Zusammenfassung
Hintergrund: In der Integration von konventioneller und komplementärer Medizin spiegelt sich der Methodenpluralismus der Wissenschaft. Die Ontologien vieler komplementärmedizinischer Systeme liegen allerdings außerhalb der Erklärbarkeit durch die Kräfte der Physik. Eine zentrale Frage ist deshalb: Gibt es Kräfte in der Natur, die eine materielle Wirkung haben, deren Ursprung aber nicht in Atomen oder Molekülen und in diesem Sinne nicht in der Materie liegt? Zusammenfassung: Die Annahme, dass in der Natur keine anderen als die mit Atomen und Molekülen assoziierten physikalischen Kräfte existent und wirksam seien, ist wissenschaftlich nicht begründet. Beispielsweise ist die Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gestalt von Organismen nicht durch molekulare Prozesse (z.B. von der DNA zur RNA und weiter zu Aminosäuren und Proteinen) erklärbar. Die Prozesse auf jeder strukturellen Ebene – von den Molekülen, Organellen, Zellen, Organen bis hinauf zum Gesamtorganismus – sind in Hinblick auf die Bildung der funktionsfähigen Gestalt der jeweils nächsthöheren Ebene gesteuert. Für diese Gestaltbildung gibt es spezifische Kräfte, die systematisch erforscht werden können. Ihre Existenz impliziert eine erweiterte Konzeption von Materie. Diese Gestalt-bildenden Kräfte und dieses erweiterte Konzept von Materie sind relevant für die wissenschaftliche Erfassung komplementärmedizinischer Systeme. Zentrale Aussagen:In der Natur sind außer den physikalischen Kräften noch weitere spezifische Kräfte wirksam, beispielsweise bei der Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gestalt von Organismen. Diese Kräfte können systematisch erforscht werden. Die Existenz dieser Kräfte impliziert eine erweitere Konzeption von Materie. Diese Kräfte und das erweiterte Materiekonzept sind relevant für die wissenschaftliche Erfassung komplementärmedizinischer Systeme, beispielsweise der Homöopathie.
Einführung
Wissenschaftliche Rationalität und Komplementärmedizin
In der Medizin stützen sich die Bereiche des konzeptionellen Verstehens (von Organismus, Krankheit, Therapie) und des empirischen Prüfens auf wissenschaftliche Rationalität. Die Verpflichtung zu Wissenschaftlichkeit ist laut der Charter of Medical Professionalism ein essentieller Aspekt der Arztprofession [1]. Nach der Jahrtausendwende wurden die Ideale dieser Profession weltweit reflektiert [1‒5]. Mit ihrer generellen Gültigkeit betreffen sie auch die Komplementärmedizin [6].
Die parallele Existenz von konventioneller und komplementärer Medizin mag als Widerspruch zur ärztlichen Wissenschaftsverpflichtung erscheinen, doch ist das Prinzip des Pluralismus ein Konstitutionselement der Wissenschaft selbst: In der Mathematik gibt es unterschiedliche axiomatische Ansätze [7] und in den Naturwissenschaften gibt es pluralistische Erklärungsperspektiven [8] mit konkurrierenden [9] und komplementären [10] Modellen auf verschiedenen Ebenen [11]. Außerdem gibt es einen Pluralismus der Evidenzarten [12] und eine Pluralität von wissenschaftlichen Denkstilen, Denkkollektiven und Paradigmen [13‒15]. Der medizinische Pluralismus bietet Raum für unterschiedliche Auffassungen von Mensch und Natur, ohne dass dadurch die generelle Wissenschaftsverpflichtung aufgehoben wäre [6].
Dennoch bleibt mit Blick auf die Komplementärmedizin ein kritisches Thema: Die Grundlage des gegenwärtigen wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnisses liegt im reduktionistisch-atomistischen Paradigma, mit dem jedoch die Ontologien vieler komplementärer Therapiesysteme [16] nicht vereinbar zu sein scheinen [17‒19].
