Die Multiple Sklerose ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die aufgrund ihrer vielfältigen Symptomatik im Volksmund als die «Erkrankung der 1000 Gesichter» bekannt ist. In den letzten Jahren haben sich die dia-gnostischen und therapeutischen Möglichkeiten gebessert, die eine frühzeitige, an die Krankheitsaktivität angepasste individualisierte Therapie ermöglichen. Im Fokus einer verbesserten Managementstrategie dieser immer noch nicht heilbaren, aber langfristig positiv zu beeinflussenden Erkrankung stehen somit gute interdisziplinäre Früh- und Differentialdiagnose sowie ein gutes Therapiemanagement, das neben der hier weiter ausgeführten immunmodulatorischen Therapie eine ganzheitliche symptomatische Therapie der vielen auftretenden Symptome (z.B. Depression, Spastik, Blasenstörungen, Schmerzen) umfasst.

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der es durch vermutlich autoimmun vermittelte, disseminierte Entzündungsherde vor allem in der weißen Substanz des Zentralnervensystems (ZNS) zu Störungen zunächst einzelner, im Verlauf jedoch meist multipler Funktionssysteme kommt. MS-typische-Symptome manifestieren sich in Abhängigkeit von der Lokalisation der Entzündungsherde im ZNS. Charakteristisch zu Beginn der Erkrankung sind Sensibilitätsstörungen und Paresen, einseitiger Visusverlust, Diplopie und Schwindel sowie Ataxie und Koordinationsstörungen. Im Verlauf der Erkrankung kommt es häufig zu spastischen Hemi- oder Paraparesen, die zu einer Einschränkung der Gehfähigkeit führen. Hinzu kommen kognitive Beeinträchtigungen und Sprachstörungen sowie autonome Funktionsstörungen, z.B. in Form von Blasenfunktionsstörungen.

Man unterscheidet verschiedene Krankheitsphänotypen bzw. -verläufe. Der Begriff klinisch isoliertes Syndrom (KIS) beschreibt erstmalig auftretende, einzelne MS-typische Symptome, die auf ein fokal entzündliches bzw. demyelinisierendes Ereignis hindeuten, ohne jedoch die zur Diagnose der MS geforderten Kriterien der zeitlichen und räumlichen Dissemination zu erfüllen [1].

Die schubförmig-remittierende Multiple Sklerose (RRMS) stellt mit ca. 85% die überwiegende Mehrheit der klinischen MS-Verläufe dar [2]. Dabei kommt es zwischen Phasen sogenannter Schübe, die eine akute Exazerbation der Symptome darstellen, zur vorübergehenden Rückbildung der Krankheitsaktivität (Remission). Schubsymptome können sich innerhalb von Tagen bis Wochen wieder vollständig zurückbilden oder auch zu persistierenden, neurologischen Einschränkungen führen. Der Manifestationsgipfel der Erkrankung liegt bei RRMS-Patienten um das 30. Lebensjahr [3]. Frauen erkranken etwa 2- bis3-mal häufiger als Männer [4]

Typischerweise 10 bis 20 Jahre nach Erstmanifestation entwickelt sich bei der überwiegenden Mehrheit der Patienten ein sekundär progredienter Verlauf (SPMS) [5]. Dieser ist durch eine beständige Zunahme der klinischen Symptome und der neurologischen Ausfallserscheinungen unabhängig von aufgesetzten Schüben geprägt. [3, 6].

Nur ca. 10–15% aller MS-Erkrankungen manifestieren sich primär progredient (PPMS), d.h. mit schleichender, aber kontinuierlicher Zunahme der neurologischen Symptome ohne begleitende Krankheitsschübe [2, 5]. Der klinische Verlauf der PPMS ist meist schwerer als der der RRMS [6]. Im Durchschnitt weisen PPMS-Patienten bei Erstmanifestation klinischer Symptome ein höheres Lebensalter von über 40 Jahren auf [3]. Das Geschlechterverhältnis ist bei dieser Verlaufsform weitestgehend ausgeglichen [7].

Die formale Diagnose einer MS stützt sich auf Kriterien, die nach dem Neurologen Ian McDonald benannt und seit der Erstveröffentlichung 2001 [8] mehrfach revidiert worden sind [9-11]. Die McDonald-Kriterien berücksichtigen klinische, bildmorphologische und laborchemische Hinweise auf das Vorliegen einer MS. Die Grundlage dafür stellen die allgemein gültigen Definitionen eines Schubes sowie der Nachweis der räumlichen und zeitlichen Dissemination der Entzündungsherde dar.

