«Sie haben eine bestimmte Form von Lymphdrüsenkrebs - eine, im Vergleich zu vielen möglichen, sehr viel problematischeren Diagnosen, durchaus bessere Variante.» Diesen Satz haben Sie womöglich schon in das ein oder andere Diagnosegespräch bei Patienten mit Lymphomdiagnose eingeflochten. Es hilft uns, wenn wir in der schwierigen Gesprächssituation mit verunsicherten und mit großer Angst beladenen Patienten konkrete Hoffnungsbotschaften mitteilen können: «Erfolgsgeschichte der Chemotherapie und Therapie im Umbruch» (Morbus Hodgkin), «realistische Chance der Heilung» (Diffus großzelliges Lymphom), «langfristige Krankheitskontrolle» (Follikuläres Lymphom, chronische lymphatische Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL)), «wachsende Zahl neuer therapeutischer Möglichkeiten», «Perspektive der Chemotherapie-freien Behandlung», «Nutzung des körpereigenen Immunsystems» usw.
Die Therapie ist in der Tat in Umbruch - die Innovationen in der Lymphomtherapie sind euphorisierend. Auf der anderen Seite könnten Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen, nach den Kongressen der letzten Jahre, der Welle neuer Zulassungen und der dadurch neu aufgeworfenen Fragen für sich persönlich in einer Situation sein, in der Sie als praktizierende(r) Onkologe(in) durch die rasch veränderten Behandlungspfade so etwas wie Innovationsüberforderung wahrnehmen:
Erhaltungstherapie beim follikulären Lymphom oder doch nicht? [1,2] Ist Chemotherapie bei chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) noch en vogue [3]? Muss ein Bulk eines aggressiven B-Zell Non-Hodgkin-Lymphoms (B-NHL) nach Immunchemotherapie noch nachbestrahlt werden? Was bedeutet metabolische Restaktivität im Abschluss-PET? Re-Biopsie? Wie verhält es sich nun eigentlich mit der Erstlinientherapie primär mediastinaler B-Zell-Lymphome (PMBCL) [4], der Risikostratifizierung bei Bcl-2/c-Myc/Bcl-6 (double/triple-hit) überexprimierenden diffus großzelligen B-Zell-Lymphomen (DLBCL) oder DLBCL gemäß Cell-of-origin(COO)-Klassifikation [5,6]? Wie ist das Vorgehen bei ZNS-High-risk-Situation [7]? Sollte mein Patient im Rahmen eines Studienprotokolls behandelt werden? Dazu kommt, dass häufig Ergebnisse von Phase-II-Studien zu unkritisch einen Hype erzeugen, der überhöhte Hoffnung weckt. Erwartungsmanagement gehört hier auch zu unseren Aufgaben.
Das Jahr 2017 hat Bewegung in die wissenschaftlich getriebene Therapieoptimierung maligner Lymphome gebracht, daher freue ich mich über den Themenschwerpunkt «Lymphome» in dieser ersten Ausgabe 2018 des Karger Kompass Onkologie. Doch was hat sich genau getan?
Die WHO-Klassifikation 2016
Bereits 2016 wurde die Revision der aus 2008 stammenden WHO-Klassifikation der Lymphome publiziert [8.] Die Relevanz im Alltag des Onkologen liegt nicht bei jeder neu formulierten Entität auf der Hand, jedoch gilt es, Patienten-relevante Neuerungen nicht nur für Therapieentscheidungen, sondern auch für diagnostische Überlegungen zu reflektieren [9]. Beispielhaft seien die wichtigen Differentialdiagosen B-CLL, Monoklonale B-Lymphozytose (MBL) mit Low-count- (MBL-LC) oder High-count-Lymphozytose (MBL-HC) erwähnt. Ein Patient mit MBL-LC bedarf z.B. keiner weiteren hämatologischen Überwachung, definitiv sollte er nicht mit der Diagnose «Leukämie» konfrontiert werden. Häufig inzidentell gestellte Diagnosen indolenter Lymphome bedürfen unsererseits umsichtiger Aufklärung, da sie biologisch keinem manifesten «Lymphdrüsenkrebs» entsprechen, wie z.B. in situ follikuläre Neoplasien (ISFN), der duodenale Typ eines follikulären Lymphoms ohne Nodalbefall, in situ Mantelzell-Neoplasien (ISMN) oder indolente T-Zell-Proliferationen wie die indolente T-Zell-Lymphoproliferation des Gastrointestinaltraktes oder das primäre kutane CD8+ T-Zell-Lymphom der Akren.