Das reduktionistisch-atomistische Paradigma
Nach diesem Paradigma gebe es in der Natur letztlich nur vier Grundkräfte, und nur zwei hiervon, Gravitation und Elektromagnetismus, entfalten ihre Wirkungen in den Beziehungen zwischen Atomen und Molekülen. (Die zwei anderen Kräfte finden sich innerhalb der Atome und werden deshalb hier nicht weiter berücksichtigt, ebensowenig wie mögliche kosmologische Kräfte.) Außerhalb der Atome können alle Naturphänomene auf der Grundlage von Gravitation und Elektromagnetismus verstanden werden (und in gewissem Maße auch durch quantenphysikalische Koinzidenzen). „Die makroskopischen Strukturen unserer Erfahrungswelt beruhen auf zwei Kräften, dem Elektromagnetismus und der Gravitation, und auf nicht mehr“ [20].
Aus den Wirkungen dieser Kräfte ergeben sich z.B. der jeweilige Zustand der Materie (fest, flüssig, gasförmig) und deren chemische Zusammensetzung. Diese Wirkungen sind durch verschiedene Parameter bestimmt, beispielsweise wie dicht die Massen der Atome und Moleküle zusammenkommen und wie groß sie sind. Der Elektromagnetismus kann außer im Nahbereich auch über größere räumliche Entfernungen wirken, man denke an Radiowellen oder Radar.
Alle diese Wirkungen können nur entstehen, wenn eine materielle Ursache vorhanden ist: Für Gravitationswirkungen wird ein Körper mit schwerer Masse benötigt, für elektrische Wirkungen eine elektrische Ladung, für einen Empfänger ein Sender, für die Magnetisierung eines Metallstabes ein Magnet, für eine Akku-Aufladung ein elektrischer Stromfluss, und so weiter [21].
So ist das Prinzip der kausalen Erklärung reduziert („reduktionistisch“) auf materielle Ursachen und letztlich auf Interaktionen zwischen Atomen („atomistisch“):
Damit eine materielle Wirkung entstehen kann, ist eine materielle Ursache nötig.
Der Zusammenhang zwischen einer materiellen Ursache und einer materiellen Wirkung ergibt sich letztlich aus den elektromagnetischen und gravitativen Kräften zwischen Atomen.
Mit diesem reduktionistisch-atomistischen Modell sei die empirische Wirklichkeit „hervorragend beschreibbar”. Andere Kräfte als die des Elektromagnetismus und der Gravitation seien hierfür nicht nötig [21].
Exemplarischer Widerspruch zu dem Paradigma: die homöopathischen Hochpotenzen
In Widerspruch zu diesem Paradigma steht beispielsweise die Verwendung homöopathischer Hochpotenzen. Ihre Herstellung durchläuft den Prozess einer sogenannten Potenzierung, einer schrittweisen Verdünnung um das jeweils Zehnfache („D“) oder Hundertfache („C“) bei gleichzeitigem standardisiertem Schütteln. Bereits nach dem zwölften (C12) bzw. vierundzwanzigsten (D24) Schritt dieser Potenzierung ist in der betreffenden Arznei kein Molekül mehr des ursprünglichen Wirkstoffs enthalten. Diese Hochpotenzen können deshalb nach dem reduktionistisch-atomistischen Paradigma keine spezifischen Wirkungen haben. „Ohne einen Wirkstoff wirkt nichts“ [21]. Dementsprechend wurde die Homöopathie als ein medizinisches „Nullfeld“ definiert, wo alle vorhandenen Positivergebnisse klinischer Studien a priori als Bias-Effekte deklariert werden könnten [22].
Fragestellung
Vor dem genannten Hintergrund ist Folgendes die grundlegende Frage: Gibt es Kräfte in der Natur, die eine materielle Wirkung haben, deren Ursprung aber nicht in Atomen oder Molekülen und in diesem Sinne nicht in der Materie liegt?
Methode
Darstellung der wissenschaftlichen Limitierungen des reduktionistisch-atomistischen Paradigmas; der Existenz von spezifisch gestaltbildenden und -erhaltenden Kräften; der Konsequenzen für das Verständnis von Materie.
