der praktizierende Arzt sieht sich heutzutage mit einem völlig anderen Rollenbild als noch vor 100 Jahren konfrontiert. Genoss er früher neben einem hohen Ansehen eine uneingeschränkte therapeutische Freiheit, und wurde sein Handeln vorbehaltlos akzeptiert, so hat er es heutzutage mit einer Vielzahl von Verpflichtungen und Beschränkungen zu tun. Ökonomische Zwänge sind spätestens seit der Einführung der «Diagnosis Related Groups» in der Krankenhausmedizin und der Budgetierung der ambulanten ärztlichen Versorgung allgegenwärtig. Zudem muss sich der Arzt von heute mit dem «neuen» Patienten, der stets über seine Erkrankung genau informiert und in die Entscheidung einbezogen sein will, auseinandersetzen. Dieser fordert von seinem Arzt zu Recht die nach dem aktuellsten Wissensstand optimale Behandlung.

In den letzten Jahrzehnten wurden vor allem auch für onkologische Erkrankungen zahlreiche Behandlungsleitlinien entwickelt und aktualisiert, um den praktisch tätigen Arzt auf dem neuesten Stand zu halten und ihm die tägliche Praxis zu erleichtern. Diese Form des Wissenstransfers ist unerlässlich, da es kaum einem Arzt möglich sein dürfte, über alle relevanten Studienergebnisse und andere wissenschaftliche Erkenntnisse seines Fachgebiets umfassend informiert zu sein. Jeder, der schon häufiger Leitlinien zurate gezogen hat, weiß, dass ihre Anwendbarkeit auf den individuellen Patienten manchmal sehr begrenzt ist. Immer noch sind beispielsweise Alter und Komorbidität in zahlreichen Leitlinien als mögliche kritische Faktoren einer Therapieentscheidung unterrepräsentiert. Hier ist sie also doch gefragt - die individuelle Behandlungsfreiheit, die allerdings ein hohes Maß an Erfahrung und Berufsethos seitens des Arztes erfordert. Sie beginnt dort, wo ein Patient nicht mehr in ein festes Leitlinienschema passt und vereinheitlichte Handlungsempfehlungen nicht von Nutzen sind.

Das von der Deutschen Hodentumor-Studiengruppe im Jahr 2006 gegründete und von der Deutschen Krebshilfe geförderte «Zweitmeinungsprojekt testikuläre Keimzelltumoren» ist ein neuartiges und vielversprechendes Konzept, mit dem die Spannung zwischen den Leitlinienstandards auf der einen und individualisierter, patientenorientierter Medizin auf der anderen Seite abgemildert werden soll. Ein durch dieses Projekt bereitgestelltes Netzwerk ermöglicht dem primär behandelnden Arzt die rasche und unkomplizierte Einholung einer Zweitmeinung an einem Expertenzentrum über eine frei zugängliche Internetplattform [1]. Weiterhin ermöglicht es eine Synthese von leitlinienbasierter und patientenorientierter Medizin in Form einer maßgeschneiderten, individualisierten Zweitmeinungsempfehlung. Bei den mittlerweile mehr als 3000 Antworten auf Zweitmeinungsanfragen zeigte sich eine erstaunlich hohe Diskrepanz zu den initialen Therapieplanungen von etwa 30%, was die Bedeutung und die Notwendigkeit von Zweitmeinungsangeboten offenbart. Auch das in dieser KARGER KOMPASS ONKOLOGIE-Ausgabe ins Deutsche übersetzte Fallbeispiel von ter Avest et al. eines zunächst fehlgedeuteten Zweittumors unterstreicht eindrucksvoll den potenziellen Nutzen von Zweitmeinungen (siehe S. 102).

