Zusammenfassung
Einleitung: Retinitis pigmentosa (RP) ist eine erbliche Netzhaut-Erkrankung, die durch Degeneration der Photorezeptoren und nachfolgenden fortschreitenden Sehverlust gekennzeichnet ist. In dieser Studie wird ihre Auswirkung auf die Lebensqualität (LQ) und die Gemütslage von Patienten mit RP untersucht. Methoden: Eine Querschnittsstudie, an der 60 Patienten mit RP und diagnostizierter Stäbchen-Zapfen-Dystrophie sowie 20 Kontrollpersonen teilnahmen, wurde durchgeführt. Die RP-Population wurde nach dem Ausmaß der Einschränkung des Gesichtsfelds (GF) und der Sehschärfe (SS) in 3 Gruppen eingeteilt. Parallel dazu wurden Scores für die LQ laut Selbstauskunft der Patienten (National Eye Institute Visual Functioning Questionnaire mit 25 Items) und für Angst/Depression (Hospital Anxiety and Depression Scale) erhoben. Ergebnisse: Beim zusammengesetzten LQ-Score stellten wir durchgängig vorliegende Unterschiede zwischen allen von GF- und SS-Einschränkungen betroffenen Gruppen und der Kontrollgruppe fest. Auch zwischen den beiden Gruppen mit der stärksten Beeinträchtigung des GF (GF1: ØGF < 20°) und der SS (SS1: ØSS < 0,3) und den anderen GF- und SS-Gruppen waren signifikante Unterschiede zu verzeichnen. Bei den Scores für Angst und Depression bestanden durchgängige Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und GF1 bzw. SS1. Schlussfolgerungen: Diese Arbeit ergibt, dass bei RP-Patienten eine signifikante Beeinträchtigung der LQ und der Gemütslage mit einem verbleibenden GF-Durchmesser unter 20° und einer SS schlechter als 0,3 korreliert. Damit werden erstmals Schwellenwerte vorgestellt, die bei Behandlungsmaßnahmen zur Wiederherstellung oder Erhaltung des Sehvermögens genutzt werden können, um die LQ von RP-Patienten zu verbessern. Übersetzung aus Ophthalmic Res 2015; 54: 78-84 (DOI: 10.1159/000435886)
Experten-Kommentar
Transfer in die Praxis
Einschränkungen des Sehvermögens führen zu Teilhabebeeinträchtigungen. Das Ausmaß dieser Beeinträchtigungen kann allein aufgrund der messbaren Einschränkung von Sehschärfe oder Gesichtsfeld nur schwer abgeschätzt werden. Daher kommt Untersuchungen, wie der hier vorgestellten Studie von Azoulay et al., die Grenzwerte von Gesichtsfeld-Einengung und Sehschärfe-Reduktion anhand subjektiver Angaben zur Lebensqualität sowie zum emotionalen Status eruieren, ein hoher Stellenwert zu. 60 Patienten mit fortgeschrittener Retinitis pigmentosa (RP; Stäbchen-Zapfen-Dystrophie) wurden hierzu anhand ihrer Sehschärfe und Gesichtsfeld-Einengung in der klassischen Goldmann-Perimetrie in verschiedene Gruppen eingeteilt und mit den Ergebnissen des National Eye Institute Visual Functioning Questionnaire (25 Items) sowie des Fragebogens Hospital Anxiety and Depression Scale korreliert. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe war für alle Patientengruppen eine signifikante Einschränkung festzustellen, selbst bei einer nur geringen Minderung des Sehvermögens. Diese Einschränkung der Lebensqualität war für Sehschärfe-Werte unter 0,3 sowie eine Gesichtsfeld-Einengung auf einen Radius unter 10° bzw. einen Durchmesser unter 20° nochmals signifikant stärker als für schwächere Beeinträchtigungen des Sehvermögens. Die Ergebnisse passen zu anderen Untersuchungen, wobei hinsichtlich der Gesichtsfeld-Einengung bisher im Wesentlichen Befunde der statischen Computerperimetrie ausgewertet wurden [1]. Aufgrund der statokinetischen Dissoziation ist dabei mit einer deutlich stärkeren Einengung zu rechnen als mit dem Goldmann-Perimeter [2]. Die negativen Auswirkungen fortgeschrittener Schädigung bei RP auf das Wohlbefinden an sich und dementsprechend auf die Entwicklung einer Depression sind nicht neu, müssen aber berücksichtigt werden, da bekannt ist, dass auch eine Depression selbst eine Sehminderung verstärken kann.
Fazit
Wenn die Autoren schlussfolgern, mit dieser Untersuchung eine Gesichtsfeld-Einengung auf einen 10°-Radius oder eine Sehschärfe-Reduktion auf maximal 0,3 als Grenzwerte bestätigt zu haben, muss dazu angemerkt werden, dass die Einstufung in verschiedene Gruppen keine anderen Ergebnisse erwarten ließ. Hier wäre eine andere Auswertung oder eine Unterteilung in mehr kleinere Gruppen erforderlich, um eindeutige Aussagen treffen zu können. Dennoch sind diese Angaben wichtig und hilfreich. Eine Sehschärfe von unter 0,4 ist funktionell mit einer fehlenden Lesefähigkeit ohne vergrößernde Hilfsmittel verbunden und stellt daher die Grenze der Sehbehinderung dar. Dies ist also nachvollziehbar eine ganz wesentliche Einschränkung der Selbstständigkeit. Schwieriger ist die Beurteilung der Einengung des Gesichtsfelds. In Deutschland ist mit einer Einengung auf maximal 10° (Radius) im Versorgungsrecht ein Behinderungsgrad von 70 verknüpft; und es wird von erheblichen Problemen der Gehfähigkeit und bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ausgegangen, sodass den Betroffenen die Vergünstigungsmerkmale B und G zustehen [3]. Dennoch ist bei den noch relativ jungen Patienten mit RP eine solche Einengung typischerweise nicht Anlass, bereits einen Langstock zu benutzen.