Ergebnisse
In der Natur gibt es außer den physikalischen Grundkräften noch weitere Kräfte
Da Komplementärmedizin zur Behandlung von Organismen eingesetzt wird, sind diese der Fokus unserer Fragestellung. In Organismen können verschiedene strukturelle Ebenen und Übergänge unterschieden werden: der Übergang von der Ebene der Atome zu einfachen elementaren Molekülen; der Übergang von elementaren Molekülen zu organischen Makromolekülen (DNA, Aminosäuren, Proteine etc.); der Übergang von organischen Makromolekülen zu dynamischen intrazellulären Funktionskomplexen bzw. Zellorganellen (Chromosomen, Nukleosomen, Ribosomen etc.); die mehrfachen weiteren Übergänge von Zellorganellen zu funktionsfähigen Zellen, dann zu Organen und schließlich zur funktionsfähigen Gesamtgestalt und -struktur des ganzen Organismus.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Prozess der Genexpression, an dem die Moleküle der DNA, RNA, Aminosäuren und Proteine beteiligt sind. Begonnen sei mit den DNA-Molekülen: Wie allgemein bekannt, bestehen sie aus linearen Nukleobasen-Sequenzen, die (via m-RNA und t-RNA) kodierte Vorlagen für entsprechende lineare Aminosäuren-Sequenzen sind. Aus Aminosäure-Sequenzen können sodann durch den AlphaFold-Algorithmus entsprechende dreidimensionale Proteinstrukturen vorhergesagt werden [23]. Es gibt also einen durchgängigen Projektionsbezug zwischen den linearen Basensequenzen in der DNA und den dreidimensionalen Strukturen der Proteine.
Diese Genexpression – von der DNA zu den Proteinen – erfolgt an dynamischen Funktionskomplexen der Zellen, den Chromosomen, Spleißosomen, Ribosomen, etc. An ihnen wird schrittweise der bekannte Prozess der Transformation (Transkription, Translation) von molekularen Informationsstrukturen zu Nachfolgestrukturen vollzogen: von DNA zu m-RNA, von m-RNA zu t-RNA, von t-RNA zu Aminosäuren-Sequenzen bzw. Proteinen. Diese Transformationen haben jeweils einen Beginn, Ablauf und Abschluss. Sie werden, soweit erforscht und bekannt, hauptsächlich durch Enzyme gesteuert [24].
Soweit gesehen erscheint der Vorgang relativ einfach. Er ist allerdings dadurch verkompliziert, dass es zusätzlich zu den genannten anterograden Prozessen auch dazugehörige retrograde Prozesse gibt. Durch sie werden die jeweils vorgängigen Stoffe umstrukturiert und modifiziert: Es gibt Chromatidmodifikationen und springende Transposonen in der DNA, alternatives Spleißen und Rekonstruieren der m-RNA und auch kotranslationelle und posttranslationelle Modifikationen der t-RNA bzw. der Aminosäuresequenzen, wozu das neuerdings entdeckte Prinzip der kontextabhängigen gezielten mistranslation der t-RNA gehört [25‒27]. Auch diese retrograden Prozesse sind, soweit erforscht, hauptsächlich enzymatisch gesteuert.
Das eigentliche Problem ist nun aber: Diese anterograden und retrograden Prozesse müssen untereinander bedarfsgerecht abgestimmt bzw. meta-gesteuert sein, nämlich in Hinblick auf die Funktionsfähigkeiten der intrazellulären Funktionskomplexe bzw. Organellen, dann ebenso auch in Hinblick auf die Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gesamtzelle; sodann muss diese zelluläre Meta-Steuerung selbst wiederum gesteuert sein in Hinblick auf die Bildung und Erhaltung des jeweiligen Organs; und diese Steuerung muss ihrerseits wieder gesteuert sein in Hinblick auf die Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gestalt und Struktur des betreffenden Gesamtorganismus. Somit gibt es hierarchische Meta-Meta-Meta-Steuerungen. Die Annahme, dass die Gesamtheit dieser Steuerungen sich aus nichts anderem ergebe als durch Interaktionen von Atomen und Molekülen, ist eine bloße Hypothese, ohne jegliche konzeptionelle oder empirische Fundierung.
