Abstract
Background: To date, little is known about the prevalence of itch in multiple sclerosis (MS) and its characteristics. Objectives: In this cross-sectional study, we assessed the prevalence, intensity and characteristics of chronic pruritus in MS patients and its effect on quality-of-life and association with MS symptoms, clinical signs, comorbidities and MRI findings. Methods: MS patients presenting to an outpatient neurology clinic were asked about their current symptoms. Those who experienced chronic pruritus were administered the Standardized Itch Questionnaire and Itch Quality of Life forms. All patients’ medical records were reviewed. Patients with any medical conditions associated with chronic itch were excluded. Results: Seventy-seven total MS patients were included, and 27 (35%) reported pruritus. The average itch NRS severity was 5.42 (range 0–10). The most affected body parts were the extremities, face or scalp, and trunk. Itch was characterized as acute (74%), paroxysmal (59%) and tingling (55%). Heat (52%) was the most common aggravating factor, while cold temperatures had no effect. Compared with MS patients without itch, itch patients reported more fatigue (77% vs 44%, p = 0.004), heat sensitivity (48% vs 20%, p = 0.0177), cognitive impairment (62% vs 26%, p = 0.0029) and depression or anxiety (48% vs 16%, p = 0.0063). Additionally, itch patients had more T2 hyperintensities in the posterior cervical cord and anterior pons/ventromedial medulla (74.1% vs 46.0%, p = 0.018 and 29.6% vs 8.0%, p = 0.020, respectively). Finally, T2 hyperintensities in the anterior pons/ventromedial medulla were strongly associated with itch localized to the face or scalp (OR 11.3, 95% CI 1.6–78.6, p = 0.025).
Abstract aus Ingrasci G, Tornes L, Brown A, et al.: Chronic pruritus in multiple sclerosis and clinical correlates. J Eur Acad Dermatol Venereol 2023;37:154–159. DOI: 10.1111/jdv.18561
Transfer in die Praxis von Dr. Thanos Tsaktanis und Prof. Dr. Veit Rothhammer (Erlangen)
Hintergrund und Relevanz
Jucken, Juckempfindung oder Pruritus, abgeleitet vom lateinischen prurire, «jucken», ist ein unangenehmes Empfinden, das den Drang zum Kratzen auslöst. Juckreiz kann hierbei kutan, neuropathisch, neurogen, gemischt oder psychogen bedingt sein. Während kutaner Juckreiz etwa bei Diagnosen wie der atopischen Dermatitis oder Urtikaria ein häufiges Leitsymptom darstellt, bleibt sein neuropathisches Pendant in der Neurologie oft weniger beachtet, obwohl es für viele Betroffene eine erhebliche Belastung darstellt [1]. Die kortikale Verarbeitung von Juckreiz erfolgt nach aktuellem Wissensstand über ein neuronales Netzwerk, das Basalganglien, Claustrum und Insula umfasst. Bei chronischem Juckreiz zeigt sich zudem eine verstärkte Aktivierung des linken Lobus paracentralis, was auf eine Aktivierung kognitiver Kontrollmechanismen zur Unterdrückung des Kratzdrangs hindeutet [2].
Beim neuropathischen Juckreiz kann pathophysiologisch als im peripheren oder im zentralen Nervensystem generiert unterschieden werden. So entsteht peripherer Juckreiz unter anderem durch mechanische Reize, die über Merkel-Zellen und Aβ-Sensorikfasern der Haut aufgenommen und über das Rückenmark weitergeleitet werden. Dort modulieren inhibitorische Interneurone das Signal, bevor es ins Gehirn gelangt. Spinale inhibitorische Interneurone spielen dabei eine zentrale Rolle in der meist inhibitorischen Juckreizregulation. Ursächlich für den neuropathischen Juckreiz sind Läsionen oder Erkrankungen an peripheren somatosensorischen Strukturen. Zu den häufigsten Entitäten zählen hierbei der Post-Zoster-Pruritus, mechanische Engpasssyndrome peripherer Nerven, wie brachioradialer Pruritus oder die thorakal lokalisierte Notalgia paraesthetica, sowie der Pruritus bei Radikulopathien. Zudem kann neuropathischer Juckreiz ein Begleitsymptom von Small-Fiber-Neuropathien und bei jedweder Form von Polyneuropathien darstellen. Auch intraepidermale Nervenfaserveränderungen, wie sie bei Keloiden oder Verbrennungen auftreten, können Juckreiz auslösen [5]. Seltener tritt neuropathischer Juckreiz infolge zentralnervöser Prozesse bei raumfordernden Läsionen oder chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Zentralnervensystems (ZNS) auf. Hierauf nimmt die vorgestellte Studie zum Juckreiz bei Multipler Sklerose (MS) Bezug. Die Modulation der Empfindung von Juckreiz wird darüber hinaus durch das Phänomen des «ansteckenden Juckreizes» [3, 4] untermauert, bei dem allein das Beobachten anderer Personen beim Kratzen bzw. die Vorstellung davon ein eigenes Juckempfinden hervorrufen kann.
