Patienten mit multipler Sklerose (MS), die eine krankheitsmodifizierende Therapie (DMT, für engl. disease-modifying treatment) erhalten, können eine unterschiedlich ausgeprägte Immundefizienz aufweisen, wodurch sich das Infektionsrisiko erhöhen kann [8]. Es ist noch nicht bekannt, ob Patienten mit MS ein erhöhtes Risiko für COVID-19 oder schwere Komplikationen haben. Innerhalb kurzer Zeit wurden Expertenempfehlungen zur Behandlung von Patienten mit MS während der COVID-19-Pandemie herausgegeben, wobei die neurologischen Fachgesellschaften aus Italien und dem Vereinigten Königreich (Società Italiana di Neurologia und Association of British Neurologists) erste Beispiele lieferten.
Beide Gruppen betrachten es insgesamt als sicher, eine Behandlung mit Interferon-β, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimethylfumarat und DMT wie Fingolimod und Natalizumab, die keine Lymphozytendepletion verursachen, zu beginnen oder fortzusetzen. In Bezug auf Ocrelizumab und Alemtuzumab, die eine Lymphozytendepletion hervorrufen, sind die Empfehlungen weniger eindeutig. Im Fokus stehen dabei individuelle Faktoren wie die Krankheitsaktivität und die Lymphozytenzahl, jedoch wird vorgeschlagen, einen Behandlungsbeginn mit Alemtuzumab oder die Verabreichung vorübergehend zu verschieben. Allerdings sind solche Empfehlungen gegebenenfalls für Patienten mit einer hoch aktiven MS-Form nicht adäquat. Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der selektiv auf CD52 einwirkt – das in hohem Maße auf T- und B-Lymphozyten exprimiert wird – und dadurch eine Depletion zirkulierender Lymphozyten bewirkt. Es wird wirkungsvoll zur Behandlung der MS eingesetzt. Nach der Depletion der Lymphozyten setzt innerhalb von Wochen eine T- und B-Zell-Repopulation mit charakteristischem Muster ein: Während die B-Zell-Zahlen innerhalb von 6 Monaten auf die Ausgangswerte zurückkehren, steigen die T-Zell-Zahlen langsamer an und nähern sich im Allgemeinen innerhalb von 12 Monaten Werten im unteren Normbereich an [7]. Wegen der ausgeprägten akuten Lymphozytendepletion nach der Infusion haben viele Neurologen in der Pandemie aufgehört, Alemtuzumab zu verordnen.
Wir präsentieren den Fall eines Patienten mit MS und leichter COVID-19-Erkrankung, bei dem infolge einer Behandlung mit Alemtuzumab eine schwere Depletion der wesentlichen zirkulierenden T-Lymphozyten (CD3+, CD4+ und CD8+) vorliegt. Bei dem 35 Jahre alten Mann wurde im November 2018 auf Grundlage der McDonald-Kriterien eine schubförmig remittierende MS (RRMS, für engl. relapsing-remitting multiple sclerosis) diagnostiziert. Der Mann hatte keine Begleiterkrankungen. Er entwickelte eine fortschreitende Taubheit in beiden Beinen und eine leichte motorische Beeinträchtigung sowie später eine Diplopie. Die Magnetresonanztomografie (MRT) zeigte zum Zeitpunkt der Diagnosestellung multiple demyelinisierende Läsionen in Gehirn und Rückenmark, die mit einer MS vereinbar waren. Im Dezember 2018 erhielt der Mann seine erste Behandlungsphase mit Alemtuzumab (12 mg pro Tag intravenös (i.v.) an 5 Tagen). Die zweite Behandlungsphase (12 mg pro Tag i.v. an 3 Tagen) wurde Ende Februar 2020 verabreicht. Zwischen den Behandlungen kam es zu keiner klinischen Verschlechterung. Die neurologische Untersuchung zeigte eine Verminderung der Muskelkraft (4/5) im rechten Bein (Wert von 1 auf der Expanded Disability Status-Skala). Der letzte MRT-Scan, der im März 2020 angefertigt wurde, zeigte, dass die Läsionslast im Vergleich zu den vorhergehenden Untersuchungen von Gehirn und Rückenmark stabil war. Es wurden keine konstrastmittelanreichernden Läsionen festgestellt (Abb 1). Die absolute Lymphozytenzahl (ALC) des Patienten betrug vor der zweiten Infusion 960/mm3. 