Als Schub gilt das Auftreten MS-typischer neurologischer Symptome über mindestens 24 h mit einem zeitlichen Abstand von nicht weniger als 30 Tagen zu einem vorherigen Schub. Die von dem Patienten subjektiv berichteten oder klinisch-radiologisch objektivierten Symptome dürfen dabei nicht durch eine Infektion oder eine Erhöhung der Körpertemperatur (Uthoff-Phänomen) erklärt werden können [12].

Die räumliche bzw. zeitliche Dissemination bezeichnet das Auftreten von MS-typischen Läsionen in unterschiedlichen anatomischen Regionen des ZNS bzw. zu unterschiedlichen Zeitpunkten, wobei dies mittels Bildgebung, Klinik oder Anamnese nachgewiesen werden kann [11]. Weitere wichtige Änderungen der McDonald-Kriterien betreffen unter anderem das Einbeziehen positiver Liquorbefunde (oligoklonale Banden) in die Diagnosestellung bei Patienten mit typischem KIS und die Berücksichtigung kortikaler Läsionen zum Nachweis einer räumlichen Dissemination [11].

Nach allgemeiner Auffassung ist die MS eine multifaktoriell verursachte Autoimmunerkrankung, die bei genetisch anfälligen Individuen durch bestimmte Umwelt- und Lebensstilfaktoren ausgelöst werden kann. Zu diesen Faktoren gehören neben niedrigen Vitamin D-Spiegeln auch Nikotinkonsum, die Zusammensetzung der Nahrung (hoher Salzgehalt, hoher Anteil gesättigter Fettsäuren) und Übergewicht [13-15]. Ein großes Interesse galt in den letzten Jahren auch dem Darm-Mikrobiom, da vermutet wird, dass eine Dysbalance zugunsten der pathobiotischen, entzündungsfördernden Keime an der Entstehung einer MS beteiligt sein könnte [16]. Dank der Erforschung des EAE-Tiermodells (experimentelle Autoimmun-Enzephalomyelitis) hat man in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte darin gemacht, die Pathogenese der MS zu verstehen. Zwar gilt die Erkrankung nach wie vor als primär T-Zell-vermitteltet [14], allerdings weiß man heute, dass die pathophysiologischen Hintergründe sehr komplex sind und eine Vielzahl an Interaktionen unterschiedlicher zellulärer und humoraler Bestandteile des angeborenen und erworbenen Immunsystems involvieren [13, 17-19].

Man vermutet, dass autoreaktive T-Zellen in der Peripherie aktiviert werden, durch die Blut-Hirn-Schranke (BHS) in das ZNS migrieren und dort nach Reaktivierung durch ortsansässige antigenpräsentierende Zellen (APC) eine immunologische Kaskade auslösen, die letztendlich zur Demyelinisierung der Nervenzellen und im Verlauf zu axonalen Schäden und allgemeiner Hirnatrophie führt. Die eingewanderten autoreaktiven T-Zellen werden durch ZNS-ansässige APCs reaktiviert, indem diese ihnen mye-linspezifische Antigene präsentieren. Dadurch kommt es zu einer Ausschüttung inflammatorischer Chemokine und Zytokine, wodurch ein Milieu geschaffen wird, welches weitere Immunzellen anlockt, Mikrogliazellen und Astrozyten stimuliert sowie eine Antikörperproduktion in Plasmazellen induziert [6, 20]. Die ZNS-eigenen Mikrogliazellen akkumulieren nach ihrer Aktivierung als Gewebsmakrophagen am Ort des Entzündungsgeschehens und tragen zur Aufrechterhaltung der Entzündung und zur Zerstörung der Myelinscheide bei. Sie sezernieren außerdem Zytokine, die eine Proliferation von Astrozyten und damit die Entstehung bleibender Gewebenarben (Gliose) initiierten [19]. Mit Fortschreiten der Erkrankung nimmt der Anteil an B-Lymphozyten und Plasmazellen in den ZNS-Läsionen zu. Durch Aktivierung des Komplement-Systems und Antikörper (AK)-vermittelte Phagozytose spielen auch sie eine wesentliche Rolle beim Fortschreiten der demyelinisierenden Prozesse und der Schäden an den Axonen [2].