Auch wenn man nachweisen kann, dass es beim Vorliegen oder Fehlen einer bestimmten DNA-Sequenz zu gehäuftem Auftreten einer bestimmten Gestalteigenheit bzw. einer phänotypischen Erscheinung der betreffenden Organismen kommt, und sogar wenn man zwischen der DNA und der phänotypischen Erscheinung, via Proteine, eine lückenlose Kausalkette ausmachen könnte – dann wäre immer noch nicht das eigentliche Problem der organismischen Gestaltung erklärt. Es kann ja eine lückenlose Kausalkette (sofern sie sich identifizieren ließe) im Organismus nur dann funktionieren, wenn sie in ihn eingebettet ist. Sofern es also innerorganismische Prozessfolgen als Kausalketten überhaupt gibt, setzen sie die Existenz des betreffenden Organismus voraus. Aus genau diesem Grunde können sie die Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gesamtgestalt und Gesamtstruktur des Organismus nicht erklären.
Man könnte versuchsweise annehmen, dass in einem sich bildenden Organismus eine große Vielzahl solcher Kausalketten existiere und dass sie untereinander wechselwirken und gemeinsam, als komplexe Kausalnetze, die funktionsfähige Gestalt des betreffenden Organismus hervorbringen. Diese Hypothese löst aber nicht das Problem: Damit irgendwelche Interaktionen solcher Kausalketten imstande sein könnten, einen funktionsfähigen Organismus hervorzubringen, müssten sie orchestriert sein, und zwar eben durch ein wirksames Prinzip, das auf die Bildung und Erhaltung der Gestalt und Struktur dieses Organismus hinorientiert ist. Nötig ist also eine gestaltbildende und -erhaltende Kraft jenseits der atomar-molekularen Wechselwirkungskräfte.
Dass diese weitergehenden Kräfte tatsächlich existent sind, wird am deutlichsten, wenn man zurückgeht zu der allem zugrunde gelegten Annahme, dass sämtliche biologischen Prozesse letztlich durch elektromagnetische Wechselwirkungen von Atomen (Elektronenpaarbindungen, Van-der-Waals-Kräfte) verursacht seien. Das aber ist eine Unmöglichkeit: Damit im Kontext der relativ einfach strukturierten Wechselwirkungskräfte zwischen den relativ einfach strukturierten Bauelementen letztlich die meta-meta-meta-gesteuerte Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gestalt und Struktur eines komplexen Organismus entstehen kann, müssen notwendigerweise zusätzliche gestaltbildende Kräfte (ordnende „Prinzipien“, „Energien“, „Felder“, etc.) hinzukommen. Die Komplexitätsforschung [28] und die Prinzipien der „downward causation“ [29] und der Emergenz [30] weisen in diese Richtung, noch deutlicher das gestaltbiologische Konzept der Agency [31, 32]. Ansätze zur Erforschung derartiger Kräfte finden sich beispielsweise in Rupert Sheldrake’s Forschungen zu morphogenetischen Feldern [33] oder auf andere Weise in den zellbiologischen Arbeiten von Sonnenschein und Soto [34] sowie in Experimenten zur onkologischen Grundlagenforschung [35].
„Reductionism as Negation of Scientificy“
Vielen Wissenschaftlern steht klar vor Augen, dass das reduktionistische Forschungs- und Erklärungsprogramm – dass man die ganze Biologie durch die jeweils untergeordneten Ebenen „erklären“ solle, bis hinab zur atomaren Ebene – im Grunde ein Fehlschlag ist. Wie Hans Primas betont, sei der Reduktionismus ein „Palaver ohne Beispiel“: „reductionism is dead.“ Er sei akzeptiert worden „on faith and without logical evidence or sound reason“ [36]. Schon innerhalb der Physik habe der Reduktionismus versagt, dann auch bei den Versuchen, die Chemie auf die Physik zu reduzieren, und schließlich auch in der Biologie. Der Physiker Renzo Morchio unterstreicht das Unüberwindliche der Schwierigkeiten: „The ‘reduction’ of the basic terms of biology to terms of physics, for example, also in the simpler cases, presents insurmountable obstacles“ [37]. Dasselbe vertritt sogar Ernst Mayr, prominenter Vertreter des Darwinismus: „Es steht fest, dass die Theorien-Reduktion selbst in der Physik nur zum Teil erfolgreich und in der Biologie ausgesprochen erfolglos war. Der Versuch, die Wissenschaft durch eine Reduktion der Biologie auf die Physik zu vereinheitlichen, [ist] fehlgeschlagen“ [38]. Für den Wissenschaftstheoretiker Evandro Agazzi bedeutet Reduktionismus schließlich eine Abkehr von wissenschaftlicher Gesinnung: „reductionism as negation of scientificy“ [39].
