Abstract
Die autosomal-rezessiv vererbliche Hypotrichose mit Kräuselhaar (autosomal recessive woolly hair/hypotrichosis; ARWH/H) ist eine nichtsyndromale Haarwuchsanomalie, die durch spärliche, kurze, lockige Haare (WH/H) gekennzeichnet ist. Wir berichten über den Fall eines 3-jährigen Mädchens ohne Vorgeschichte von WH/H innerhalb der blutsverwandten Vorfahren. Bei der Geburt war der Haarwuchs unauffällig, dann entwickelte sich jedoch in den ersten 6 Monaten starker Haarausfall. Bis zur Vollendung des 3. Lebensjahrs hatte sich die Haardichte wieder etwas verbessert. In der Lichtmikroskopie war die Invagination von Haarschäften zu erkennen, und die Polarisationsmikroskopie deutete auf eine vollständige Disruption des Haarmarks hin. Eine direkte Sequenzanalyse von peripherem Blut ergab eine homozygote Missense-Mutation auf Exon 6 des Lipase-H-Gens (LIPH: c.736T>A, p.Cys246Ser); exakt dieselbe Mutation lag heterozygot auch bei beiden Eltern vor. Die anfängliche Verschlechterung und nachfolgende Verbesserung mit zunehmendem Lebensalter, die in diesem Fall zu beobachten waren, legen nahe, dass der klinische Verlauf der ARWH/H bei Patienten mit der hier vorliegenden LIPH-Mutation stark variieren kann, was wiederum darauf hindeutet, dass möglicherweise weitere Faktoren die Auswirkung von LIPH auf den Haarwuchs beeinflussen.
Einleitung
Hypotrichose mit Kräuselhaar (woolly hair/hypotrichosis; WH/H) ist eine Anomalie des Haarschafts, die durch langsam wachsende, dünne, fein gekräuselte Haare von nur wenigen Zentimetern Länge gekennzeichnet ist. Man unterscheidet die syndromale von der nichtsyndromalen WH/H danach, ob systemische Anomalien vorliegen oder nicht. Die nichtsyndromale WH/H wird wiederum nach dem Vererbungsmuster als autosomal-dominant (OMIM 194300) oder -rezessiv (autosomal recessive woolly hair/hypotrichosis: ARWH/H; OMIM 278150/604379/611452) eingestuft. Kürzlich wurden die Gene für Lipase H (LIPH) und LPAR6 als Verursacher der ARWH/H identifiziert [1,2,3,4]. Der klinische Verlauf der ARWH/H variiert, in der Regel ist jedoch der Haarwuchs bei der Geburt spärlich und verschlechtert oder verbessert sich mit zunehmendem Alter. Hier berichten wir über einen Fall von ARWH/H mit einer Mutation des LIPH-Gens, in dem sich die Hypotrichose zunächst verschlechterte, bei dem dann aber eine Verbesserung der Haardichte über die nächsten 3 Jahre hinweg zu beobachten war.
Fallbericht
Ein 3-jähriges Mädchen wurde von seinen Eltern in unserer Abteilung wegen Haarausfalls und mangelhaften Haarwachstums vorgestellt. Die Geburt war normal verlaufen, die Entwicklung des Kindes ansonsten unauffällig. Das Mädchen hatte keine Geschwister, und beide Eltern hatten augenscheinlich normalen Haarwuchs. Keins der Elternteile berichtete in der Familienanamnese über einen derartigen Fall innerhalb der Blutsverwandtschaft. Die körperliche Untersuchung ergab dünne, gekräuselte Haare, gleichmäßig spärlich verteilt, mit einer Länge von 3-5 cm. Augenbrauen und Wimpern waren nicht betroffen (Abb. 1a, b). Die Eltern berichteten, dass Haardichte und -wachstum bei der Geburt ihrer Tochter normal gewesen seien (Abb. 1c), jedoch im Alter von 3 Monaten signifikanter Haarausfall aufgetreten sei (Abb. 1d, e), der dann in den folgenden 3 Jahren graduell wieder nachgelassen habe. Labortests, darunter Bestimmungen der Schilddrüsenhormone und der Autoantikörpertiter, ergaben keine signifikanten Anomalien. Unter dem Lichtmikroskop war die Invagination von Haarschäften zu erkennen (Abb. 1f), und in der Polarisationsmikroskopie sah der Haarkortex beschädigt aus (Abb. 1g). Die Rasterelektronenmikroskopie ergab einen Teildefekt der Medulla und einen fragilen äußeren Kortex des Haarschafts (Abb. 1h). Da die Haare beider Eltern normal aussahen, hatten wir den Verdacht auf ARWH/H und führten eine direkte Sequenzierung des LIPH-Gens an peripherem Blut der Patientin und ihrer Eltern durch, nachdem wir die Familie aufgeklärt und ihr Einverständnis eingeholt hatten. Es stellte sich heraus, dass die Patientin homozygote Trägerin und beide Eltern heterozygote Träger einer Missense-Mutation auf Exon 6 des LIPH-Gens (c.736T>A, p.Cys246Ser) waren (Abb. 2). Wir diagnostizierten bei der Patientin eine ARWH/H aufgrund einer homozygot vorliegenden Mutation von LIPH.
