Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Lungenfunktionsdiagnostik ist sowohl zur Diagnostik und Therapiebeurteilung bei Atemwegs- und Lungenkrankheiten essenziell als auch zur Differenzialdiagnostik bei Dyspnoe und Husten unverzichtbar. Wesentlich für die Interpretation von Lungenfunktionsparametern ist der Einsatz geeigneter Messverfahren, verlässlicher Normwerte sowie die Stadieneinteilung je nach Schweregrad der Einschränkung. 2022 veröffentlichte die europäische Fachgesellschaft für Pneumologie (European Respiratory Society, ERS) in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Fachgesellschaft (American Thoracic Society, ATS) eine Übersichtsarbeit, in welcher neue Interpretationen von routinemäßig durchgeführten Lungenfunktionstests vorgestellt wurden [1]. Mit diesem Update haben 17 nordamerikanische und 6 europäische Pneumologen mit 180 zitierten Literaturstellen die Empfehlungen von 2005 überarbeitet, um neue Standards zu etablieren. Die letzten deutschen Empfehlungen zur Spirometrie stammen noch aus dem Jahr 2015 [2] und wurden im März des vergangenen Jahres ebenfalls aktualisiert und um die Kapitel zur Bodyplethysmographie, Diffusionskapazitätsmessung, unspezifische Provokationsmessung, atemmuskuläre Funktionsdiagnostik und Oszillometrie ergänzt. Daran beteiligt waren die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Deutsche Atemwegsliga (DAL), die Deutsche Lungenstiftung (DLS) sowie die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) [3]. Die PDF-Dateien der Lang- als auch der Kurzfassung sind kostenlos verfügbar, nutzen Sie dazu gerne die beiden QR-Codes am Ende des Artikels!
Die Neuerungen der aktualisierten Empfehlung sind sicher nicht einfach im Praxisalltag zu implementieren, dennoch möchte ich die wichtigsten Änderungen kurz zusammenfassen: So wird z.B. die Schweregradeinteilung nicht mehr in Prozent des Sollwerts angegeben. Der Normbereich wird durch den unteren Grenzwert (lower limit of normal, LLN) bzw. durch den oberen Grenzwert (upper limit of normal, ULN) definiert, die Grenzen entsprechen der 5. bzw. 95. Perzentile. Das bedeutet, dass lediglich 5% der gesamten Bevölkerung einen Messwert unterhalb des LLN bzw. oberhalb des ULN aufweisen. Der Z-Score gibt an, um wie viele Standardabweichungen ein Messwert vom Sollmittelwert abweicht. So entspricht ein Z-Wert von 0 dem Sollmittelwert. Z = -4 bedeutet, dass der Messwert 4 Standardabweichungen unterhalb vom Sollmittelwert liegt. Der untere Grenzwert (LLN) entspricht einem Z-Score von -1,645 entsprechend der 5. Perzentile (siehe Abb. 1 der Kurzfassung der Empfehlungen). Zur Graduierung der Messwerteinschränkung wird die Verwendung des Z-Scores empfohlen, wobei die Einteilung 3-stufig ist (leicht < 1,645 bis -2,5; mittelschwer < -2,5 bis -4,0; schwer < -4,0). Die Angabe in Prozent des Sollwertes berücksichtigt nicht die altersbedingte Streuung. So liegt z.B. bei einem Messwert von 50% des Solls und nur geringer Streuung (z.B. junge Patienten) der Z-Score bei -4,5, bei großer Streuung (z.B. ältere Patienten) aber nur bei -2,5, also deutlich näher am Normbereich [4]. International wird die Z-Score-Graduierung empfohlen, auch weil sie mit der «all cause mortality» assoziiert und relativ konsistent mit dem Grad der Funktionseinschränkung verbunden ist [1].
In dieser Ausgabe des Kompass Pneumologie stellt eine römische Arbeitsgruppe um Josuel Ora et al. in ihrer Übersichtsarbeit vor, wie die komplizierte Lungenfunktionsbewertung in 3 Schritten möglich ist [4]. Dabei treten aber deutliche Unterschiede zu den oben beschriebenen neuen Empfehlungen von ERS/ATS auf. So erfolgt die Schweregradeinteilung ebenfalls nach dem Z-Score, jedoch bestehen hier 4 Stufen, wobei der geringere Schweregrad nach den aktualisierten internationalen Empfehlungen einem Normalbefund (Z-Score > -1,645) entspricht, alle 4 Stufen werden anders als bei der ERS/ATS-Empfehlung gewertet, was sicher nicht zum erhöhten Verständnis beiträgt. Weiterhin wird der Schweregrad unabhängig von der Erkrankung durch das forcierte exspiratorische Volumen in einer Sekunde (forced expiratoy volume in 1 second, FEV1) festgelegt, so dass z.B. im ersten Fallbeispiel statt eines moderaten Schweregrads nach ERS ein milderer Schweregrad nach dem FEV1 diagnostiziert wird. Dennoch handelt es sich um einen durchaus lesenswerten Artikel, der den Leser zur pathophysiologischen Betrachtung der Lungenfunktion führt.
Ein wichtiger Teil der Lungenfunktion ist die Messung der Atemmuskelfunktion (Übersicht in [3]). Sie ist bei einer Vielzahl von Erkrankungen eingeschränkt und führt zur Belastungsdyspnoe, was auch zur Symptomatik bei Patienten mit Post-COVID-Syndrom gehört. Binaya Regmi et al., aus der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Michael Dreher und PD Dr. Dr. Jens Spiesshoefer in Aachen, konnten mithilfe der zervikalen magnetischen Stimulation des Nervus phrenicus einen signifikant erniedrigten transdiaphragmalen Druck bei 50 Patienten mit seit über einem Jahr bestehendem Post-COVID-Syndrom nachweisen, wobei der erniedrigte Druck mit der Schwere der Belastungsdyspnoe assoziiert war [6]. Dies passt zu histologischen Befunden des Zwerchfells bei verstorbenen Patienten mit COVID-19 [7]. In der Rubrik «Erfahrung aus der Praxis» können Sie die Studie von Dulce González-Islas et al. lesen [8], bei der bei 784 Post-COVID-Patienten der Muskelqualitätsindex (muscle quality index, MQI) über die Handgriffkraft (handgrip strength) und u.a. die maximale in- und exspiratorische Muskelkraft gemessen wurden. Drei Monate nach der Entlassung aus der stationären Behandlung (62% dieser Patienten wurden zeitweise beatmet) bestanden noch bei 40% der Patienten Erschöpfungssymptome und bei 13,5% eine Belastungsdyspnoe. Bei Patienten mit geringem MQI waren auch die atem- und atemmuskelmechanischen Parameter geringer. Eine signifikante Assoziation zu den Beschwerden wie Fatigue und Dyspnoe wurde nicht beschrieben. Eine schwerwiegende Einschränkung der Zwerchfellkraft lässt sich aus den Befunden nicht ableiten.
Die in diesem Heft beschriebenen Beispiele zeigen einerseits, dass die Interpretation von routinemäßig durchgeführten Lungenfunktionswerten einer klaren Standardisierung bedarf, andererseits aber auch, dass bei bestimmten Fragestellungen (wie z.B. nach der Zwerchfellfunktion bei COVID) sehr spezielle Methoden notwendig sind, die nicht routinemäßig vorgehalten werden können.
Eine informative Lektüre wünscht Ihnen
Prof. Dr. Carl-Peter Criée
Laden Sie hier die aktuellen Empfehlungen zur Lungenfunktionsdiagnostik herunter:
Kurzfassung
Langfassung