Andere Erklärungen? – „Nicht nötig, nicht möglich, nicht gewollt“
Der Blick auf komplexe Organismen zeigt, dass ihre Gestaltbildung nicht auf der Grundlage ihrer Teilaspekte (ihrer Kausalnetze, Kausalketten, DNA, elektromagnetischen Molekül- oder Atom-Interaktionen) erklärt werden kann. Der Glaube, dass Interaktionen von Atomen und Molekülen einen Organismus erklären könnten, ist ein Dogma.
Nach diesem Dogma sind andere als die atomistisch-reduktionistischen Erklärungen der Natur nicht nötig, nicht möglich und nicht gewollt:
Es ist nicht nötig, für das Erklären der Wirklichkeit über die physikalischen Grundkräfte hinauszugehen [21]. – Diese Sicht ist allerdings eine unbegründete Position. Das Gegenteil trifft zu: Es ist nötig, den Blick auf weitere Naturkräfte zu öffnen.
Es ist nicht möglich, dass es andere Erklärungen für die Wirklichkeit geben könne als auf der Grundlage der genannten physikalischen Kräfte. – Die Existenz weiterer Kräfte bedeutet jedoch keine Widersprüchlichkeit innerhalb der Naturwissenschaft. Dies zeigt sich bereits in Hinblick auf das allgemeine Verständnis von Physik und Biologie:
Physik: So wie es zusätzlich zur Gravitation auch andere Kräfte geben kann, z. B. die des Elektromagnetismus, und so wie sich die Wirkungen beider Kräfte überlagern können, so kann es selbstverständlich auch weitere Kräfte geben, deren Wirkungen wiederum die Wirkungen der beiden anderen Kräfte überlagern. Es ist ein irrationales Vorurteil, anzunehmen, dass es weitere Kräfte, z. B. zur Gestaltbildung, nicht geben könne.
Biologie: So wie biologische Prozesse durch katalytische Enzymwirkungen gesteuert werden können, ohne dass hierdurch der Energieerhaltungssatz berührt ist, so kann es selbstverständlich auch die Möglichkeit weiterer katalytischer Prozesssteuerungen geben, insbesondere eben seitens gestaltbildender Kräfte. Auch diese weiteren Steuerungsprinzipien müssen nicht im Widerspruch zum Energiesatz stehen.
Es ist nicht gewollt, über die atomistisch-reduktionistische Naturerklärung hinauszugehen. Heutige Wissenschaftler sind immer noch in einer Denktradition sozialisiert, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Viele der damals führenden Wissenschaftler haben entschieden, dass sie eine rein physikalische – eine rein reduktionistische, atomistische, mechanistische – Naturerklärung wollen und nichts anderes. Es wurde sogar von „verschwören“ und „leugnen“ gesprochen (allerdings nicht im Sinne der heutigen Verschwörungstheorien). Zum Beispiel:
Emil du Bois-Reymond (1841): „Brücke und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die genauen physikalisch-chemischen“ ([40] S. 108).
Rudolf Virchow (1845): „Die neueste Medizin hat ihre Anschauungsweise als die mechanische, ihr Ziel als die Feststellung einer Physik der Organismen definiert. Sie hat nachgewiesen, dass Leben nur ein Ausdruck für eine Summe von Erscheinungen ist, deren jede einzelne nach den gewöhnlichen physikalischen und chemischen (d. h. mechanischen) Gesetzen vonstatten geht. Sie leugnet die Existenz einer autokratischen Lebens- und Naturheilkraft“ ([41] S. 7).