Pruritus bei Autoimmunerkrankungen
Pruritus als belastendes, aber in der neurologischen Praxis oft wenig beachtetes Symptom hat besonders bei zentralnervösen Autoimmunerkrankungen wie der MS hohe Bedeutung. Studien zeigen, dass bis zu einem Drittel der MS-Patienten unter Juckreiz leidet. In diesem Zusammenhang wird Pruritus als paroxysmales Symptom betrachtet, da er zu den vorübergehenden sensorischen oder autonomen Symptomen gehört, die durch ektope Impulse an den Demyelinisierungsherden entstehen und typischerweise weniger als 24 Stunden andauern. Auch weitere paroxysmale Phänomene wie Trigeminusneuralgie, periodische Dysarthrie, Ataxie, Parästhesien, Schmerzen oder die intermittierende Akinesie gehören zu dieser Symptomfamilie [6].
Bedeutenderweise legen pathophysiologisch orientierte Untersuchungen nahe, dass der Juckreiz als Differenzierungsmerkmal zwischen MS und Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) dienen könnte. Während der Nachweis von Aquaporin-4 (AQP4)-IgG-Antikörpern die Unterscheidung zwischen NMOSD und MS erleichtert, bleibt die frühe differenzialdiagnostische Unterscheidung dieser Krankheitsentitäten herausfordernd. Eine Studie von He et al. [7] ergab, dass Pruritus bei NMOSD-Patienten häufiger auftritt als bei MS-Patienten und mit Läsionen im dorsalen Horn des Rückenmarks oder im trigeminalen Spinalkern assoziiert ist. Die stärkere Beteiligung der grauen Substanz und des dorsalen Horns könnte diese höhere Prävalenz erklären. Zudem hatten 63,6% der NMOSD-Patienten mit Juckreiz gleichzeitig neuropathische Schmerzen im betroffenen Bereich, was auf eine gemeinsame pathophysiologische Grundlage hindeutet [7].
In diesem Zusammenhang untersucht die hier vorgestellte Studie das Auftreten und die Charakteristika von chronischem neuropathischem Juckreiz bei MS-Patienten. Hier wurden in einer 3-monatigen Beobachtungsstudie 77 MS-Patienten untersucht, von denen 35% über chronischen Juckreiz berichteten. Ziel der Studie stellte die Analyse von Intensität, Häufigkeit und Dauer des Juckreizes sowie seiner Auswirkung auf die Lebensqualität dar. Zudem wurde geprüft, ob Juckreiz mit MS-assoziierten Symptomen und spezifischen T2-hyperintensen Läsionen in der Magnetresonanztomografie (MRT; posteriores Zervikalmark, anteriorer Pons, ventromediale Medulla) korreliert.
Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass chronischer Juckreiz vor allem an den oberen Extremitäten, seltener an den unteren Extremitäten, im Gesicht, an der Kopfhaut sowie am Rumpf auftrat. Häufige Auslöser waren Hitze und Stress, während Kälte keinen Einfluss auf die Beschwerden hatte. Patienten mit Juckreiz berichteten signifikant häufiger über Fatigue, Hitzeempfindlichkeit, kognitive Beeinträchtigungen sowie Angst- und Depressionssymptome als Patienten ohne Juckreiz. Zudem waren T2-hyperintense Läsionen häufiger im posterioren zervikalen Rückenmark, im anterioren Pons und in der ventromedialen Medulla nachweisbar. Besonders auffällig war die starke Assoziation zwischen Juckreiz im Gesichts- oder Kopfbereich und Läsionen im anterioren Pons und der ventromedialen Medulla oblongata. Hierbei gab es keinen Unterschied in der Anwendung immunmodulatorischer Medikamente oder symptomatischer medikamentöser Behandlungen (z.B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Gabapentinoide, Carbamazepin) zwischen MS-Patienten mit und ohne Juckreiz. Die Juckreizintensität korrelierte nicht mit der Einnahme symptomatischer Medikamente. Dies legt nahe, dass die eingesetzten Pharmaka weniger wirksam bei zentralnervös bedingtem Juckreiz als bei neuropathischem, peripher-nervös bedingtem Juckreiz sein könnten [8].
In der europäischen Leitlinie zum neurogenen Pruritus wird Pregabalin oder Gabapentin empfohlen, ähnlich wie bei der Polyneuropathie. Die Weiterentwicklung und Anpassung zentralnervös-orientierter innovativer Therapieansätze ist daher nicht nur für Dermatologen, sondern auch für Neurologen von Bedeutung [9].
Fazit
Neuropathischer Juckreiz ist ein oft nicht beachtetes Symptom in der Neurologie und stellt für Betroffene eine erhebliche Belastung dar. Besonders im Kontext autoimmunentzündlicher Erkrankungen wie MS und NMOSD kann Juckreiz diagnostische Relevanz besitzen. Ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen kann die Patientenversorgung und -beziehung verbessern und wertvolle differenzialdiagnostische Hinweise liefern. Da bisherige Studien meist retrospektiv bleiben und eher kleine Patientenkohorten umfassen, besteht hoher Bedarf an größeren, prospektiven Untersuchungen zur Erfassung und Behandlung des neuropathischen Pruritus sowie zur Identifikation spezifischer Therapieoptionen.
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