Initial gelingt es, den entstandenen Schaden der demyelinisierenden Läsionen durch zerebrale Restrukturierungs- und Kompensationsprozesse funktionell auszugleichen, was insbesondere in der Anfangsphase der Erkrankung meist zu einer vollständigen klinischen Remission der Beschwerden führt [21]. Im Verlauf der Erkrankung, insbesondere im Falle unzureichender Krankheitskontrolle, erschöpft sich die zerebrale Kompensationsreserve jedoch zunehmend, was eine nicht mehr vollständige Symptomregredienz bzw. klinische Progression zur Folge hat.

Hochdosierte Glukokortikoide sind bei akuten Schübe die beste Möglichkeit, eine Remission zu beschleunigen und bleibende neurologische Defizite zu minimieren [22-24]. Bei mangelndem Ansprechen auf eine Stoßtherapie im Sinne einer persistierenden oder sich verschlechternden Symptomatik stehen Plasmaseparations-Verfahren zur Verfügung.

Den wichtigsten, aber auch komplexesten Teil der therapeutischen Prinzipien bei MS stellt die verlaufsmodifizierende Therapie dar. Während früher zwischen Basis- und Eskalationstherapie unterschieden wurde, ist heute vor allem die aktuelle Krankheitsaktivität ins Zentrum therapeutischer Entscheidungen gerückt. In den letzten Jahren ist die Anzahl zugelassener Medikamente stetig gestiegen (Abb 1).

Abb. 1.

Übersicht über die Therapiekonzepte zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) – Differenzierung zwischen Induktionstherapie und Eskalationstherapie mit klinischer und bildgebender Beurteilung der Krankheitsaktivität (Übersetzung, nach [40]).

Abb. 1.

Übersicht über die Therapiekonzepte zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) – Differenzierung zwischen Induktionstherapie und Eskalationstherapie mit klinischer und bildgebender Beurteilung der Krankheitsaktivität (Übersetzung, nach [40]).

Close modal

First Line Therapien

Glatirameracetat (s.c.): Synthetisches Polypeptid aus Alanin, Tyrosin, Glutamin und Lysin; Wirkmechanismus nicht vollständig geklärt; beeinflusst zahlreiche Komponenten des Immunsystems; vermutlich neuroprotektive Wirkung durch strukturelle Ähnlichkeit mit MBP (Myelin-Basisches Protein) sowie Hemmung von proinflammatorischen zugunsten von antiinflammatorischen Signalwegen (z.B. Induktion von regulatorischen TH2-Zellen und Hemmung von TH1- und TH17-Zellen, Sekretion neurotroper Faktoren und antiinflammatorischer Zytokine) [25, 26].

Beta-Interferone (s.c./i.m.): Rekombinant hergestellte Glykoproteine, die zur Gruppe der Zytokine gehören: Wirkmechanismus nicht vollständig geklärt, Immunmodulation durch Beeinflussung zahlreicher Bestandteile des humoralen und zellulären Immunsystems u.a. durch Verstärkung T-lymphozytärer peripherer Suppressormechanismen, Modulation der IgG-Synthese durch Plasma-Zellen, Steigerung der Interleukin (IL)-10-Level und Inhibition von IL-1β und TNF-Sekretion [27].

Dimethylfumarat (oral): Fumarsäureester mit antiinflammatorischem und zellprotektivem Nutzen; vermuteter Wirkmechanismus über Aktivierung des nuclear factor-like 2 (Nrf2)-Signalwegs, welcher antioxidative Prozesse begünstigt und die Zelle somit vor den schädigenden Einflüssen reaktiver Sauerstoffspezies schützt [28].

Teriflunomid (oral): Aktiver Metabolit des Rheumamedikaments Leflunomid; inhibiert die Dihydroorotat-Dehydrogenase, welche für die De-novo-Synthese von Pyrimidin in den Mitochondrien proliferierender Zellen wichtig ist und dadurch die Anzahl aktivierter T- und B-Zellen reduziert [29].

Second Line Therapien

Fingolimod (oral): Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Agonist; sequestriert Lymphozyten in primären und sekundären lymphatischen Organen in der Peripherie und verhindert dadurch deren Migration ins ZNS [30]. In der nächsten Generation dieser Medikamente sind kürzlich Siponimod für die aktive sekundär-progrediente MS und Ozanimod für die aktive schubförmige MS zugelassen worden.

Natalizumab (i.v.): Humanisierter, monoklonaler AK gegen das VLA4-Integrin auf Leukozyten, welches, monatlich infundiert, die Adhäsion an das Gefäßendothel und die Diapedese durch die BHS inhibiert [2, 31, 32].