Hermann von Helmholtz (1847): „Die Naturerscheinungen sollen zurückgeführt werden auf die Bewegungen von Materien mit unveränderlichen Bewegungskräften, welche nur von den räumlichen Verhältnissen abhängig sind. Es bestimmt sich also endlich die Aufgabe der physikalischen Naturwissenschaft dahin, die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt. Die Lösung dieser Aufgabe ist zugleich die Bedingung der vollständigen Begreiflichkeit der Natur“ ([42] S. 4–6).
Thomas Huxley (1861): „The final object of physiology is to deduce the facts of morphology on the one hand, and those of distribution on the other, from the laws of molecular forces of matter“ [43].
Schon die damalige Wortwahl macht deutlich, dass ein Paradigma festgesetzt und durchgesetzt werden sollte, vor allem für die Welt des Lebendigen. Durch diese Ausrichtung der Wissenschaft wurde das seither erfolgreiche Forschungsprogramm der Biologie initiiert, heute aber ist dieses Paradigma zu einem Horizont-beschränkenden Dogma geworden.
Die Illusion des „Wir wissen“
Wodurch können wir „wissen“, dass Materie keine anderen Eigenschaften habe als die ihrer atomaren und molekularen Strukturen und deren Wechselbeziehungen?
Man „weiß“ es, weil das atomistische Modell der Materie eine weitreichende Erklärungspotenz hat. Jedoch: Mit dieser Erklärungspotenz ist vorerst nur besagt, dass Materie sich so verhält, als ob sie aus Teilchen bestünde. Außerdem hat diese Erklärungspotenz wie gesagt ihre Beschränkungen. Große Realisierungsbereiche der Wirklichkeit können mit dem atomistischen Modell nicht erklärt werden.
Man „weiß“ von der Gültigkeit des atomistischen Modells auch dadurch, dass sich Materie mit Hilfe elektromagnetischer Kräfte und Strahlungen untersuchen lässt und sich bei diesen Untersuchungen eine partikuläre Materiestruktur zeigt. Jedoch: Es kann Materie, wenn sie durch elektromagnetische Manipulationen untersucht wird, selbstverständlich nur ihre (mit ihrer Masse verbundenen) elektromagnetischen Struktureigenschaften zeigen, wogegen andere Eigenschaften der Materie mit solcher Art von Untersuchung nicht aufgedeckt werden können. Deshalb können derartige Untersuchungen nicht zu dem Ergebnis führen, dass Materie keinesfalls noch andere Eigenschaften und Strukturen habe.
Schließlich „weiß“ man von dem atomistischen Aufbau der Materie auch aufgrund der Rastersondenmikroskopie, mit der atomare Struktureigenschaften der Materie, vor allem bei Festkörpern, quasi sichtbar gemacht werden können. Jedoch: Durch diese Art der Mikroskopie ist nicht gesichert, dass Materie, vor allem bei Flüssigkeiten und bei Gasen, nicht auch noch andere Eigenschaften hat.
Andere Eigenschaften von Materie
Sobald erkannt wird, dass in der Natur außer den physikalischen Grundkräften auch andere Kräfte existieren und wirksam sind (siehe oben), ergibt sich eine Weiterentwicklung des Verständnisses von Materie. Damit nämlich diese anderen Kräfte auf Materie einwirken können, zum Beispiel in einem Organismus, muss die Materie mit den betreffenden Kräften resonieren. Dies gilt bereits für die physikalischen Kräfte: Damit Gravitation auf einen Körper wirken kann, muss der Körper eine schwere Masse haben; damit eine elektrische Kraft auf einen Körper einwirken kann, muss er eine elektrische Ladung haben; damit eine magnetische Kraft auf einen Körper wirken kann, muss er ein Magnet oder zumindest magnetisierbar sein. Das Entsprechende gilt notwendig auch für gestaltbildende und -erhaltende Kräfte im obigen Sinne: Damit sie auf das Materielle eines Organismus wirken können, muss die Materie des Organismus hierfür empfänglich sein. Materie muss also auch noch andere Eigenschaften als nur die elektromagnetisch beeinflussbaren atomaren und molekularen Strukturen haben. Beides ist voneinander abhängig: Die Existenz von anderen als den physikalischen Kräften erfordert die Existenz von anderen Materieeigenschaften außer den atomaren Strukturen und deren Wechselwirkungen.
