Abstract
Hintergrund: Die durch Zeckenbisse induzierte Bildung von Galactose-α-1,3-Galactose-(α-Gal-)IgE und der nachfolgende Verzehr von rotem Fleisch können verzögert schwere allergische Reaktionen auslösen, einschließlich Urtikaria, gastrointestinaler Beschwerden und Anaphylaxie. Wir prüften hier die Hypothese, dass eine erhöhte Konzentration von IgE gegen α-Gal infolge von Zeckenbissen und nachfolgender Verzehr von rotem Fleisch oder Fleischprodukten eine nicht oder nicht ausreichend erkannte Ursache für chronische spontane Urtikaria (csU) sein könnte. Methoden: Wir bestimmten die Konzentration von IgE gegen α-Gal und Gesamt-IgE (ImmunoCAP, Phadia AB/Thermo Fisher Scientific) bei 83 Patienten (61 weibliche und 22 männliche; Altersmedian 43 Jahre, Spannweite 18-82 Jahre) an der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie der Charité - Universitätsmedizin, Berlin. Bei allen bestand die klinische Diagnose einer mittel- bis hochgradigen csU; die Krankheitsdauer betrug im Median 2,9 Jahre (Spannweite 0,1-50). Ergebnisse: Bei 80 der 83 Patienten (96%) war kein IgE gegen α-Gal im Serum nachweisbar (< 0,1 kUA/l). Bei den anderen 3 Patienten war die Konzentration niedrig (0,25, 0,4 und 3,1 kUA/l). Bei keinem Patienten, auch nicht bei denjenigen mit IgE gegen α-Gal in nachweisbarer Serumkonzentration, war der Verzehr von rotem Fleisch mit dem Auftreten von Urtikaria-Symptomen assoziiert. Schlussfolgerung: Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine allergische Reaktion auf α-Gal als bisher unerkannte Ursache von csU äußerst unwahrscheinlich ist. Übersetzung aus Int Arch Allergy Immunol 2015;167:250-252 (DOI:10.1159/000440653)
Experten-Kommentar
Praktische Relevanz
Patienten mit spontaner Urtikaria, wie auch dermatologische Berufseinsteiger und Kollegen anderer Fachgruppen, vermuten häufig eine Nahrungsmittelallergie als Auslöser einer akuten oder chronisch spontanen Urtikaria (csU) und erwarten bei fehlendem spezifischem Hinweis eine umfängliche allergologische Abklärung, was aus dermatologischer Sicht nicht gerechtfertigt ist, da IgE-vermittelte Nahrungsmittelallergien nur sehr selten Ursache einer csU sind.
Neue Erkenntnisse
In ihrer Publikation untersuchen die Autoren erstmals, ob eine Allergie auf die Zuckerkette Galactose-α-1,3-Galactose (α-Gal) eine bisher übersehene Ursache für csU ist.
Die in der Regel durch Zeckenbiss induzierte IgE-vermittelte Reaktion auf diese Zuckerkette, die im Darm von Zecken vorkommt, wurde 2009 erstmals von Platts-Mills und Mitarbeitern [1]] beschrieben und ist zum Teil auch unter Dermatologen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht flächendeckend bekannt.
Bei α-Gal-allergischen Patienten tritt charakteristischerweise nach Verzehr von rotem Fleisch oder Innereien (z.B. «saure Nierchen»), welche ebenfalls diese spezielle Zuckerkette enthalten, eine um Stunden verzögerte allergische Reaktion (einschließlich Urtikaria, gastrointestinaler Symptome bis hin zum anaphylaktischen Schock) auf. Kreuzreaktionen treten auf Cetuximab und Gelatine vom Rind auf, da diese ebenfalls die Zuckerkette beinhalten.
Aufgrund des verzögerten Auftretens (Stunden nach Verzehr) wird oftmals kein anamnestischer Zusammenhang festgestellt.
Die Untersuchungen der Autoren klären mit negativem Ergebnis einen bisher nicht untersuchten Zusammenhang von α-Gal und csU. Bei 83 Patienten mit einer 0,1-50 Jahre (Median: 2,9 Jahre) bestehenden csU wurde das Vorliegen spezifischer IgE-Antikörper auf α-Gal untersucht: Bei 80 Patienten konnten keine α-Gal-spezifischen Antikörper im Serum nachgewiesen werden, bei 3 csU-Patienten (4%) waren Antikörper vorhanden, jedoch ohne klinische Relevanz. Die Häufigkeit (4%) stimmt mit publizierten nicht-allergischen Kollektiven überein.
Die vorliegende Arbeit schließt damit eine bis dato bestehende Kenntnislücke und bestätigt die bestehenden Leitlinien [2,3,4], die eine routinemäßige Allergietestung bei akuter oder chronischer Urtikaria nicht vorsehen.
Perspektiven für die Praxis
Da auch α-Gal keinen Auslöser einer csU darstellt, sind die in den entsprechenden Leitlinien [2,3,4] gegebenen Empfehlungen weiterhin gültig. Eine Typ-I-Allergie ist als Ursache der csU bei Patienten mit täglich oder fast täglich auftretenden Symptomen sehr selten, sollte aber bei Patienten mit intermittierenden Symptomen abgeklärt werden. Hingegen können nicht-allergische Hypersensitivitätsreaktionen auf Nahrungsmittel und Nahrungsmittelzusatzstoffe bei Patienten mit csU und persistierenden Beschwerden eine Rolle spielen. Diese nicht-allergischen Reaktionen auf Zusatzstoffe (sogenannte Pseudoallergene) sind nicht IgE-vermittelt. Sie können nicht mittels Pricktest identifiziert werden, da die Ergebnisse aufgrund fehlenden IgEs negativ sind.
Zur Überprüfung, ob eine nicht-allergische Hypersensitivitätsreaktion auf Nahrungsmittel und Nahrungsmittelzusatzstoffe vorliegt, ist eine 3-wöchige konsequente Karenzdiät - frei von Farbstoffen und Konservierungsmitteln - die notwendige und sinnvolle diagnostische Maßnahme.
Fazit
Das Ergebnis der Arbeit steht im Einklang mit den bestehenden Urtikaria-Leitlinien zu Diagnostik und Therapie: Nahrungsmittelallergien, weder auf α-Gal noch auf andere Nahrungsmittel, sind in der Regel nicht Ursache einer csU. Häufige Auslöser einer csU, die in der Abklärung der csU vorrangigen Stellenwert haben, sind Infekte, Autoreaktivität und nicht-allergische Intoleranzreaktionen auf Zusatzstoffe, die nicht mittels Pricktest oder spezifischer IgE-Bestimmung diagnostiziert werden können [2,3,4].