Ocrelizumab (i.v.): Humanisierter, monoklonaler Anti-CD20-AK, der, halbjährlich infundiert, B-Zellen über CD20 depletiert; einzige zugelassene Substanz für die PPMS [33, 34].

Alemtuzumab (i.v.): Humanisierter, monoklonaler AK gegen das auf B- und T-Zellen exprimierte Oberflächenprotein CD52; depletiert Lymphozyten bei mindestens zwei Therapiezyklen und bewirkt als Induktionstherapie eine langanhaltende Veränderung des Lymphozyten-Repertoires [35].

Cladribin (oral): Chloriertes Desoxyadenosin-Analogon; wird als Prodrug von Lymphozyten aufgenommen, phosphoryliert und als falscher Baustein in die DNA und RNA eingebaut, was zu einer Störung der DNA-Reparatur und DNA-Synthese und somit zur Reduktion funktionstüchtiger Lymphozyten führt [36]; ebenfalls Induktionstherapie mit insgesamt 4 Therapiezyklen in zwei Jahren.

Mitoxantron (i.v.): Zytostatikum aus der Gruppe der Antracendione als «last option» Therapiealternative; wirkt u.a. als Hemmstoff der Topoisomerase II und interkaliert in die DNA; es werden jedoch stark immunsuppressive und- modulatorische Effekte, dosislimitierende Herz- und Knochenmarkstoxizität sowie im Langzeitverlauf gehäufte Tumorerkrankungen beobachtet.

Wichtige symptomatische Therapieansätze zur Abmilderung MS-typischer Beschwerden sind beispielsweise antispastische Medikamente wie Baclofen, Botulinumtoxin oder das zuletzt immer mehr Beachtung findende Tetrahydrocannabinol. Durch Reduktion eines pathologisch erhöhten Muskeltonus können diese Substanzen eine Schmerzlinderung und eine Verbesserung der allgemeinen Beweglichkeit bewirken. Auch der Kaliumkanalblocker Fampridin sowie das intrathekal zu applizierende Glukokortikoid Triamcinolonacetonid können bei Patienten mit spastischer Paraparese zu einer Verbesserung der Gehfähigkeit führen. Weitere symptomatische Therapien umfassen Urologika wie Oxybutynin bei imperativem Harndrang, Antidepressiva bei häufig begleitender depressiver Symptomatik und Vasodilatatoren wie Sildenafil bei erektiler Dysfunktion. Nicht medikamentöse Maßnahmen wie körperliche Bewegung und eine vollwertige Ernährung werden ebenfalls zur symptomatischen Therapie gezählt.

Das mittlerweile umfangreiche Repertoire an verfügbaren Therapeutika ermöglicht dem behandelnden Neurologen einerseits eine gezieltere Therapie unter Berücksichtigung patientenindividueller Gegebenheiten, andererseits stellt es ihn auch vor die zunehmende Herausforderung, zwischen Therapieeffektivität, -sicherheit, begleitenden Nebenwirkungen und Interaktionen abzuwägen [37, 38]. Dieser neue Ansatz einer patientenindividualisierten Therapieentscheidung hat die Forderung nach neuen Möglichkeiten des Therapiemonitorings laut werden lassen. Ziel einer optimalen Therapie sollte dabei eine nicht nachweisbare Krankheitsaktivität (NEDA; no evidence of disease activity) sein – ein Konzept, was bei anderen Autoimmunerkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis standardmäßig angewandt wird. NEDA ist ein kombinierter Endpunkt, der es ermöglichen soll, bei ungenügendem Therapieansprechen einen Wechsel der Behandlung einleiten zu können [39]. Dabei wird angestrebt, Krankheitsaktivität frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, um fortschreitende Behinderung, erneute Schübe und das Auftreten oder Verschlechtern von MS-assoziierten Begleitsymptomen effizient abwenden zu können. Während die inflammatorische Komponente, die insbesondere in frühen Stadien der Erkrankung eine entscheidende Rolle spielt, therapeutisch gut adressierbar ist, ist zurzeit eine wirkungsvolle Therapie der neurodegenerativen Komponente im Sinne einer Neuroprotektion noch nicht verfügbar.

Nadja Demitrowitz hat keine Interessenskonflikte. Tjalf Ziemssen hat potentielle Interessenskonflikte durch Referenten- und Beratungstätigkeiten und Forschungsunterstützung (Almirall, Bayer, Biogen, Celgene, Sanofi, Merck, Novartis, Roche, Teva).

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