Schon die Quantenphysik brachte für das Konzept von Materie unerwartete Überraschungen wie das Unschärfeprinzip [44], die Welle-Teilchen-Komplementarität [45, 46] und die zeitfrei raumübergreifenden, nicht-lokalen Verschränkungen [47, 48]. Dies alles betrifft primär die kleinsten Konstitutionsprinzipien der Materie, die Quanten. Im Gegensatz hierzu betrifft die notwendige neue Erweiterung des Materieverständnisses primär die größten Konstitutionsprinzipien der Materie eines Organismus, die Kräfte seiner Gesamtgestaltung. Hierzu sind die betreffenden Forschungsaufgaben nicht minder herausfordernd als die der Quantenphysik. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die genaue Charakterisierung und Systematisierung der unterschiedlichen Typen von organismischen Gestaltungen und der korrespondierenden Gestaltungskräfte und Materieeigenschaften. Diese sind dann konsequenterweise andere als die atomar-molekularen Strukturen [49]. Mit diesem Ansatz lässt sich sogar erklären, wie gestaltbildende Kräfte in Flüssigkeiten durch schrittweise Potenzierung eingebunden werden können [49].
Das Beispiel der Homöopathie
Wird anerkannt, dass in der Natur spezifisch gestaltbildende Kräfte wirksam sind und auch entsprechende nicht-atomistische Eigenschaften der Materie existieren, so hat dies Konsequenzen für die Medizin, insbesondere für die wissenschaftliche Einschätzung komplementärmedizinischer Systeme. Zum Beispiel mag sich das Argument gegen die Homöopathie („Hochpotenzen enthalten keine Moleküle“) vor dem Hintergrund des erweiterten Materiekonzepts als belanglos herausstellen. Auch die reproduzierbaren Laboreffekte von Hochpotenzen in verschiedenen Testsystemen [50‒56] mögen mit diesem Konzept erklärbar werden. Sofern sich die Wirkungen homöopathischer Hochpotenzen nicht primär auf der physikalisch-chemischen Ebene eines Organismus entfalten, sondern auf der höheren Ebene der Gestaltbildung und -erhaltung, mag auch verständlich werden, dass so ungewohnte Wirkprinzipien wie das Simileprinzip („similia similibus curentur“) zur Geltung kommen.
Schlussfolgerung
Die Annahme, dass in der Natur keine anderen als die mit Atomen und Molekülen assoziierten physikalischen Kräfte existent und wirksam seien, ist wissenschaftlich nicht begründet. Beispielsweise ist die Bildung und Erhaltung der funktionsfähigen Gestalt von Organismen nicht erklärbar durch molekulare Prozesse (z. B. von der DNA zur RNA und weiter zu Aminosäuren und Proteinen). Die Prozesse jeder strukturellen Ebene – von den Molekülen, Organellen, Zellen, Organen bis hinauf zum Gesamtorganismus – sind gesteuert in Hinblick auf die Bildung der funktionsfähigen Gestalt der jeweils nächsthöheren Ebene. Für diese Gestaltbildung gibt es spezifische Kräfte; sie können systematisch erforscht werden. Ihre Existenz impliziert eine erweiterte Konzeption von Materie. Diese Gestalt-bildenden Kräfte und dieses erweiterte Konzept von Materie mögen relevant sein für die wissenschaftliche Erfassung komplementärmedizinischer Systeme.
Conflict of Interest Statement
H.K. und H.J.H. haben keinen Interessenskonflikt.
Funding Sources
Diese Arbeit wurde unterstützt seitens Christophorus Stiftung, Gesellschaft für Pluralität im Gesundheitswesen, Hauschka Stiftung und Software AG Stiftung. Die Sponsoren hatten keinen Einfluss auf Planung, Durchführung und Publikation.
Author Contributions
H.K. hat den Erstentwurf des Manuskripts erstellt und ist Hauptverfasser, H.J.H. und H.K. haben das Manuskript kritisch geprüft und revidiert.