Zusammenfassung
Mutationen im ND5-Gen werden selten mit der Leber’schen hereditären Optikusneuropathie (LHON) in Verbindung gebracht. Wir beschreiben einen 57-jährigen Mann mit der Mutation m.13528A>G, p.(Thr398Ala) im ND5-Gen, der sich mit einem progredienten beidseitigen Sehverlust über einen Zeitraum von 3 Monaten vorstellte. In der Vorgeschichte hatte er stark geraucht und Alkohol getrunken. Die Gesichtsfelduntersuchung ergab beidseitige zentrale Skotome. Bei der Nachuntersuchung nach 2 Jahren hatte sich seine Sehschärfe im Vergleich zum Ausgangswert verbessert und es wurde eine temporale Papillenblässe an beiden Augen festgestellt. In der Literatur gibt es nur wenige Berichte über diese Mutation und dieser Fallbericht erweitert das klinische Bild der m.13528A>G-Mutation im ND5-Gen bei Patienten mit LHON-Phänotyp.
Einführung
Die Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie (LHON) ist eine mitochondriale Erkrankung, die durch einen schmerzlosen Verlust des zentralen Sehvermögens aufgrund einer fortschreitenden Degeneration der retinalen Ganglienzellen (RGZ) des papillomakulären Bündels gekennzeichnet ist. In der Regel erkranken junge Männer an LHON, aber auch Frauen und Menschen jeden Alters können betroffen sein. Bei Patienten mit LHON wurden mehrere Mutationen in der mitochondrialen DNA (mtDNA) nachgewiesen. Die 3 klassischen Punktmutationen mit der höchsten Häufigkeit sind jedoch die Nukleotidpositionen 11 778, 14 484 und 3460 [1]. Diese Mutationen führen in der Regel zu einer Fehlfunktion des Komplex I der Elektronentransportkette, was zu einer gestörten ATP-Synthese und in der Folge zu einer Degeneration der RGZ führt. LHON ist durch eine unvollständige Penetranz gekennzeichnet und tritt nicht immer bei Personen mit pathogenen Mutationen auf. Bestimmte Risikofaktoren (z.B. Rauchen) können jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Sehverlustes erhöhen [2]. Obwohl die oben genannten Mutationen am häufigsten beobachtet werden, wurden in der Literatur weitere mtDNA-Mutationen beschrieben, die die Mitochondrienfunktion beeinträchtigen. Dieser Fallbericht beschreibt einen Patienten mit LHON-Phänotyp und einer Mutation im ND5-Gen (d.h. m.13528A>G, p.(Thr398Ala)). Die CARE-Checkliste wurde für diesen Fallbericht ausgefüllt und ist in der Zusatzinformation online enthalten (für die gesamte Zusatzinformation siehe www.karger.com/doi/10.1159/000529423).
Fallvorstellung
Ein 57-jähriger Mann wurde wegen eines progredienten beidseitigen Sehverlustes über einen Zeitraum von 3 Monaten überwiesen. Die Krankengeschichte des Patienten wies einen neu diagnostizierten Diabetes mellitus auf. Zum Zeitpunkt der Vorstellung nahm er jedoch keine Medikamente ein und sein Diabetes wurde durch eine Diät kontrolliert. Er rauchte seit 12,5 Jahren und konsumierte 5–10 Gläser Alkohol pro Tag. Der Patient ernährte sich überwiegend vegetarisch, aß aber gelegentlich Meeresfrüchte und Eier. Zu Beginn der Untersuchung betrug die Sehschärfe 20/500 OD und 20/400 OS. Die Pupillenuntersuchung ergab normal große Pupillen, die träge waren und keinen relativen afferenten Pupillendefekt aufwiesen. Die Untersuchung des Augenhintergrundes ergab eine temporale Blässe der Sehnerven. Die Humphrey-Gesichtsfeldmessung ergab zentrale Skotome in beiden Augen (Abb. 1). Eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns und der Orbitae mit Kontrastmittel war unauffällig. Differenzialdiagnostisch wurde eine beidseitige Optikusneuropathie aufgrund von Nährstoffmangel oder LHON vermutet. Die Untersuchung ergab normale Werte für B12, Folat in den roten Blutkörperchen, Blutbild und Kupfer. Eine vollständige Analyse des mitochondrialen Genoms ergab eine Missense-Variante mit 100% Homoplasie im ND5-Gen (m.13528A>G, p.(Thr398Ala)). Bei der Nachuntersuchung nach 24 Monaten verbesserte sich die Sehschärfe auf 20/150 OD und 20/150 OS und die Fundusuntersuchung zeigte eine temporale Papillenblässe OU. Die Humphrey-Gesichtsfeldmessung ergab beidseitige zentrale Skotome und die optische Kohärenztomografie (OCT) der retinalen Nervenfaserschicht (RNFL) zeigte eine intervallartige Ausdünnung des temporalen Sehnervenanteils (Abb. 2). Der Patient wurde auf die Wichtigkeit des Rauch- und Alkoholverzichts hingewiesen. Außerdem wurde ihm die Einnahme von Vitaminen des B-Komplexes empfohlen. Nach 6 Monaten gab der Patient an, mit dem Rauchen aufgehört und mit der Einnahme von Nikotinersatzprodukten begonnen zu haben. Auch den Alkoholkonsum hatte er eingestellt.
