Abstract
Die Ausbildung des vorderen Segments des Auges ist ein komplizierter Prozess, der zu einem großen Teil von der normalen Entwicklung der Linse abhängt. Trotz intensiver Forschung zur Rolle gut beschriebener Augengene sind viele Ursachen für Anomalien der Linse und des vorderen Segments noch ungeklärt. Die meisten bisher erkannten beteiligten Gene agieren autosomal-dominant. Autosomal-rezessive Ursachen sind weniger gut beschrieben; ihre Diagnose wird bisher erschwert durch technologische Begrenzungen, extreme genetische Heterogenität und mangelndes Wissen über die Biologie des Auges und die Rolle vieler Gene im Genom. Gute Chancen zur Entdeckung extrem seltener autosomal-rezessiver Ursachen für Augenanomalien bietet die Untersuchung blutsverwandter Familien, vor allem mit der leistungsstarken Kombination aus Next-Generation Sequencing und Autozygotie-Kartierung. Nachdem der limitierende Faktor der genetischen Heterogenität ansatzweise überwunden ist, wird zunehmend erkannt, dass es weiterhin eine Herausforderung ist, die genetischen Varianten zu interpretieren und neue Gene mit einem bestimmten Phänotyp in Verbindung zu bringen. Ein erweitertes Verständnis der genetischen und mutationsbezogenen Grundlagen für Anomalien der Linse und des vorderen Segments wird von hohem Wert für unser Verständnis von Augenerkrankungen sein. Ferner wird es uns besser in die Lage versetzen, mutmaßlich krankheitsverursachende Varianten zutreffend zu interpretieren, um so die Patientenversorgung stärker zu personalisieren und lebenslangen Sehverlust bei Kindern zu verhindern. Übersetzung aus Gillespie RL, Lloyd IC, Black GCM: The use of autozygosity mapping and next-generation sequencing in understanding anterior segment defects caused by an abnormal development of the lens. Hum Hered 2014;77:118-137 (DOI: 10.1159/000362599)
Experten-Kommentar
Transfer in die Praxis
In diesem Übersichtsartikel von Gillespie et al. werden die komplexen Interaktionen bei der Entwicklung insbesondere des vorderen Augensegments umfassend und anschaulich dargestellt. Die Autoren befassen sich seit vielen Jahren sehr erfolgreich mit der Genotypisierung von angeborenen und juvenilen isolierten und syndromalen Katarakten sowie isolierten und syndromalen Vorderabschnittsdysgenesien.
Ihre Arbeit ist das Ergebnis einer systematischen Erfassung und komplexer molekularer Untersuchungen von Patienten, die in der Humangenetik und Augenklinik der Universität Manchester, UK, betreut wurden, sowie von nationalen und internationalen Zuweisungen.
Der Artikel zeigt die Komplexität der genannten Erkrankungen und kann als Nachschlagewerk bei konkreten Fällen dienen.
Gillespie et al. stellen in beeindruckender Weise dar, dass ihre und die Arbeiten anderer Wissenschaftler gemeinsam mit Klinikern in den letzten 20 Jahren durch den Einsatz sich in dieser Zeit wandelnder genetischer Methoden und insbesondere seit der Einführung des Next-Generation Sequencing (NGS) in vielen Fällen zu einer bereits weit fortgeschrittenen Entschlüsselung geführt haben. NGS hat gegenüber früheren Methoden wie Sanger Sequencing einen enormen Kostenvorteil, sodass die molekulare Diagnostik für immer mehr Patienten eingesetzt werden kann.
Warum ist es interessant, den Genotyp zu kennen?
Durch die Aufdeckung von Mutationen in definierten Genen bei der sehr heterogenen Gruppe der Katarakte und bei Vorderabschnittsdysgenesien gelingt es, die sehr komplexen Vorgänge bei der Entwicklung des Auges im Allgemeinen und speziell der Linse und des vorderen Augensegments zu entschlüsseln. Gerade auch seltene Formen können hier hochinteressante Informationen liefern, sodass es auch heute noch wichtig ist, möglichst viele Fälle einer molekulargenetischen Untersuchung zuzuführen.
Warum ist die Genotypisierung klinisch wichtig?
Klinisch gibt es mindestens 3 Gründe:
(1) Die korrekte Zuordnung zu einem bestimmten Erbgang und damit zu einem klar formulierbaren Wiederholungsrisiko ist insbesondere bei Einzelfällen in der Regel nur molekulargenetisch möglich.
(2) Die präzise molekulargenetische Diagnose kann - auch bei isolierten Formen - konkrete Hinweise auf die Prognose der Erkrankung geben.
(3) Syndromale Formen zeigen nicht immer alle Manifestationen bereits bei der Geburt. Bei einigen Formen können präventive diätetische oder medikamentöse Maßnahmen den Erkrankungsverlauf maßgeblich positiv beeinflussen. Das bekannteste Beispiel ist der Galaktokinasemangel, bei dem eine galaktosefreie Diät das Auftreten der Katarakt verhindern kann. Eine andere Sonderform ist die zerebrotendinöse Xanthomatose mit kindlicher oder juveniler Katarakt kombiniert mit Diarrhoe und ab dem 10. Lebensjahr Persönlichkeitsproblemen und Schwierigkeiten beim Gehen. Mit einer frühen medikamentösen Therapie lässt sich die Progression der Erkrankung stoppen.
Welche Probleme bestehen trotzdem?
NGS generiert enorme Datenmengen. Eine exzellente Bioinformatik ist daher essenziell. Ist diese gegeben, sollten eigentlich alle Probleme gelöst und die klinische Diagnose aufgrund des hohen Potenzials der Molekulargenetik zunehmend unwichtiger sein. Aber das ist falsch. Gerade weil mit NGS so viele Sequenzvarianten gefunden werden, kann insbesondere bei Einzelfällen die Kausalität der Funde nicht immer nachgewiesen werden. Hier ist es wichtig, dass die Kliniker nicht nur eine möglichst genaue Einordnung unter Berücksichtigung aller okulären und extraokulären Symptome treffen, sondern auch weiterhin möglichst viele neue Patienten in die Diagnostik einschließen. Letztendlich können unklare Sequenzänderungen in der DNA insbesondere dann als kausal zugeordnet werden, wenn sie bei mehreren Patienten gefunden werden.
Fazit
Bereits heute können viele Patienten mit Katarakt und Vorderabschnittsdysgenesie einem konkreten Genotyp zugeordnet werden. Je mehr Patienten identifiziert werden können, desto robuster werden Genotyp-Phänotyp-Korrelationen. Dies ermöglicht dann optimierte und personalisierte Prognoseaussagen. Die genaue Kenntnis der Pathogenese ist Grundvoraussetzung für kausale Therapien und präventive Maßnahmen.