Die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe von KARGER KOMPASS ONKOLOGIE haben eine äußerst interessante Auswahl an im Laufe des vergangenen Jahres erschienenen Übersichts- und Originalarbeiten sowie Fallbeispielen für Sie zusammengestellt. Der Schwerpunkt wurde dabei auf urologische Tumorerkrankungen gesetzt, die mit zwei Übersichtsarbeiten zum unifokalen Prostatakarzinom sowie zum metastasierten Nierenzellkarzinom den Auftakt bilden (deutsche Übersetzung siehe S. 60 und 66). Der erste Expertenkommentar betrifft ebenfalls eine Originalarbeit aus der Uro-Onkologie und berichtet über den Erfolg einer mTOR-Wiederholungstherapie bei Patienten mit fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom nach Progress unter einer mTOR-Vortherapie (siehe S. 76). Als besonderes Konzept unter der Maßgabe eines optimalen «Wissenstransfers» stellen Ihnen die Herausgeber nämlich renommierte Experten für die jeweiligen Fachgebiete zur Seite. Diese interpretieren und kommentieren für Sie aktuelle Studien und erleichtern Ihnen so die Umsetzung neuer Erkenntnisse in der klinischen Praxis. Der allgemeine Trend weg von der fokussierten Betrachtung von Progressions- und Überlebensdaten, hin zur Beachtung von therapieassoziierten Nebenwirkungen und Aspekten der Lebensqualität von Krebspatienten spiegelt sich in diesem KARGER KOMPASS ONKOLOGIE. So befassen sich gleich zwei der kommentierten Arbeiten mit den Akut- und Langzeitfolgen einer Krebstherapie, hier im Speziellen mit der Kardiotoxizität (Watanabe et al. und Wieshammer et al.; siehe S. 84 und 90). Gerade bei Erkrankungen, die erfreulicherweise eine hohe Heilungsrate aufweisen, rückt dieser Aspekt besonders in den Vordergrund. Bei Hodentumor-Patienten etwa, die vor Jahrzehnten im Rahmen ihrer Krebstherapie bestrahlt worden waren, konnte in der Studie von Hallemeier et al. [2] eine deutlich erhöhte Rate an Sekundärmalignomen nachgewiesen werden (absolutes Risiko für die Entwicklung eines Magenkarzinoms innerhalb von 30 Jahren: 16%). Infolge dieser Publikation war sowohl in den USA als auch in europäischen Ländern ein deutlicher Rückgang der adjuvanten Bestrahlung bei Seminom-Patienten im Stadium I zu verzeichnen (vgl. das oben vorgestellte Zweitmeinungsprojekt zu Hodentumoren: 2008: 13%; 2013: 3% der Patienten). Das «Zweitmeinungsprojekt Hodentumoren» führte insgesamt zur Vermeidung einer Übertherapie (Bestrahlung oder Chemotherapie in 12,5% aller im Zweitmeinungsprojekt vorgestellten Fälle).

Die integrative Onkologie misst der Lebensqualität von Menschen mit einer Krebserkrankung besondere Bedeutung bei. Sie soll die jeweiligen Stärken der Schulmedizin und naturheilkundlicher oder komplementärmedizinischer Ansätze beim Kampf gegen die Erkrankung verbinden. Schad et al. geben in ihrer Arbeit erstmals einen umfassenden Überblick über die Inanspruchnahme anthroposophisch-komplementärmedizinischer Behandlungsangebote in Deutschland (siehe S. 92).

Die Patientenpräferenz hat sich in den letzten Jahren immer mehr als zentrales Entscheidungskriterium bei der Wahl einer Krebstherapie herauskristallisiert. Ein gutes Beispiel hierfür sind Hodentumoren im Stadium I. Bekanntermaßen gibt es im Hinblick auf die Frage nach einer adjuvanten Therapie große Bemühungen, ein auf klinischen und pathohistologischen Parametern beruhendes, für alle Patienten gültiges, risikoadaptiertes Vorgehen zu etablieren. Letztlich sollte die Entscheidung jedoch stets beim Patienten liegen, der je nach Risikobereitschaft und Lebenssituation entscheiden kann. Ein weiteres Beispiel für die Berücksichtigung der Patientenpräferenz in der heutigen Onkologie ist die PREFERE-Studie [3]. Sie ermöglicht Patienten mit neu diagnostiziertem lokalisiertem Prostatakarzinom, zwischen zwei, drei oder gar allen vier der in dieser Situation möglichen Vorgehensweisen (aktive Überwachung, Prostatektomie, externe Bestrahlung und Brachytherapie) zu wählen und sich anschließend in einen dieser Behandlungsarme randomisieren zu lassen. Das Ziel der Studie ist die Bewertung der Effektivität und therapieassoziierten Nebenwirkungen der vier Therapiestrategien im direkten Vergleich. Leider verläuft die Patientenrekrutierung der Studie noch ziemlich schleppend, was im für viele Patienten ungewöhnlichen Konzept der Wahl zwischen deutlich divergierenden Alternativen begründet sein mag; sie zeigt jedoch den steigenden Stellenwert des individuellen Patientenwunsches in der heutigen onkologisch-klinischen Praxis.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Vernetzung von Ärzten untereinander - wie im Fall des Zweitmeinungsprojekts - einen unschätzbaren Mehrwert bildet. Daher möchte ich Sie ermutigen, sich nicht nur inhaltlich stets auf dem Laufenden zu halten, sondern auch die Chancen, die eine Vernetzung mit onkologisch tätigen Kollegen und Ressorts bietet, zum Wohle unserer Patienten zu ergreifen.

Ihr

((Unterschrift Mark Schrader))

1.
www.zm-hodentumor.de (letzter Abruf 28. August 2014).
2.
Hallemeier CL, Davis BJ, Pisansky TM, Choo R; Mayo Clinic: Late gastrointestinal (GI) complications in patients with stage I-II testicular seminoma treated with radiotherapy (RT). J Clin Oncol 2012;30(suppl):abstr 4595.
3.
www.prefere.de (letzter Abruf 28. August 2014).
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