Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserinnen und Leser,
denken Sie, wenn bei guter Adhärenz die Therapie nicht greift, auch immer an die Möglichkeit einer seltenen Lungenerkrankung?
In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10 000 Menschen von ihr betroffen sind. Da es mehr als 8000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen (SE) gibt und jährlich etwa 250 neue Erkrankungen hinzukommen, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankung hoch. Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa 4 Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung, in der gesamten EU geht man von etwa 30 Millionen Betroffenen aus.
Die Lunge betreffen 5% der seltenen Erkrankungen, wobei primär die Bronchien, die Alveolen, das Bindegewebe oder die Gefäße betroffen sein können. Man unterscheidet derzeit über 100 verschiedene seltene Lungenerkrankungen, etwa 200 000 Menschen in Deutschland sind betroffen. In Ihrer Praxis oder Klinik ist die Inzidenz natürlich deutlich höher, da die Symptomatik häufig nicht spezifisch ist. Die Möglichkeiten zur Diagnosestellung haben sich innerhalb der letzten Jahre erheblich verbessert. Insbesondere Fortschritte im Bereich der genetischen Diagnostik ermöglichen eine schnellere Diagnose und Differenzierung. Das Neugeborenenscreening und Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern stellen weitere wichtige Maßnahmen dar, um Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen, eine vorliegende selten Erkrankung zu diagnostizieren und eine Therapie einzuleiten – idealerweise vor dem Einsetzen schwerwiegender Symptome.
Gut belegt ist dieser Zusammenhang für Mukoviszidose, die häufigste seltene Erkrankung (Inzidenz 1:3300 bis 1:4800), die in über 90% mit einer schweren Lungenbeteiligung einhergeht. Insbesondere durch das seit 2016 eingeführte Neugeborenenscreening wird eine Therapie schon im Neugeborenenalter möglich, wobei die Sensitivität bei 96% liegt – 4% der Erkrankten werden also nicht erfasst. Ziel eines möglichst frühen Therapiebeginns ist es, die durch eine chronische Inflammation und Infektion entstehende Bildung von Bronchiektasen zu verhindern. Hierfür sind schon vor 40 Jahren mukolytische Inhalationstherapeutika entwickelt worden. Vor 20 Jahren wurden die ersten inhalativen Antibiotika für Mukoviszidose zugelassen, die heute größtenteils auch in Pulverform zur Verfügung stehen. Lesen Sie hierzu den erkenntnisreichen Übersichtsartikel «Trockenpulverinhalation über die Lunge bei Mukoviszidose» von Xioxuan Han und Mitarbeitenden in dieser Ausgabe.
Mukoviszidose war auch die erste seltene Erkrankung, bei der europaweit die Daten von zurzeit 54 000 Erkrankten in einem Register erfasst wurden, dem European Cystic Fibrosis Society Patient Registry. Das Register und ein europaweites Netzwerk für klinische Studien konnte die European Cystic Fibrosis Society (ECFS) in enger Zusammenarbeit mit dem nordamerikanischen Netzwerk der Cystic Fibrosis Foundation (CFF), der Grundlagenforschung und der forschenden Arzneimittelindustrie in den letzten 12 Jahren hoch wirksame mutationsspezifische Medikamente entwickeln. Schon heute können 85% aller Erkrankten aufgrund ihrer Mutationen von dieser Therapie profitieren.
Durch die Betreuung in spezialisierten Behandlungszentren mit einem multidisziplinären Therapieansatz und durch die konsequente mukolytische, antibiotische und mutationsspezifische Therapie ist die Lebenserwartung eines Neugeborenen mit Mukoviszidose auf 57 Jahre gestiegen und mehr als 59% der Erkrankten haben heute das Erwachsenenalter erreicht.
Mukoviszidose kann als Vorreitererkrankung für alle seltenen Lungenerkrankungen angesehen werden: Eine möglichst frühe Diagnosestellung und Therapie helfen irreversiblen Folgeschäden vorzubeugen. Die chronischen Inflammation und Infektion in den Atemwegen kann durch eine gezielte antiinflammatorischen und antibiotische Inhalationstherapie erfolgreich unterdrückt werden. Bei keiner anderen seltenen Erkrankung sind die Fortschritte, die durch die Entwicklung neuer molekularer Therapien erreicht worden sind, so sichtbar, wie bei Mukoviszidose. Selbst Bronchiektasen sind durch eine Modulatortherapie rückläufig, wie Peter G. Middleton und Nicholas J. Simmonds an 3 Fällen zeigen konnten – Sie finden diesen Beitrag in der Rubrik «Erfahrung aus der Praxis».
Insbesondere dann, wenn bei guter Adhärenz die Therapie nicht greift, sollten Sie immer auch an das Vorliegen einer seltenen Lungenerkrankung denken und eine entsprechende weiterführende Diagnostik z.B. über ein «Zentrum für seltene Lungenerkrankungen» in die Wege leiten.
Eine spannende Lektüre und viel Freude beim Lesen dieser Ausgabe des Kompass Pneumologie wünscht Ihnen
Ihr
Priv.-Doz. Dr. Ernst Rietschel