lässt sich die vielfach beklagte mangelnde Compliance und Patientenadhärenz dadurch verbessern.
Disclosure Statement
Hiermit erkläre ich, dass keine Interessenskonflikte in Bezug auf den vorliegenden Kommentar bestehen.