Zusammenfassung
Hintergrund: Die Frühgeborenen-Retinopathie (ROP; Retinopathia praematurorum) ist eine potenziell zur Erblindung führende Krankheit, die bei extrem verfrüht geborenen Säuglingen auftritt. Die Einführung neuer ROP-Vorsorgeuntersuchungssysteme mit höherer Sensitivität und Spezifität als bisherige Leitlinien für das ROP-Screening hat das Potenzial, die Zahl belastender Augenuntersuchung bei diesen Säuglingen zu verringern. Ziele: Erhöhung der Spezifizität des WINROP-Überwachungssystems (Weight, Insulin-like growth factor-I, Neonatal, ROP) zur Identifikation extrem frühgeborener Säuglinge mit behandlungsbedürftiger ROP. Methoden: Zwei Kohorten, die zuvor WINROP-Analysen unterzogen worden waren, wurden in die Studie eingeschlossen und erneut evaluiert. Das Körpergewicht bei WINROP-Alarm für extrem frühgeborene Säuglinge (Entbindung vor Schwangerschaftswoche 27) wurde reevaluiert, und durch Setzung «sicherer» WINROP-Alarmgrenzwerte für das Körpergewicht erfolgte eine Neubeurteilung der Stichproben nach WINROP-Alarm. Die folgenden beiden Kohorten wurden untersucht: (1) die Kohorte der EXPRESS-Studie (Extremely Preterm Infants in Sweden Study) mit 2004-2007 in Schweden geborenen Säuglingen (n = 407) und (2) die extrem frühgeborenen Säuglinge einer nordamerikanischen Kohorte, Geburtsjahrgänge 2006-2009 (n = 566). Ergebnisse: In der EXPRESS-Kohorte lag bei 12,5% (40/319) der Säuglinge, bei denen zuvor ein WINROP-Alarm erfolgt war, nun kein Alarm mehr vor; die Spezifität von WINROP in der EXPRESS-Kohorte stieg damit von 23,9% (86/360) auf 35,0% (126/360). In der nordamerikanischen Kohorte hatten nach der erneuten Beurteilung 15,4% (81/526) keinen Alarm mehr; die Spezifität stieg von 8,5% (38/447) auf 26,6% (119/447). Die Sensitivität betrug unverändert 97,5% in der EXPRESS-Kohorte (45/47) und 98,3% (117/119) in der nordamerikanischen Kohorte. Schlussfolgerungen: Die Spezifität des WINROP-Überwachungssystems für extrem frühgeborene Säuglinge kann durch erneute Evaluierung anhand des Gewichts bei WINROP-Alarm signifikant verbessert werden. Neonatology 2015;108:152-156 (DOI:10.1159/000435770)
Experten-Kommentar
Hintergrund
Trotz aller Verbesserungen in der neonatologischen Versorgung und im neonatologischen Monitoring entwickeln Hochrisikofrühgeborene in einem von der Unreife des Kindes abhängigen Prozentsatz eine akute Frühgeborenen-Retinopathie, die stadienabhängig zur schweren Sehbehinderung bis hin zur Erblindung führen kann. Zur Aufdeckung einer behandlungsbedürftigen Frühgeborenen-Retinopathie (ROP = Retinopathy of Prematurity) werden augenärztliche Screening-Untersuchungen auf Grundlage nationaler und internationaler Leitlinien durchgeführt.
Nach den aktuell gültigen deutschen Leitlinien [1] werden in Deutschland derzeit alle Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500g und/oder einem Gestationsalter von 32 Wochen und darunter augenärztlich mindestens einmal untersucht und darüber hinaus auch reifere Kinder, wenn sie postnatal mindestens 3 Tage lang zusätzliche Sauerstoffzufuhr benötigt haben. In Deutschland werden derzeit jährlich knapp 8000 Kinder wegen des Risikos einer akuten ROP untersucht, 2014 waren es beispielsweise insgesamt 11 758 Untersuchungen. Dabei hatten 264 Kinder (3,32%) eine höhergradige ROP (höheres Stadium als ROP 2), behandelt wurden 242 Kinder (2%) [2]. Vergleichbare Daten des ROP-Registers Retina-net der deutschen Retinologischen Gesellschaft aus den Jahren 2011-2013 ergaben eine Inzidenz der behandlungsbedürftigen ROP von ca. 5% [3]. Das Risiko für eine behandlungsbedürftige ROP steigt mit sinkendem Gestationsalter und beträgt bei Frühgeborenen aus der 23. Schwangerschaftswoche bis zu 50%.
Da gerade bei reiferen Frühgeborenen der Prozentsatz der Normalbefunde sehr hoch ist, wurde WINROP (Weight, Insulin-like growth factor I, Neonatal, ROP) entwickelt [4] - ein Algorithmus, der die Zahl der unnötigen Untersuchungen reduzieren soll. WINROP basiert auf dem hohen Vorhersagewert einer geringen Gewichtszunahme und eines niedrigen postnanalen IGF-I-Serumspiegels als Indikator für ein erhöhtes Risiko, eine behandlungsbedürftige ROP zu entwickeln.
In Folgestudien zeigte die gleiche Arbeitsgruppe, dass das Gestationsalter und die postnatale Gewichtszunahme für die Risikoabschätzung ausreichend sind. Die postnatale Gewichtszunahme kann allerdings nicht zur Risikoabschätzung genutzt werden bei Kindern mit starken Ödemen oder Hydrozephalus [5,6]. WINROP wurde in verschiedenen Ländern getestet und lokalen Gegebenheiten angepasst. In einer schwedischen Folgestudie hatte sich allerdings gezeigt, dass die Spezifität besonders bei extrem Frühgeborenen mit 24% relativ schlecht war.
Studienergebnisse
In der vorliegenden Arbeit wurden die Gründe für die geringe Spezifität retrospektiv analysiert. Dazu wurden die Daten der EXPRESS-Studie mit den Daten von 1706 Kindern aus einer Vergleichsstudie in den USA verglichen.
Durch eine angepasste kritische Gewichtszunahme für die Kinder, die vor der 26. Schwangerschaftswoche geboren wurden, konnte die Spezifität für die Kinder der EXPRESS-Kohorte von 23,9% auf 35% und für die 566 Kinder in der amerikanischen Studie mit einem Gestationsalter unter 27 Wochen von 8,5% auf 26,6% erhöht werden. Für die Kinder mit einem Gestationalter von mindestens 26 Wochen konnte eine geringere Gewichtszunahme als sicher eingesetzt werden.
Transfer in die Praxis - Fazit
WINROP konnte mit der an das Gestationsalter angepassten kritischen Gewichtszunahme eine höhere Spezifität als in der ursprünglichen Version erreichen. In den beiden Kohorten hätte bei alleiniger Anwendung die Zahl der untersuchten Kinder in der schwedischen Studie um 35% und in der amerikanischen Studie um knapp 27% gesenkt werden können. Allerdings betonen auch die Autoren, dass die Zahlen nicht ohne Weiteres auf andere Kohorten oder Nationen angewandt werden können und daher weitere Untersuchungen und Anpassungen notwendig sind, ehe von den aktuellen Leitlinien für die augenärztliche Untersuchung von Frühgeborenen abgewichen werden kann. Für Deutschland scheint sich allerdings abzuzeichnen, dass Frühgeborene mit einem Gestationsalter von mindestens 30 Wochen praktisch nie eine behandlungsbedürftige ROP entwickelt. Diese Zahlen müssten aber vor Änderung der Leitlinie ausreichend validiert werden.