1 Monat nach der Infusion war sie auf 210/mm3 abgefallen. Dem Patienten wurde empfohlen, sich freiwillig in Quarantäne zu begeben. Allerdings hatte er 2,5 Monate nach der Infusion Kontakt zu seiner COVID-19-positiven Frau. Der Patient bildete einen trockenen Husten aus und die Untersuchung eines Nasen-Rachen-Abstrichs mittels Real-Time-PCR (PCR = Polymerase-Kettenreaktion) auf SARS-CoV-2 ergab ein positives Testergebnis. Bei dem Patienten trat leichtes Fieber auf, wohingegen Atemfrequenz, Atemgeräusche und Sauerstoffsättigung normal waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine ALC von 680/mm3 mit ausgeprägter Reduktion wesentlicher zirkulierender T-Lymphozyten-Subsets (CD3+, CD4+ und CD8+). Die mittlere CD3+ T-Lymphozyten-Zahl war gegenüber der Untergrenze des Normbereichs (LLN, für engl. lower limit of normal) um 88% reduziert, und die Zahlen für die CD4+- und CD8+-Subsets lagen 82% bzw. 85% unterhalb der LLN (Abb 2). Die B-Lymphozyten und natürliche Killerzellen (NK-Zellen) waren im Normbereich. Die leichte Erkältungssymptomatik verschlechterte sich nicht. Der Mann blieb zu Hause. 2 Wochen nach dem ersten Abstrich hatte der Patient keine Symptome mehr und ein zweiter Abstrich fiel negativ aus.
Letzter Kontroll-MRT-Scan, durchgeführt im März 2020. Die Läsionslast ist gegenüber den Voruntersuchungen stabil. Zu sehen sind mehrere konfluierende supratentorielle Läsionen (juxtakortikal und periventrikulär), Läsionen in der Fossa posterior (linker Pedunculus cerebellaris medius und rechte Kleinhirnhemisphäre), eine Läsion am bulbomedullären Übergang sowie multiple Läsionen im Rückenmark (in Höhe C4, T1 und Conus medullaris). Die Läsionen reichern kein Gadolinium an.
Letzter Kontroll-MRT-Scan, durchgeführt im März 2020. Die Läsionslast ist gegenüber den Voruntersuchungen stabil. Zu sehen sind mehrere konfluierende supratentorielle Läsionen (juxtakortikal und periventrikulär), Läsionen in der Fossa posterior (linker Pedunculus cerebellaris medius und rechte Kleinhirnhemisphäre), eine Läsion am bulbomedullären Übergang sowie multiple Läsionen im Rückenmark (in Höhe C4, T1 und Conus medullaris). Die Läsionen reichern kein Gadolinium an.
Wir beschreiben hier einen Patienten mit MS und ausgeprägter Reduktion wesentlicher zirkulierender T-Lymphozyten-Subsets (CD3+, CD4+ und CD8+) infolge von Alemtuzumab, der eine COVID-19-Erkrankung ohne Komplikationen durchlebte. Carandini et al. (2020) berichten über eine 25 Jahre alte Frau, die 7 Tage nach ihrem zweiten Alemtuzumab-Zyklus eine leichte Infektion ohne Komplikationen hatte [3]. Die Patientin hatte keine Begleiterkrankungen und ihre ALC betrug 99/mm3. Wir mutmaßen, dass sich der Lymphozytenmangel während der COVID-19-Erkrankung positiv ausgewirkt haben könnte, indem er bei diesen beiden Patienten eine überaktive Immunreaktion verhinderte. Es besteht Einvernehmen darüber, dass DMT der ersten Generation das Infektionsrisiko nicht erhöhen. Interferon-β könnte aufgrund seiner antiviralen Eigenschaften sogar günstige Auswirkungen haben. Dagegen wurde gezeigt, dass DMT der zweiten Generation das Risiko der Patienten für Viruserkrankungen erhöhen. Aktuell gibt es in der Literatur Berichte über 2 mit Fingolimod behandelte Patienten mit MS, bei denen eine schwere COVID-19-Erkrankung mit interstitieller Pneumonie diagnostiziert wurde. Beide mussten stationär behandelt werden und zeigten während ihres Krankenhausaufenthalts einen günstigen Verlauf [1, 4]. Ein weiterer mit Interferon-β behandelter Patient entwickelte eine COVID-19-Erkrankung mit interstitieller Pneumonie und musste 7 Tage lang stationär behandelt werden [5]. Bei einem mit Natalizumab behandelten Patienten entwickelte sich eine leichte bilaterale interstitielle Pneumonie, deren Symptome innerhalb von 10 Tagen abklangen [2]. Darüber hinaus wird im Rahmen einer Pharmakovigilanz-Fallserie über 32 mit Ocrelizumab behandelte Patienten mit COVID-19-Erkrankung und positivem Testergebnis berichtet, von denen 5 intensivmedizinisch behandelt werden mussten. Todesfälle wurden nicht beschrieben [6]. Bei diesen Patienten gab es keine Probleme bezüglich der ALC.