Chemotherapie-freie Therapieansätze
Zunächst einmal scheint diese Aussage eine klare Hoffnungsbotschaft zu sein: «Wir können auf Chemotherapie komplett verzichten». Die negative Konnotation von «Chemotherapie» ist weit verbreitet: Sekundärneoplasien, Infektionen, Alopezie, Fatigue oder hämatologische Toxizität sind unspezifische Nebenwirkungen, die auch wir nur zu gern überwinden würden. Ist die Zeit reif, beispielweise bei der B-CLL die Chemotherapie bereits in der Erstlinie ad acta zu legen und alle Patienten mit Ibrutinib zu behandeln [3]? Die Frage ist prospektiv beantwortet für Höchstrisikopatienten mit mutiertem TP53 bzw. Deletion17p - hier ist die Chemotherapie klar unterlegen. Daten zu weiteren Risikofaktoren, wie der Mutationsgrad der Immunglobulinschwerkette (IGVH-Status) gehen in die gleiche Richtung, hier ist die prospektive Absicherung aber noch abzuwarten. Individuelle Faktoren wie Therapiedauer, Komorbiditäten (Antikoagulation?), Verträglichkeit einer oralen Dauertherapie und die Frage nach Effektivität bezüglich minimaler Resterkrankung (MRD) sowie der optimalen Kombinationspartner werden gegenwärtig herausgearbeitet. Mit der kürzlich bei der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) vorgestellten MURANO-Studie (R-Venetoclax vs. R-Bendamustin) wurde ein in Bezug auf Chlorambucil interessanter Chemotherapie-Arm in einer Phase-III-Studie mit einer Chemotherapie-freien Behandlung verglichen [10]. Das mediane progressionsfreie Überleben (PFS) von 6 × R-Bendamustin lag bei 18,1 Monaten, für R-Venetoclax ist es noch nicht erreicht (HR 0,19; p < 0,0001). Der Vorteil von R-Venetoclax betraf alle bekannten Risikovariablen, unabhängig von Del17p oder einer TP53-Mutation. MRD(minimale residuelle Resterkrankung)-Negativität konnte mit R-Venetoclax bei circa 60% der Patienten erreicht werden, R-Bendamustin schaffte das bei nur circa 10%. Der Effekt hielt bis über 18 Monate an. Auch bezüglich des Gesamtüberlebens zeigte sich bereits ein statistisch signifikanter und klinisch relevanter Vorteil für R-Venetoclax mit einem 2-Jahresüberleben von 91,9% vs. 86,6% (HR 0,48; p = 0,0186). Diese randomisierten Phase-III-Daten zeigen: Die zielgerichtete Therapie wird kurzfristig die bisherigen Aufgaben der Immunchemotherapie bei der CLL übernehmen, dennoch brauchen wir Strategien, welche Konsequenzen wir aus Therapieversagen, Unverträglichkeit und selbstverständlich der Kostenfrage (Therapiebegrenzung, MRD-gesteuert?) ziehen.
Follikuläres B-NHL
Ein relativ großer Aufreger des vergangenen Jahres war die Vollpublikation der GALLIUM-Studie, der Zulassungsstudie der Obinutuzumab-Chemotherapie (O-ChTx) bei follikulären Lymphom [2]. Für uns in Deutschland überraschend: Insbesondere in mit Bendamustin behandelten Patienten war die Progressions-unabhängige Sterberate, bedingt durch Infektionen, zu hoch (4,4-5,6%). Die im Vergleich zur Rituximab-Chemotherapie insgesamt dennoch verbesserte Wirksamkeit von O-ChTx mit einer Verlängerung des 3-Jahres-PFS von 80% vs. 73% führte zur Zulassung, was uns den Auftrag gibt, eine sorgfältige Aufklärung, Überwachung und Prophylaxe gegenüber verzögert auftretender Infektionen sicherzustellen. Dieser Therapiefortschritt zeigt wieder: Nicht für alle ist das statistisch abgesichert Beste im Einzelfall wirklich das Beste, hier sind wir als Lotsen und Experten der ärztlichen Heilkunst außerhalb kontrollierter Studien gefragt, verantwortungsvolle Ratgeber zu sein.
Spannend ist auch, was wir von der Chemotherapie-freien Kombination R2 (Rituximab/Lenalidomid) beim Therapie-naiven follikulären Lymphom erwarten können. Eine monozentrische Pilotstudie hat sensationelle Ansprechdaten erbracht [11], prospektiv-randomisierte Daten dürfen wir im laufenden Jahr erwarten [12]. Eine aktuelle Presseerklärung der Firma Celgene vom 21.12.2017 hat die Erwartungen allerdings insofern etwas gedämpft, dass die Complete-remission(CR)-Rate im Vergleich zu Immun-Chemotherapie nicht verbessert und in der Interim-Analyse auch kein PFS-Vorteil zu erkennen war [13.] Die Endauswertung steht jedoch noch aus.
