Autoimmun-entzündliche Erkrankungen besitzen pathogenetisch, klinisch und therapeutisch zunehmenden Stellenwert in der Neurologie. Sie belegen den Wandel der Neurologie von der «Lehre von den unheilbaren Erkrankungen» hin zu einem therapeutischen Vorreiterfach: Das zentrale Nervensystem ist Angriffspunkt bei Multipler Sklerose (MS), Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierten Erkrankungen (MOGAD), Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) sowie Autoimmunenzephalitiden, während das periphere Nervensystem und die neuromuskuläre Achse humoral oder Immunzell-mediiert bei Erkrankungen wie entzündlichen Polyneuropathien, der Myasthenia gravis und bei autoimmun-vermittelten Myositiden angegriffen werden. Diese Erkrankungen führen oft zu schwerwiegenden neurologischen Defiziten und chronischer Behinderung und bedingen so persönliche Schicksale und sozioökonomischen Schaden. In den letzten Jahren haben grundlagenwissenschaftliche Erforschung und exakte klinische wie immunologische Beobachtung zu einem Paradigmenwechsel in der Immunneurologie geführt und das Arsenal an neuen Therapien bereichert: Auch wenn eine Heilung neuroimmunologischer Erkrankungen noch Gegenstand weiterer Entwicklung bleiben muss, haben die Fortschritte in der Immunneurologie zu innovativen Therapien geführt, die den betroffenen Patienten ein symptomfreies bzw. -armes Leben ermöglichen.
Von breiter Immunsuppression zur antigenspezifischen Zelltherapie
Ausgehend von der exakten Beschreibung der klinischen Phänomenologie konnten durch das Verständnis der zugrunde liegenden Immunpathogenese spezifische Therapien etabliert werden: So werden autoimmun-entzündliche Erkrankungen des Nervensystems durch die Aktivierung und Interaktion des angeborenen und des adaptiven Immunsystems vermittelt, wodurch generalisierte und kompartmentalisierte Entzündungsprozesse ausgelöst werden. Breite und damit unspezifische Immunsuppression, etwa durch zellproliferationshemmende Pharmaka, werden zunehmend abgelöst durch spezifische, mechanismenorientierte Therapien: CD20-spezifische monoklonale Antikörper führen zur gezielten Reduktion des Pools an B-Zellen nicht nur bei MS und komplementspezifische Antikörper verhindern destruktive Effekte an der neuromuskulären Endplatte bei der Myasthenia gravis oder an Astrozytenfüßchen bei NMOSD. Auch neue Therapiekonzepte, wie etwa die Blockade des neonatalen Fc-Rezeptors und die dadurch bedingte Degradation von pathogenen Antikörpern unterstreichen die Dynamik des Feldes, an deren Ende definitive, «heilende» Immuntherapien stehen könnten: Die Verwendung von CAR-T-Zellen (CAR = chimärer Antigenrezeptor), die zur nahezu vollständigen Depletion bestimmter über Oberflächenantigene definierter Zellpopulationen führt und in dieser Ausgabe näher beleuchtet wird, stellt einen neuartigen Therapieansatz dar, der einen «Reset» des Immunsystems und damit eine Heilung bedeuten könnte. Nicht zuletzt könnte diese Therapieform in der Zukunft die Möglichkeit eröffnen, gezielt nur diejenigen B-Zellen zu eliminieren, die spezifische krankheitsauslösende Antigene erkennen, während der übrige B-Zell-Pool unverändert bliebe. Diese modernen Therapieformen stellen so den nächsten Schritt hin zu einer möglichen Heilung dieser Erkrankungen dar.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit als Schlüssel zum Erfolg
Die Komplexität entzündlicher Erkrankungen des Nervensystems erfordert nicht nur innovative Therapieansätze, sondern auch eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Allgemeinmediziner, Neurologen, Rheumatologen, Onkologen, Gastroenterologen, Nephrologen und Dermatologen müssen gemeinsam individuelle Therapiepläne erstellen, um die optimale Versorgung der Patienten sicherzustellen und potenzielle Nebenwirkungen dieser hochaktiven Therapien früh zu erkennen und zu behandeln. Diese interdisziplinäre Herangehensweise ist entscheidend, um die Effizienz neuer Therapien zu maximieren und deren potenzielle Nebenwirkungen zu kontrollieren.
Fazit
Die Behandlung entzündlicher Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems befindet sich im Wandel und stellt uns als Immunmediziner vor neue Herausforderungen. Identifikation von Biomarkern, Entwicklung neuer Therapiekonzepte, Translation dieser Ansätze in breit anwendbare Therapien, interdisziplinäres Monitoring von Nebenwirkungen und kontinuierliche Betreuung unserer Patienten stellen wesentliche Aufgaben dar, die die Vernetzung von Allgemeinmedizin, Immunmedizin und Grundlagenwissenschaft erfordern. Wir haben in dieser Ausgabe Artikel zusammengestellt, die diese Aspekte zu verbinden suchen und wünschen Ihnen nun Vergnügen und Bereicherung bei deren Lektüre
Dr. Thanos Tsaktanis und Prof. Dr. Veit Rothhammer