Abstract
Hintergrund: Angestrebt wurde eine aktuelle Bestandsaufnahme der Prävalenz und der Behandlung der krebsassoziierten Anämie gemäß den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie ihrer Risikofaktoren. Patienten und Methoden: Dies war eine prospektive, internetbasierte, 2-tägige Querschnittserhebung zu Patienten mit nichtmyeloider maligner Erkrankung in Arztpraxen und Klinikambulanzen in Deutschland. Ergebnisse: 89 Zentren erhoben Daten von insgesamt 3867 Patienten, von denen 74% aktuell eine Krebstherapie erhielten. Das mediane Alter betrug 65 (19-99) Jahre, und fast zwei Drittel der Patienten waren Frauen; 68% hatten solide Tumoren (Brust 34%, Darm 17%, Lunge 8%), von denen 56% bereits metastasiert waren; 73% wiesen einen WHO Performance Score ≤ 1 auf. Die mittlere Hämoglobinkonzentration lag bei 12,0 ± 1,7 (4,3-17,8) g/dl; die Prävalenz von Werten darunter lag bei 49%. Bei 2 von 3 dieser Patienten wurde die Anämie nicht behandelt, alle übrigen hatten in den 4 vorausgegangenen Wochen Erythropoetin (12,6%), Eisen (8,1%), Transfusionen (7,5%) oder Kombinationen von diesen (8,0%) erhalten. Chemotherapie, weibliches Geschlecht, Alter und niedriger Performance-Status waren die wichtigsten mit der Anämie assoziierten Faktoren. Schlussfolgerungen: Die Prävalenz der unbehandelten Anämie und eines niedrigen Performance-Status unter Krebspatienten in Deutschland hat sich seit der europäischen Umfrage (European Cancer Anaemia Survey (ECAS)) im Jahr 2001 kaum verändert. Die Behandlungspraxis scheint nicht allein von Richtlinien bestimmt zu werden und vernachlässigt neuere Entwicklungen der Anämietherapie. Übersetzung aus Onkologie 2013;36:266-272 (DOI:10.1159/000350306)
Originalartikel: Treatment of Cancer-Associated Anaemia: Results from a Two-Day Cross-Sectional Survey in Germany
Hartmut Linka Stephan Schmitzb
aKlinik für Innere Medizin 1, Westpfalz-Klinikum, Kaiserslautern, bOnkologische Schwerpunktpraxis, Köln, Germany
Transfer in die Praxis
Studien zur Versorgungsforschung haben in den letzten 10 Jahren enorm an Bedeutung gewonnen: Sie sind die einzig verlässliche Methode, mit der messbar wird, inwieweit Forschungs- und Studienergebnisse sowie die daraus resultierenden Behandlungsempfehlungen und Leitlinien in die Regelversorgung übernommen werden. Zudem können sich aus guter Versorgungsforschung relevante Fragen für neue Therapiekonzepte und Studien ergeben.
Die Prävalenzstudie zur Therapie der tumorassoziierten Anämie in Deutschland erfasst die Daten von 3867 Krebspatienten, die an 2 Tagen im April 2008 eine der 89 teilnehmenden Praxen und Klinikambulanzen aufsuchten. 86% der Patienten (n = 3311) hatten einen soliden Tumor, der bei 56% bereits metastasiert war. Knapp die Hälfte aller Patienten (49,1%) hatten eine Anämie mit einem Hämoglobinwert (Hb) < 12 g/dl, und jeder 10. Patient (10,9%) hatte einen Hb < 10 g/dl. Weibliches Geschlecht, Alter > 65 Jahre, Karnofsky-Index < 80%, die Art der Tumorerkrankung und die Durchführung einer Chemotherapie waren signifikant häufiger mit einer Anämie korreliert. 36,4% der Patienten mit einem Hb < 12 g/dl und 59,3% mit einem Hb < 10 g/dl erhielten eine Therapie. Die drei Therapiemodalitäten Eisen (oral 11,6%, i.v. 3,6%), Erythropoese stimulierende Faktoren (ESF, 15,2%) und Transfusionen (15%) wurden gleich häufig angewendet. Bei einem Hb < 9 g/dl wurden am häufigsten Erythrozyten transfundiert.
Der Vergleich dieser Ergebnisse mit den Daten ähnlicher Studien, insbesondere dem Europäischen Cancer Anaemia Survey (ECAS) [1] ergibt viele Übereinstimmungen, aber auch einige bemerkenswerte Veränderungen. Bei nur geringen Unterschieden in der beobachteten Patientenpopulation hat die Prävalenz der milden Anämie von 39,3 auf 49,1% zugenommen, während die moderate Anämie unverändert blieb (ca. 10%). Die vorbeschriebenen Risikofaktoren für eine Anämie haben sich bestätigt und die Zahl der nicht behandelten Patienten etwas zugenommen (60 vs. 64%). Während die Frequenz der Transfusionen nahezu gleich geblieben ist, hat die ESF-Therapie etwas abgenommen (17,4 vs. 15,2%), was durch die Diskussion um die ESF-Arzneimittelsicherheit mit nachfolgender Label-Änderungen in den Jahren 2004-2008 erklärt werden kann.
Betrachtet man das weitgehend unveränderte Therapieverhalten der Onkologen im Zeitraum von 2001 (ECAS), über 2004-2005 (Cancer Anemia Registry; CAR), bis 2008, so drängen sich vor allem zwei Fragen auf:
1) Warum blieben 2008 noch mehr Tumorpatienten als schon 2001 ohne Behandlung ihrer Anämie, obwohl die Bedeutung der Anämie für Lebensqualität, Morbidität und Mortalität in vielen Studien gesichert werden konnte (Referenzen 1-11 der kommentierten Arbeit)?
2) Warum führen die publizierten Studien, Reviews und Leitlinien, die alle einen verstärkten Einsatz von i.v. Eisen in Kombination mit ESF zur Verbesserung der Lebensqualität und Vermeidung von Transfusionen fordern, nicht zu einem veränderten Therapieverhalten?
Deutschland ist eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Bluttransfusionen. Umso nachdenklicher stimmt es, wenn die ersten, noch vorläufigen Ergebnisse des Tumor-Anämie-Registers (TAR), das von 2012 bis 2013 Therapiedaten bei 1000 Patienten gesammelt hat, eine Zunahme der Transfusionsfrequenz von ca. 40% in 2004/2005 (CAR) auf nahezu 60% zeigen [2]. Dabei gilt es, Transfusionen zu vermeiden, indem bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt (Hb < 11 g/dl) eine Anämiediagnostik durchgeführt wird, mit dem Ziel eine kausale Therapie zu beginnen. Außerdem soll eine Transfusion erst bei einem Hb < 8 g/dl verabreicht werden, nachdem eine behandelbare Ursache ausgeschlossen worden ist [3]. Die Evidenz für einen frühen Einsatz von i.v. Eisen mit oder ohne gleichzeitige ESF-Gabe ist heute gegenüber den 2008 publizierten Studiendaten noch einmal größer geworden [4], was sich in den meisten Leitlinien bereits niedergeschlagen hat [5]. Beginnt eine ESF- und/oder Eisentherapie bei einem Hb von etwa 10 g/dl, ist die Chance groß, dass es unseren Patienten früher besser geht und niedrige, d.h. «transfusionspflichtige» Hb-Werte unter 8 g/dl vermieden werden können.