Es wurde vorgebracht, dass einige Patienten mit COVID-19 ein Zytokinsturm-Syndrom haben könnten, bei dem sich eine Immunsuppression günstig auswirken könnte [9]. Dagegen beschreiben andere Autoren das mögliche Risiko einer Behandlung von Patienten mit Immunsuppressiva und äußern, dass dieser beobachtete Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Erkrankung und dem Auftreten inflammatorischer Zytokine nicht notwendigerweise kausal sein muss [10].
Die große Mehrzahl der im Verlauf von 2020 mit Alemtuzumab behandelten Patienten muss die Pandemie mit niedrigen ALC durchleben. Wir benötigen dringend ein besseres Verständnis, welche Konsequenzen COVID-19 für Patienten mit immunvermittelten Erkrankungen hat und wie sich eine immunsuppressive Therapie auswirkt, um Ärzten eine Orientierung für die Versorgung von Patienten mit MS zu geben. Bei der Entscheidung, eine Behandlung mit einem gegebenen DMT zu beginnen, fortzusetzen oder zu beenden, sollte eine große Rolle spielen, ob Patienten mit MS die Empfehlungen zur Vermeidung einer Virusexposition befolgen oder nicht. In allen Fällen muss ein gegebenenfalls erhöhtes Risiko für eine Infektion und damit einhergehende Morbidität sorgfältig gegen das Risiko einer Beendigung der Behandlung und eines erneuten Krankheitsschubs abgewogen werden.
Einwilligung nach Aufklärung
Der Patient erteilte vor seiner Teilnahme an dieser Studie und an der Studie FONIS SA1610026 schriftlich seine Einwilligung nach Aufklärung. Das Projekt wurde von den lokalen wissenschaftlichen Ethikkommissionen am University of Chile Hospital, Santiago, Chile, genehmigt.
Beschreibung der Beiträge der Autoren gemäß CRediT
Carlos Guevara: Konzeption, Methodik, Validierung, formale Analyse, Untersuchung, Schreiben – ursprünglicher Entwurf, Aufsicht.
Eduardo Villa: Validierung, formale Analyse, Untersuchung, Schreiben des ursprünglichen Entwurfs.
Marcela Cifuentes: Untersuchung.
Rodrigo Naves: Untersuchung.
José de Grazia: Konzeption, Methodik, Validierung, formale Analyse, Untersuchung, Schreiben – ursprünglicher Entwurf, Aufsicht.
Disclosure Statement
Die Autoren haben keine Interessenskonflikte.
Lizenzangabe
Carlos Guevara, Eduardo Villa, Marcela Cifuentes, Rodrigo Naves, José de Grazia: Mild COVID-19 infection in a patient with multiple sclerosis and severe depletion of T-lymphocyte subsets due to alemtuzumab. Mult Scler Relat Disord 2020;44:102314. 2020;20(1):38. (DOI: 10.1016/j.msard.2020.102314). © 2020 Elsevier B.V. (Übersetzung).