Diskussion
Die RGZ sind dicht mit Mitochondrien gefüllt und haben eine hohe Stoffwechselaktivität. Eine gestörte ATP-Synthese kann daher zur Degeneration der RGZ führen, was ein charakteristisches Merkmal der LHON ist [3]. Der Komplex I der Elektronentransportkette besteht aus 14 Hauptuntereinheiten, von denen 7 von der mtDNA kodiert werden [4]. Pathogene Mutationen in den Genen, die für eine dieser Untereinheiten kodieren, können zu einer Fehlfunktion des Komplex I führen, wodurch die ATP-Synthese beeinträchtigt wird. Das Gen ND5, das für eine Untereinheit von Komplex I kodiert, wurde bereits als Mutationshotspot identifiziert. Darüber hinaus werden pathogene Mutationen in ND5 mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht, darunter das Leigh-Syndrom, mitochondriale Enzephalopathie, Laktatazidose, schlaganfallähnliche Episoden und LHON [5].
Die in diesem Artikel beschriebene Mutation (d.h. m.13528A>G) wurde bereits in einer kleinen Anzahl von Fallberichten beschrieben. Batandier und Kollegen [6] beschrieben diese Mutation zum ersten Mal bei zwei nicht verwandten kaukasischen Patienten aus Frankreich mit LHON-Phänotyp. Eine der Patienten war weiblich, das Geschlecht des anderen Patienten wurde nicht beschrieben. Die Sehschärfe der beiden Patienten wurde nicht angegeben, und es wurden keine weiteren klinischen Details über diese Patienten mitgeteilt. Petruzzella et al. [7] beschrieben diese Mutation bei einem 44-jährigen Mann mit Verdacht auf LHON, der sich mit einem plötzlichen Sehverlust des rechten Auges vorstellte. Bei der Gesichtsfelduntersuchung zeigte sich ein zentrales Skotom am rechten Auge. Die Sehschärfe betrug bei der Vorstellung 20/40 OD und 20/20 OS und verbesserte sich nach 2 Monaten auf 20/25 OD und 20/20 OS. Außerdem wurde eine Ausdünnung der RNFL im nasalen Quadranten festgestellt. Im Gegensatz dazu hatte unser Patient bei der Erstvorstellung eine deutlich schlechtere Sehschärfe (20/500 OD und 20/400 OS) und wurde in einem höheren Alter (57 Jahre) vorgestellt. Im Fall von Petruzzella und Kollegen [7] wurde die endgültige Sehschärfe bei der Nachuntersuchung nach 2 Monaten erreicht, im vorliegenden Fallbericht wurde die endgültige Sehschärfe bei der Nachuntersuchung nach 2 Jahren erreicht. Das Gesichtsfeld unseres Patienten zeigte bilaterale zentrale Skotome und nicht nur ein einseitiges Zentrozökalskotom. Außerdem war die RNFL bei unserem Patienten nicht nasal, sondern temporal ausgedünnt. In Anbetracht dieser Unterschiede erweitert der hier beschriebene Fall das klinische Bild der m.13528A>G-Mutation, da deutliche Unterschiede in der visuellen Funktion und den OCT-Parametern im Vergleich zu früher publizierten Fällen, die diese Mutation beschreiben, bestehen.
