Zusammenfassung
Hintergrund: In den letzten Jahren durchgeführte Untersuchungen zur Behandlung des Retinoblastoms haben vielversprechende Ergebnisse für die intraarterielle Anwendung von Melphalan erbracht. In dieser Studie berichten wir über die Ergebnisse der intraarteriellen Chemotherapie (IACT) mit Melphalan in der Behandlung von Patienten mit neu diagnostiziertem oder rezidivierendem/therapierefraktärem Retinoblastom an der Klinik für Pädiatrische Onkologie der Universität Hacettepe, Ankara, Türkei. Material und Methoden: Es handelt sich um eine retrospektive Studie zu Patienten mit intraokulärem Retinoblastom, die zwischen Dezember 2011 und Mai 2014 mit einer IACT behandelt wurden. Insgesamt 56 Augen von 46 konsekutiven Patienten (30 männlich und 16 weiblich) wurden in die Studie eingeschlossen. 44 Augen waren im Anschluss an die Diagnosestellung mit einer systemischen Chemotherapie behandelt worden (systemische Chemotherapie-Gruppe, SCG), bei 12 Augen war die Diagnose neu (primäre intraarterielle Melphalan-Gruppe, PIAG). Die Bemessung der IACT-Dosis richtete sich nach dem Lebensalter. Tumorkontrolle und Bulbuserhalt unter IACT wurden analysiert. 7 Tage nach der IACT erfolgte eine Untersuchung auf systemische Toxizität anhand eines vollständigen Blutbilds. Okuläre Nebenwirkungen, z.B. Exophthalmus, Ödembildung des Augenlids, okuläre Motilität sowie Retina- und Optikusatrophie wurden durch einen Spezialisten für okuläre Onkologie mittels regelmäßiger augenärztlicher Untersuchungen beurteilt. Ergebnisse: Eine Enukleation konnte insgesamt bei 66% der Augen (37/56) vermieden werden - 75% (9/12) in der PIAG und 64% (28/44) in der SCG. Die enukleationsfreie Überlebensrate nach einem Jahr betrug 56,7%, bei einer medianen Nachbeobachtungsdauer von 11,9 Monaten (Spannweite 0,27-27,6). Die IACT wurde über insgesamt 124 Zyklen verabreicht (je 1-7 Zyklen; im Mittel 2,3). Die Patienten sprachen wie folgt auf die Behandlung an: Regression des Netzhauttumors in 27 Augen und Verbesserung der Glaskörperaussaat in 5 von 15 Augen. Folgende weitere Behandlungsschritte wurden nach der IACT noch erforderlich: Enukleation in 19 Augen (10 mit Glaskörperaussaat), Strahlentherapie in 3 Augen, systemische Chemotherapie in einem Auge und lokale Therapie in einem Auge. Es traten keine schwerwiegenden systemischen Nebenwirkungen auf. Zu verzeichnen waren transitorische Schwellungen der Augenlider (22 Patienten), Bindehautchemose (12 Patienten), Ptosis des oberen Augenlids (5 Patienten), Hautrötung in der Stirnregion (3 Patienten), Einschränkung der okulären Motilität (3 Patienten) sowie geringfügiger Exophthalmus (ein Patient). Veränderungen des retinalen Pigmentepithels (30 Patienten) und Optikusatrophie (3 Patienten) traten in der späteren Nachbeobachtung auf. Schlussfolgerungen: Eine IACT kann die Erhaltung des Augapfels und Vermeidung einer Strahlentherapie bei begrenzter Toxizität ermöglichen. Die Behandlung ist wirksam, reproduzierbar und sicher. Übersetzung aus Ophthalmologica 2015;234:227-232 (DOI:10.1159/000439357)
Experten-Kommentar
Hintergrund
Das Retinoblastom ist der häufigste und bösartigste Tumor des Auges bei Kindern. Er tritt in einer Inzidenz von 1 auf 15-30 000 Lebendgeburten auf.
Die wichtigsten Erstbefunde sind Leukokorie in 50%, Strabismus in 20% und rotes oder schmerzendes Auge in 10% der Fälle.
Therapieoptionen und Prognose richten sich nach dem Stadium des Tumors (Größe und Lokalisation) bei Behandlungsbeginn.
Infrage kommen Kryotherapie, Brachytherapie, externe Strahlentherapie (Protonentherapie), Enukleation oder Chemotherapie. In den letzten Jahren ist die Option der selektiven intraarteriellen Chemotherapie (IACT) hinzugekommen. Diese kann bei fortgeschrittenen Tumoren mit dem Ziel angewandt werden, invasivere Therapieformen (wie Enukleation) zu vermeiden.
Studienergebnisse
Die vorliegende Arbeit stellt eine retrospektive monozentrische Studie an Patienten mit fortgeschrittenem Retinoblastom dar. Dabei wurden 56 Augen von 46 konsekutiven Patienten eingeschlossen. 44 Augen wurden mit systemischer Chemotherapie behandelt und 12 Augen mit IACT.
Bei insgesamt 37 von 56 Augen konnte nach Angaben der Autoren eine Enukleation vermieden werden (66%), davon bei 9 der 12 Augen in der intraarteriellen Chemotherapiegruppe (75%) und bei 28 der 44 Augen in der systemischen Chemotherapiegruppe (64%). Die mit IACT behandelten Patienten erhielten 1-7 Zyklen, im Mittel 2,3. In insgesamt 19 Augen aus beiden Gruppen wurde anschließend doch eine Enukleation durchgeführt. Zu den Nebenwirkungen gehörten Lidschwellungen, Chemosis, Ptosis, Motilitätsstörungen und leichte Protrusio bulbi. Die IACT wird von den Autoren als vielversprechende Alternative zur Strahlentherapie angesehen.
Fazit für die Praxis
Beim Retinoblastom als unbehandelt besonders schwerwiegend verlaufender Erkrankung sind sehr genau durchgeführte Studien mit umfassend und langfristig dokumentierten Verläufen außerordentlich wichtig.
Die in dieser Arbeit dargestellten Ergebnisse hinsichtlich der lokalen IACT sind vielversprechend, eine Bewertung im Vergleich zur Strahlentherapie ist jedoch aufgrund des retrospektiven Charakters der Studie, der fehlenden Kontrollgruppe von mit Strahlentherapie behandelten Patienten sowie der kurzen Nachbeobachtungszeit nicht möglich.
Wie ähnliche Arbeiten zeigt auch diese Studie recht vielversprechende Ergebnisse der lokalen intraarteriellen Chemotherapie. Die Aussagekraft ist jedoch noch begrenzt, sowohl aufgrund der recht niedrigen Patientenzahl als auch aufgrund der Verwendung nur eines Wirkstoffs (Melphalan).