a, b Klinisches Bild des Haarwuchses der Patientin im Alter von 3 Jahren. c Normales Erscheinungsbild der Haare 4 Tage nach der Geburt. d, e Starker Haarausfall im Alter von 6 Monaten. f Lichtmikroskopische Darstellung eines Haarschafts mit Invagination. g Polarisationsmikroskopische Aufnahme des Haarschafts. Der Bildeinschub zeigt altersgleiches normales Haar. h Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Haars im Querschnitt mit Anzeichen von Brüchigkeit im äußeren Kortex und Reduktion der Medulla. Der Bildeinschub zeigt altersgleiches normales Haar.
a, b Klinisches Bild des Haarwuchses der Patientin im Alter von 3 Jahren. c Normales Erscheinungsbild der Haare 4 Tage nach der Geburt. d, e Starker Haarausfall im Alter von 6 Monaten. f Lichtmikroskopische Darstellung eines Haarschafts mit Invagination. g Polarisationsmikroskopische Aufnahme des Haarschafts. Der Bildeinschub zeigt altersgleiches normales Haar. h Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Haars im Querschnitt mit Anzeichen von Brüchigkeit im äußeren Kortex und Reduktion der Medulla. Der Bildeinschub zeigt altersgleiches normales Haar.
Direkte Sequenzanalyse des LIPH-Gens der Patientin und ihrer Eltern. Die Patientin trägt homozygot eine Missense-Mutation auf Exon 6 des LIPH-Gens (c.736T>A, p.Cys246Ser), und beide Eltern sind heterozygote Träger derselben Mutation.
Direkte Sequenzanalyse des LIPH-Gens der Patientin und ihrer Eltern. Die Patientin trägt homozygot eine Missense-Mutation auf Exon 6 des LIPH-Gens (c.736T>A, p.Cys246Ser), und beide Eltern sind heterozygote Träger derselben Mutation.
Diskussion
LIPH, ein Gen, das für ARWH/H ursächlich ist, codiert für PA-PLA1α aus der Familie der A1-Phospholipasen, das Lysophosphatidsäure (LPA) aus Phosphatidsäure erzeugt [5]. P2RY5, ein weiteres Gen, das ARWH/H verursachen kann, codiert für einen G-Protein-gekoppelten «Waisen-Rezeptor», der als Ligand LPA bindet [3]. Sowohl PA-PLA1α als auch P2RY5 werden in der inneren Schicht der Haarwurzelscheide stark exprimiert, was darauf hindeutet, dass sie maßgeblich an der Entwicklung dieser inneren Haarscheide beteiligt sind [2]. Unter dem Polarisations- und Rasterelektronenmikroskop beobachteten wir eine schwere Schädigung der Medulla des Haarschafts; dies ist der erste Bericht, in dem das Haarmark bei einem Fall von ARWH/H mit LIPH-Mutation mit Hilfe dieser beiden Mikroskopiertechniken untersucht wurde. Die hier vorliegende Mutation c.736T>A, p.Cys246Ser gilt ebenso wie c.742C>A, p.H248N als Gründermutation der japanischen Bevölkerung; ihre Trägerhäufigkeiten in der japanischen Population betragen 1,5% bzw. 1,0% [1,6]. Bisher liegen keine Nachweise für einen klaren Zusammenhang zwischen dem Genotyp und Phänotyp bei Patienten mit LIPH-Mutationen vor. Shimomura et al. [7] berichteten über zwei guyanische Familien mit ARWH/H, in denen sich Geschwister mit exakt derselben LIPH-Mutation im Hinblick auf den Schweregrad der Hypotrichose, Entwicklungsstörungen und andere klinische Merkmale (wie keratotische follikuläre Papeln an den Beinen bei einem der Geschwister) unterschieden. Entsprechend zeigen auch japanische Patienten mit der c.736T>A-Mutation auf Exon 6 des LIPH-Gens - wie im hier beschriebenen Fall - unterschiedliche Krankheitsverläufe; so können die Anomalien des Haarwuchses gleich bei der Geburt erkennbar sein, sich erst nach mehreren Monaten entwickeln, oder das Haarvolumen kann mit dem Alter zunehmen [6,8]. Interessant ist hierbei, dass die Haardichte unserer Patientin im Laufe ihrer ersten 3 Lebensjahre schwankte. Diese Beobachtung legt nahe, dass LIPH mit bisher nicht identifizierten verknüpften Genen assoziiert ist, die möglicherweise durch Einzelnukleotid-Polymorphismen modifiziert oder hoch- bzw. herunterreguliert werden, was zur Entwicklung der inneren Haarscheide mit zunehmendem Alter führt. Wie bereits erwähnt, ist die aus LIPH synthetisierte LPA ein extrazellulärer Mediator vieler biologischer Funktionen. Man nimmt an, dass sie auf die Epithelzellen des Haars eine wachstumsfördernde Wirkung ausübt, die auf dem Schutz vor der Induktion der Katagenphase beruht, indem sie Mitogen-activated-protein/extracellular-signal-regulated-Kinasen (MAP-/ERP-Kinasen) aktiviert, wie es für murine Haarepithelzellen beschrieben wurde [9]. Ungeklärt ist aber weiterhin, wie die LPA die anderen mit dem Haar verbundenen Gene reguliert und welche Rolle sie bei der Ausbildung des Phänotyps der spärlichen Kräuselhaare in der inneren Haarwurzelscheide des Menschen genau spielt.
Danksagung
Wir danken den Familienmitgliedern für ihre Mitwirkung bei dieser Studie.
Disclosure Statement
Die Autoren erklären keine Interessenkonflikte.