Die in diesem Fallbericht beschriebene Mutation führt zum Austausch einer einzelnen Aminosäure (Threonin durch Alanin), der die lokalen Wechselwirkungen zwischen den Resten stören kann. Insbesondere besitzt Threonin eine polare Seitenkette, bedingt durch das Vorhandensein einer Hydroxylgruppe, und die Substitution durch Alanin, einem unpolaren Rest, kann zum Verlust der Wasserstoffbrückenbindung führen und somit die Struktur des ND5-Proteins beeinträchtigen. In einer Studie, in der die biochemischen Auswirkungen der Mutation m.13528A>G untersucht wurden, konnte eine signifikante Abnahme des nachweisbaren ATP-Spiegels im betroffenen Gewebe festgestellt werden, die auf eine Komplex-I-Fehlfunktion zurückzuführen ist. Darüber hinaus wurde oxidativer Stress aufgrund der mitochondrialen Dysfunktion durch erhöhte Werte reaktiver Sauerstoffspezies in Fibroblasten nachgewiesen [7]. Insgesamt gibt es überzeugende Hinweise auf die Pathogenität dieser Mutation.
Obwohl LHON nicht bei allen Menschen auftritt, die die pathogenen Mutationen tragen, gibt es bestimmte Risikofaktoren, die den Sehverlust beschleunigen können. Unser Patient rauchte und trank viel Alkohol, beides Faktoren, die den Sehverlust bei Menschen mit LHON-Mutationen begünstigen können [1, 2]. Daher ist es wichtig, Patienten, bei denen das Risiko der Entwicklung einer phänotypischen LHON aufgrund der pathogenen Mutation(en) besteht, zur Aufgabe des Rauchens und zur Einschränkung des Alkoholkonsums zu raten. Schließlich spricht das Vorhandensein der Mutation m.13528A>G – die bereits früher mit LHON in Verbindung gebracht wurde – in Kombination mit dem Vorhandensein der beiden Risikofaktoren (d.h. Rauchen und Alkoholkonsum) für die Diagnose von LHON bei diesem Patienten.
Zusammenfassend beschreibt dieser Fallbericht einen Patienten mit LHON-Phänotyp, der Träger der m.13528A>G-Mutation ist, und liefert damit einen weiteren Beweis für die Pathogenität der m.13528A>G-Mutation bei LHON. Darüber hinaus erweitert dieser Fallbericht das klinische Bild der m.13528A>G-Mutation aufgrund der Unterschiede, die in unserem Fall im Vergleich zu den bisher publizierten Fällen beobachtet wurden.
Erklärung zu ethischen Richtlinien
Diese Forschung wurde unter ethischen Gesichtspunkten gemäß der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes durchgeführt. Für diese Studie ist keine ethische Genehmigung nach lokalen oder nationalen Richtlinien erforderlich. Der Patient hat schriftlich sein Einverständnis zur Veröffentlichung der Einzelheiten seines medizinischen Falles und der zugehörigen Bilder gegeben.
Disclosure Statement
Die Autoren haben keine Interessenkonflikte zu melden.
Finanzierungsquellen
Für diese Studie wurden keine Mittel bereitgestellt.
Beiträge der Autoren
Bhadra U. Pandya, Amir R. Vosoughi, Aaditeya Jhaveri und Jonathan A. Micieli: Konzept und Design, Datensammlung, Datenanalyse und -interpretation, Manuskripterstellung und endgültige Genehmigung des abgeschlossenen Manuskripts.
Erklärung zur Datenverfügbarkeit
Alle verfügbaren Daten sind in diesem Artikel enthalten. Weitere Anfragen können an den Korrespondenzautor gerichtet werden.
Lizenzangabe
Pandya BU, Vosoughi AR, Jhaveri A, Micieli JA: A rare ND5 mutation causing Leber’s hereditary optic neuropathy. Case Rep Ophthalmol 2023;14:99–103 (DOI: 10.1159/000529423) © 2023 Der/die Autor(en). Herausgegeben von S. Karger AG, Basel, www.karger.com/cro. Dieser Artikel ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Noncommercial 4.0 International License (CC BY) (http://www.karger.com/Services/OpenAccessLicense). Die Nutzung und Verbreitung zu kommerziellen Zwecken bedarf der schriftlichen Genehmigung.