Aggressives Lymphom
Erwartungen gedämpft haben 2017 auch die Daten der GOYA-Studie, in der der optimierte CD20-Antikörper Obinutuzumab in Kombination mit CHOP gegen R-CHOP geprüft wurde [14]. Hier zeigte sich keine Verbesserung im 3-Jahres-PFS. R-CHOP ist und bleibt Standard. In der Rezidivsituation konnte das internationale SCHOLAR-1-Konsortium nochmals eindrücklich unterstreichen, wie problematisch die Prognose von DLBCL-Patienten mit refraktärer/rezidivierter Erkrankung ist: Nach zwei Jahren lebten aus einer Studienkohorte von 636 Patienten noch 20%, die Gesamtansprechrate lag bei 26%, das mediane Gesamtüberleben bei 6,3 Monaten. Für diese Patienten gibt es jetzt Hoffnung durch genmanipulierte, autologe T-Zellen (chimäre Antigenrezeptor T-Zellen; CAR T cells) [15,16]. Die aufwendige Logistik der autologen Zellgewinnung, der überbrückenden Chemotherapie, der GMP-konformen Herstellung des Zellproduktes in zentraler Herstellungseinheit, der Konditionierungschemotherapie, der Zellinfusion und des Managements der potentiellen Nebenwirkungen konnten multizentrisch sichergestellt werden. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll: CR-Raten bis 58%, dauerhaftes Ansprechen bis 40%, wobei die Beobachtungszeit noch kurz ist. Wir erwarten die Zulassung in Europa für 2018. Wieder gilt es, ausgewogenes Erwartungsmanagement zwischen «Hype & Hope» zu leisten: In Phase-II-Studien wurden bisher ausgewählte Patienten behandelt, die Selektion bis zum Erreichen der Zellinfusion erfolgt durch die Krankheitsdynamik und entsprechende Organfunktion; Nebenwirkungen wie Neurotoxizität, Infektionen und Infusionsreaktionen müssen beherrscht werden, noch ist diese Therapie nicht in der Breitenversorgung angekommen und die Kosten sind hoch.
Immuntherapie
Zunächst fühlten wir uns als Hämatologen fast von der Erfolgswelle der Immuntherapie in der Therapie solider Tumoren überrollt. Nun haben wir mit dem Morbus Hodgkin eine Erkrankung, die aufgrund der Krankheitsimmanenten PD-L1/2-Regulation ein Musterkind für Prädiktion bei bekanntem Biomarker ist: Durch chromosomale Alterationen der Region 9p24.1 findet sich in nahezu allen Hodgkin-Patienten das Zielmolekül für die Checkpoint-Inhibitoren Nivolumab und Pembrolizumab, welche wir für Patienten nach Versagen von Brentuximab-Vedotin oder nach Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation zu Verfügung haben [17,18,19]. Auch hier ist das Ansprechen vor dem Hintergrund der Vortherapien eindrucksvoll: Gesamtansprechraten von > 60% und Patienten, die bei Ansprechen eine dauerhafte Krankheitskontrolle zeigen. Die Immuntherapie wird bereits im Rahmen klinischer Studien in die Erstlinientherapie integriert [20]. Dieser Ansatz könnte auch für Patienten mit weiteren Lymphomentitäten von Nutzen sein, wobei man hier sehr genau auf die einzelnen Entitäten schauen muss. Vielversprechende Wirksamkeitsdaten aus Kasuistiken gibt es für das PMBCL, die Richter-Transformation bei B-CLL oder bei primären ZNS-Lymphomen.
Hier setzt die Übersichtsarbeit von Prof. Georg Heß in dieser Ausgabe des Karger Kompass Onkologie an [21], in welcher Sie einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Wissens zur Immuntherapie bei Lymphomen erhalten: Für das notwendige Erwartungsmanagement unserer Patienten ist es gut, diese exzellente Zusammenfassung für die heterogene Patientenpopulation an die Hand zu bekommen.
Einen Fallbericht zur Thematik der Lymphomnachsorge liefern uns die Schweizer Kollegen um Ann-Kathrin Seidel [22]: Insbesondere für intensiv vorbehandelte Patienten müssen wir Spättoxizitäten und Sekundärneoplasien in den Blick nehmen und die Patienten auffordern, die Langzeitnachsorge nicht zu vernachlässigen. Dass wir dann auch mal Überraschungen diagnostizieren, illustriert der vorgelegte Fallbericht.
Bevor ich Sie der Lektüre überlasse, noch eine sehr erfreuliche Nachricht aus 2017: Auf Initiative der Lymphomstudiengruppen Deutsche Studiengruppe Hochmaligne Non-Hodgkin Lymphome (DSHNHL), Deutsche Studiengruppe für Niedrigmaligne Lymphome (GLSG), Ostdeutsche Studiengruppe für Hämatologie und Onkologie (OSHO) und des Early Trials Network (ETN) wurde im März in Frankfurt die German Lymphoma Alliance (GLA) e.V. gegründet. In dieser Allianz werden wir zukünftig die akademischen Studienaktivitäten in den verschiedenen NHL-Subtypen bündeln. Zusätzlich steht mit dem GLA-Sekretär N. Schmitz ein zentraler Ansprechpartner für Firmen-gesponserte Lymphomstudien zur Verfügung. Innerhalb von 14 Tagen erhalten die anfragenden Firmen Rückmeldung und optional geeignete Studienzentren zur Auswahl. Auf diesem Weg hoffen wir, die klinische Forschung in Deutschland wesentlich zu stärken. Anfragen können Sie an das Sekretariat in Münster richten ([email protected], Tel.: 0251/8344830).
Es bewegt sich was bei den Lymphomen - ich wünsche Ihnen eine angeregte Lektüre!
Prof. Dr. Paul Graf La Rosée